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Die Schwierigkeit, die Geschichte des Terrorismus in der Vormoderne zu schreiben, liegt darin, dass dieses Geschehen erst in der Moderne so genannt wurde. Für Formen von Terrorismus und politischer Gewalt gab es vor der Französischen Revolution gar keinen Begriff. Auch befanden sich die Moralvorstellungen zur Gewalt über die Jahrtausende im Wandel. Eine zentrale Frage in der Interpretation von Terrorismus ist sein Verhältnis zum Staat. Wie in der Einleitung beschrieben, entwickelte sich die Terrorismusforschung als Teil der Internationalen Beziehungen und der Frage, wie sich Staaten zu politischer Gewalt verhalten sollten. Staaten, wie wir sie heute kennen, sind ein modernes Phänomen, sie entstanden zumeist im 19. oder 20. Jahrhundert. Das moderne Staatensystem basierend auf territorialer Souveränität und der zwischenstaatlichen Ordnung mittels Verträgen begann mit dem Westfälischen Frieden von 1648. Ebenso wurde die Frage, wer Gewalt zu welchem Zweck anwenden darf, in früheren Jahrhunderten anders beantwortet als heute. Das Recht des Individuums, Gewalt anzuwenden, um etwa Rache für ein erlittenes Unrecht zu üben oder um das eigene Eigentum und die eigenen Interessen zu schützen, wurde als selbstverständlich angenommen. Die Vorstellung, dass es ein Gewaltmonopol der Herrschenden gab, entstand erstmals im Frühmittelalter zu Zeiten Karl des Großen (ca. 747 bis 814), doch setzte sie sich erst im Spätmittelalter durch und formte so die Basis für das heutzutage weit verbreitete Gewaltmonopol des Staats. Im folgenden Kapitel werden also Phänomene und deren AkteurInnen mittels unserer modernen Moral- und Gewaltvorstellungen beschrieben, die sich mehrere Jahrhunderte oder Jahrtausende vor der Jetztzeit ereigneten.
Wann Formen des Terrorismus und der politischen Gewalt erstmals aufkamen, kann nicht eindeutig gesagt werden. Die längste Zeit ihrer Entwicklung lebten die Menschen als JägerInnen und SammlerInnen in relativ egalitären Verhältnissen, wie ich im Buch Urkommunismus. Auf den Spuren der egalitären Gesellschaft beschrieb. Da es keine sozialen Unterschiede gab, dürfte es dadurch auch keinen Bedarf für die Anwendung von terroristischer Gewalt gegeben haben, was aber andere Formen der Gewalt nicht ausschließt.
Mit der Sesshaftwerdung der Menschen im Zuge der neolithischen Revolution im Mittleren Osten im Gebiet des sogenannten »fruchtbaren Halbmonds« erwuchs die Möglichkeit, ein Mehrprodukt zu erwirtschaften. Aus einer Armutsgesellschaft, die aufgrund der Knappheit der Produktivkräfte in eine egalitäre Gesellschaft gezwungen war, entwickelte sich eine erste Wohlstandsgesellschaft, die ebenfalls nur geringe sozialen Unterschiede kannte. Auch für diese Gesellschaftsformation kann Terrorismus wohl ausgeschlossen werden. Doch ab dem Ende des Neolithikums und dem Aufkommen des Metallzeitalters begannen sich erste Klassengesellschaften herauszubilden. Der australische Archäologe Vere Gordon Childe sieht einen Sprung in der Menschheitsentwicklung, die er als urbane Revolution bezeichnete. Die ersten Stadtstaaten in Mesopotamien entstanden. Karl Marx und Friedrich Engels beschrieben den Bau der Pyramiden in Ägypten, der genauso wie die Organisation der sumerischen Städte einer Bürokratie bedarf, die nicht mehr im mechanischen Produktionsprozess steht. Durch die Ausdifferenzierung der Gesellschaft in freie ArbeiterInnen und darüber geordnete Verwaltung entstanden hierarchisch gegliederte, soziale Klassen. Da in allen beschriebenen Beispielen die Wasserkraft das zentrale Produktionsmittel war, bezeichnete Karl August Wittfogel dieses Stadium der Menschheitsentwicklung als hydraulische Produktionsweise. Es ist anzunehmen, dass zu dieser Zeit auch die ersten Formen von Terrorismus aufkamen. Die überlieferten Schriften und Mythen, die in den Jahrtausenden und Jahrhunderten vor dem Beginn der modernen Zeitrechnung entstanden sind, beinhalten eine Vielzahl von Gewalttaten, die heute als terroristisch zu interpretieren sind. Im Gilgamesch-Epos oder dem Alten Testament sind es Formen der wahllosen Gewaltanwendung durch Herrschende und Gott gegen andere Völker oder religiös Abtrünnige, die heute als Genozid, einer der breitesten und brutalsten Formen staatlicher Gewalt, definiert werden würden.
Die Sintflut ist der erste Verweis des Alten Testaments, der in diese Richtung interpretiert werden kann. In Genesis 6 ist zu lesen, dass »auf der Erde die Schlechtigkeit des Menschen zunahm und, dass alles Sinnen und Trachten eines Herzens immer nur böse war«. Aufgrund dessen beschloss Gott den Großteil der Menschen in einer Sintflut zu töten und den Überlebenden ihre ökonomische Grundlage wegzunehmen. Denn als Bäuerinnen und Bauern waren sie auf das Vieh angewiesen, das Gott ebenfalls tötete und er machte ihre Ländereien und Felder unfruchtbar. Manche Volksgruppen - die Riesen - wurden sogar gänzlich ausgerottet. Nur jene, die tugendhaft waren, sollten sich auf der Arche retten können. Durch den Massenmord an allen anderen wurde den Überlebenden kommuniziert, nach den moralischen Grundsätzen Gottes zu leben. Nach moderner Lesart handelt es sich bei den in Genesis 6,1 bis 9,20 beschriebenen Ereignissen um nichts anderes als einen Genozid. Gott kommuniziert an die Überlebenden, seinen moralischen Vorstellungen zu folgen, um nicht selbst Opfer des Genozids zu werden. Diese Drohung führt zu Furcht in der Gesellschaft, die so den moralischen Vorstellungen Gottes folgt. Hier wird also vom Herrscher (Gott) eine Form der massenhaften Anwendung von Gewalt gegen die Zivilbevölkerung (Genozid) verwendet, um Ziele (bestimmte Ethik und Moral) in der Bevölkerung umzusetzen. Im Folgenden werden aber nicht legendenhafte Überlieferungen, die als Formen von Terrorismus interpretiert werden können, sondern tatsächliche terroristische Handlungen vorgestellt.
Die ersten historisch überlieferten TerroristInnen waren die Zeloten zu Beginn unserer Zeitrechnung. Sie stellten eine jüdische Widerstandsbewegung dar, die bewaffnet gegen die römische Besatzung Judäas und Galiläas kämpfte. Unsere hauptsächlichen historischen Quellen sind zwei Texte von Flavius Josephus, Geschichte des Jüdischen Krieges, die zwischen 75 und 79 geschrieben wurde, und die ausführlichere Geschichte des jüdischen Volkes von der Erschaffung der Welt bis zum Vorabend dieses Krieges, die in den Jahren 93 und 94 entstand. Josephus verfasste seine Texte nach dem Ende des Widerstandskampfs der Zeloten im Jahr 70. Er arbeitete als Berater in jüdischen Angelegenheiten für die römischen Herrscher Vespasian und Titus. Seine beiden Werke müssen also als römische Perspektive auf die jüdische Bevölkerung in der östlichen Kolonie am Rande des Mittelmeers gesehen werden.
Josephus schreibt, dass die Zeloten eine der vier philosophischen Sekten Judäas darstellten - unter der jungen Generation waren sie am populärsten. Sie galten im Vergleich zu anderen religiösen Bewegungen der Zeit als eine Reformströmung des Judentums. In der Literatur werden ihre bewaffneten Mitglieder oft als Sikarier bezeichnet, da sie ihre Angriffe mit Dolchen, lateinisch sicii, durchführten. Der Sicarius war der »Mann mit dem Speer«. Die ersten Anzeichen eines jüdischen Aufstands gegen die Römer gab es im Jahr 4 v. u. Z., doch erst zehn Jahre später, im Jahr 6 u. Z., begann eine koordinierte Kampagne der Zeloten gegen die römische Besatzung. Die Aufstände der folgenden sechs Jahrzehnte müssen vor diesem Hintergrund einer antikolonialen Dynamik und eines Befreiungskampfes gesehen werden. In seinem 1984 erschienenen Artikel Fear and Trembling: Terrorism in Three Religious Traditions bezeichnet David Rapoport den Terror der Zeloten und anderer Gruppen in den Jahrtausenden vor der Französischen Revolution als »heiligen Terror«, da er seine Existenzberechtigung von Gott ableitete. Auch die Existenzberechtigung des Kampfes der Zeloten leitet sich von der ursprünglichen jüdischen Landnahme Kanaans, die durch Gott herbeigeführt wurde, ab. Anders als andere Formen des früheren heiligen Terrors richtete sich jener der Zeloten nicht überwiegend gegen Mitglieder der eigenen Glaubensgemeinschaft, sondern gegen die römischen BesatzerInnen, die griechische Bevölkerung Judäas und mit Griechen und Römern kollaborierende Jüdinnen und Juden.
Nachdem es zu den ersten Aufständen kam, schickte der Gouverneur von Syrien, Varus, zwei römische Legionen nach Galiläa und Judäa, um die belagerten Garnisonen im Kampf gegen die jüdischen Aufständischen zu unterstützen. Varus konnte den Aufstand niederschlagen und kreuzigte 2000 jüdische Kämpfer. Er wollte dadurch Angst unter der einheimischen Bevölkerung schüren, damit diese keine weiteren Aufstände wagen würde. Die beiden französischen Politikwissenschaftler Gérard Chaliand und Arnaud Blin bezeichnen das Vorgehen von Varus als »die erste Anwendung von Terror in einem Krieg, der mehrere Jahrzehnte andauern würde«. Während also die Zeloten und Sikarier die erste historisch dokumentierte Terrororganisation sind, ist die römische Reaktion auf ihren Aufstand die erste historisch dokumentierte Form staatlichen Terrors.
Die Zeloten genossen vor allem Unterstützung aus den niederen sozialen Schichten und der Jugend. Ähnlich wie bei späteren terroristischen Gruppen dürften sich ihre GründerInnen und AnführerInnen aber aus höheren, gebildeten Schichten zusammengesetzt haben. Diese rekrutierten zumeist aus der ArbeiterInnenklasse, aus der überwiegend die KämpferInnen der Zeloten entstammten. Als Gründer wird ein »Judas, der Galiläer« erwähnt, der seine politische Tätigkeit zeitgleich mit dem Beginn der dreijährigen...
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