Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
I
1
Europa ist immer noch expansiv, obwohl seine weltgeschichtliche Führungsrolle längst der Vergangenheit angehört. 2013 umfasste die Europäische Union 28 Mitglieder. Ein Ende ihrer Expansion ist nicht abzusehen, wobei die Herausforderung Russlands 2014 ohne Bedenken in Kauf genommen wurde. Aber Europa wächst kaum mehr mit Einsatz militärischer Gewalt wie einst, sondern kraft seiner wirtschaftlichen Attraktivität, also nicht durch seine eher marginale hard power, sondern durch seine soft power. Denn nicht mehr die Verbreitung des wahren Glaubens oder die nationale Größe im agonalen Plural ist wie einst das Leitmotiv der Europäer, sondern grenzenloses Wirtschaftswachstum. Europäisches ökonomisches Denken hat dieser Idee erst im 20. Jahrhundert zum Durchbruch verholfen, gerade rechtzeitig, um die älteren Legitimationsideologien seiner permanenten Expansion, die sich erledigt hatten, durch diese wirkungsvolle neue abzulösen. Ich expandiere, also bin ich ist eine angemessene Aktualisierung der klassischen philosophischen Formel für Europa.
Europa war immer expansiv, keineswegs nur zwischen dem 15. und dem 20. Jahrhundert, als es weltweit über seine Grenzen hinausgriff. Es blieb ihm gar nichts anderes übrig. Denn Europa ist nicht aus einem vorgegebenen, klar umgrenzten geographischen, ethnischen oder politischen Substrat herausgewachsen, sondern durch kontingente Expansionsprozesse entstanden, genauer durch die Zufälle von drei sich überschneidenden Expansionen. Die Geschichte Europas kann sich daher nicht auf einen unmissverständlich definierten Raum beziehen, sondern bleibt immer diejenige, die sich Europa jeweils selbst erzählt. Dabei braucht der von Anfang an vorhandene vage geographische Begriff Europa nicht einmal vorzukommen. Fehlende Abgrenzung und ständige Expansivität führten notwendig und schon immer zur Verschränkung von europäischer und außereuropäischer Geschichte. Europa lässt sich weniger denn je territorial definieren, sondern nur prozessual als mentales, dabei aber durchaus reales Konstrukt mit unterschiedlichen Zugehörigkeiten. Von Anfang an war Europa mit dem Prozess der eigenen Expansion identisch.
Das Römische Reich, das die antike Kultur in sich gesammelt hatte, expandierte (1) über deren herkömmlichen, zum geringeren Teil europäischen Lebensraum, das Mittelmeergebiet, hinaus nach Norden, nach Gallien, Germanien, Britannien. Barbarenvölker, die man üblicherweise nicht ganz zu Recht als Germanen bezeichnet, expandierten (2) ihrerseits aus Nordosten in dieses Reich hinein. Viele dieser Invasoren gingen unter. Dann zerbrach das Reich. Wo sich nördlich der Alpen beide Expansionen überschnitten, überlebten unter Führung fränkischer Könige neue kulturell gemischte Gemeinwesen. Und die Erbin des Imperiums, die Römische Kirche, expandierte (3) mit ihrer Mission in diesen nordalpinen Raum und machte seine Bewohner zu lateinischen Christen. Die Christenheit oder Europa war entstanden!
Für kurze Zeit gehörte der größte Teil dieses Raumes zum Reich Karls des Großen - das einzige umfassende Großreich, das es in Europa jemals gegeben hat. Kaiser Karl V., Napoleon Bonaparte und Adolf Hitler sind mit ihren Anläufen zu europaweiter Großreichsbildung alle nach kurzer Zeit an der notorischen politischen Pluralität Europas gescheitert. Dabei ging diese doch durchaus mit kultureller, ursprünglich vor allem religiöser Einheitlichkeit einher. Europas Pluralität dürfte auf die Konvergenz von mehreren Voraussetzungen zurückzuführen sein. (1) Die relative geographische Kleingliedrigkeit des Subkontinents im Vergleich mit anderen Erdteilen traf (2) mit der Vielfalt autonomer Adelsherrschaften zusammen, der ersten politischen Organisationsform der neu entstehenden europäischen Völker. Dazu kam (3) der weltgeschichtlich einmalige, konfliktreiche Dualismus politischer und religiöser Gewalten, von weltlich und geistlich, von Laien und Klerikern, später in institutionell entwickelter Form von Staat und Kirche. Anderswo wurde entweder die Religion von den politischen Gewalten kontrolliert, wie bereits im Bereich des orthodoxen Christentums, oder sie kontrollierte ihrerseits die Politik wie früher in Tibet. Im Rahmen dieser einzigartigen europäischen Konstellation hat sich dann (4) jene individuelle politische Widerspenstigkeit entfaltet, die vormoderne Europäer auszeichnete.
Wie konnte unter diesen Bedingungen politisch ehrgeiziger Wille zur Macht Erfolg haben? Offensichtlich nur in ständiger Rivalität mit anderen, von gleichen Absichten geleiteten Zeitgenossen. Das musste zu häufigen bewaffneten Konflikten führen oder zumindest zu dem Bedürfnis, die eigene Ausgangslage zu verbessern und die eigenen Ressourcen zu vermehren. Auf diese Weise wuchsen erfolgreiche Großherrschaften zu Reichen und schließlich vom 18. bis 20. Jahrhundert einige davon zu modernen Machtstaaten. Territoriale Expansion ist als Mittel und Ziel zugleich ein integrierender Bestandteil dieser Entwicklung.
Zur Expansion gehört also Gewalt! Europa als mythologische Gestalt und als geographische Repräsentationsfigur war zwar eine Frau, aber Europas Expansion blieb in ihrer latenten oder manifesten Gewalttätigkeit von Anfang bis Ende überwiegend Männersache. Hie und da stößt man allerdings auch auf Aktivität von Frauen, nicht zuletzt unter den von der europäischen Expansion betroffenen. Denn die Frauen waren wie alle von der Expansion Betroffenen keineswegs nur passive Objekte und leidende Opfer der Geschichte, sondern verstanden es oft genug durchaus, ihr Schicksal in die Hand zu nehmen und Europäer mit mehr oder weniger sanfter Gewalt zu bändigen.
Die ersten gewalttätigen Männer, Wikinger, italienische Händler, Kreuzfahrer, portugiesische Entdecker, spanische Conquistadoren und britische Seehelden, gehörten zu einem Typ Abenteurer, der schon in der Odyssee auftritt. Als Seefahrer waren diese Leute je nach Gelegenheit Kaufleute, Räuber, Sklavenhändler, Entdecker und Eroberer. Sie und nicht die Machthaber ihrer Herkunftsländer begannen mit der Expansion. Am Anfang der Kolonialreiche stand seltener die Initiative politischer Instanzen als die kooperative Selbstorganisation interessierter Individuen in Netzwerken bis hin zu den großen Handelsgesellschaften des 17. Jahrhunderts. Könige und Fürsten fanden die Beteiligung an diesen Geschäften lukrativ, wurden zur Legitimation herangezogen oder wollten sich die Kontrolle über die Entwicklung sichern. Noch im 19./20. Jahrhundert ging die Initiative zur Expansion häufig von den Männern vor Ort (men on the spot) aus, Entdeckungsreisenden, Kaufleuten, Missionaren, Militärs und immer noch Abenteurern, die es verstanden, die Politik in ihre Unternehmungen hineinzuziehen.
Süd- und Westeuropa sind in einer Weise zum Meer geöffnet wie kaum ein anderer Teil der Erde. Dass die Expansion dort maritimen Charakter annahm, versteht sich demnach von selbst. Doch während Wikinger und Kreuzfahrer versuchten, in Übersee Herrschaften zu gründen, unterwarfen auch zu Lande die etablierten Herren Europas ihre Nachbarn oder holten sich Kolonisten ins Land und gründeten Städte, um ihre Herrschaft durch innere Expansion zu stärken. Im Zusammenhang damit verbreitete Mission das lateinische Christentum. Auf diese Weise expandierte die lateinische Christenheit vom ehemaligen Karolingerreich ausgehend nach Osten, wo sie auf Konkurrenz aus Byzanz stieß. Große Teile Osteuropas wurden von hier aus bekehrt, mit erheblicher kultureller Differenz als Folge. Sie beginnt mit den griechischen und slawischen Kirchen- und Kultursprachen, die nicht mit dem lateinischen Alphabet geschrieben werden wie die Sprachen des von Rom bekehrten Europas.
Es wäre daher historisch durchaus sinnvoll, Europa zunächst einmal als lateinisches Europa zu definieren, als den Einzugsbereich der von der Römischen Kirche und ihren Nachfolgern verbreiteten lateinischen Kultur. Denn auch die Übersee-Expansion geht von diesem Raum aus. Daraus ergäbe sich noch heute eine Grenzzone zwischen Finnland, den baltischen Staaten, Polen, Ungarn und Kroatien auf der einen Seite, Russland, Weißrussland, der Ukraine, Rumänien und Serbien auf der anderen. Beim Zerfall Jugoslawiens ...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.
Dateiformat: PDFKopierschutz: Adobe-DRM (Digital Rights Management)
Das Dateiformat PDF zeigt auf jeder Hardware eine Buchseite stets identisch an. Daher ist eine PDF auch für ein komplexes Layout geeignet, wie es bei Lehr- und Fachbüchern verwendet wird (Bilder, Tabellen, Spalten, Fußnoten). Bei kleinen Displays von E-Readern oder Smartphones sind PDF leider eher nervig, weil zu viel Scrollen notwendig ist. Mit Adobe-DRM wird hier ein „harter” Kopierschutz verwendet. Wenn die notwendigen Voraussetzungen nicht vorliegen, können Sie das E-Book leider nicht öffnen. Daher müssen Sie bereits vor dem Download Ihre Lese-Hardware vorbereiten.
Bitte beachten Sie: Wir empfehlen Ihnen unbedingt nach Installation der Lese-Software diese mit Ihrer persönlichen Adobe-ID zu autorisieren!