Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Mit einem unauffälligen weißen Mittelklasse-Leihwagen traf Henry Baumert am frühen Abend des 1. März 2020 auf dem Gutshof ein. Anna Blume-Kamphusen begrüßte ihn versiert in englischer Sprache, doch der Gast wehrte lächelnd ab.
»Lassen Sie uns Deutsch sprechen. Ich muss es wieder üben«, sagte er fast ohne Akzent.
»Oh, Sie reden ja wie ein Einheimischer«, wunderte sich Anna.
»Das bin ich, oder zumindest war ich es einmal.«
Bis zu seinem achten Lebensjahr habe er auf einem Bauernhof außerhalb von Eickeloh gelebt, berichtete Henry Baumert, der zum ersten Mal seit 60 Jahren wieder auf deutschem Boden stand.
»Sie haben eine schwierige Zeit für Ihren Besuch gewählt«, sagte die Hotelwirtin, doch Baumert wehrte ab.
»Ich konnte im Zug von Frankfurt nach Hannover Nachrichten lesen. In Deutschland gibt es 129 Infizierte mit Covid19. Da muss man doch keine Angst haben.«
»Hoffen wir, dass es so bleibt. Bei uns in der Gegend kommt das sicher zuletzt an.« Anna reichte Henry Baumert seinen Schlüssel und schritt voran, um ihm das Zimmer mit dem weiten Blick auf den Park zu zeigen.
»Sie suchen also nach den Schauplätzen Ihrer Kindheit?«
»So ungefähr. Und ich möchte mir Zeit nehmen, die ganze Gegend hier kennenzulernen. Wissen Sie, meine Vorfahren kamen alle von hier. In vielen Dörfern gibt es Höfe, auf denen Ahnen von mir lebten.«
Anna nickte. Es verging kaum ein Abend, an dem sie nicht selbst Geschichten von ihren Vorfahren aus der Region hörte.
»Sie müssen meinen Vater kennenlernen, er ist passionierter Ahnenforscher! Unsere Familie stammt ebenfalls zum Teil von hier.«
»Das klingt interessant, danke. Möglich, dass ich darauf zurückkomme.« Henry Baumert schnappte sich das Gepäckwägelchen, zog es in sein Zimmer und schloss die Tür. Anna stutzte. Sie hatte mit einer begeisterten Antwort gerechnet. Ahnenforscher unter sich, die sich Abende lang über alten Unterlagen zusammenhockten: So hatte sie es sich vorgestellt. Doch dieser Gast wanderte lieber allein auf den Spuren seiner Vorfahren. Besser, sie sagte ihrem Vater nichts davon.
*
Der amerikanische Gast brach täglich auf, um die Sehenswürdigkeiten der Region zu erkunden und die Dörfer der Umgebung kennenzulernen. Zeitgleich braute sich in Deutschland ein Infektionsgeschehen zusammen, von dem man auf dem Gutshof wenig mitbekam.
Henry Baumert besuchte in der ersten Woche den Serengeti-Park in Hodenhagen und schwärmte am Abend im Restaurant von der zehn Kilometer langen Fahrt im Safari-Bus, von Löwen, Giraffen und Antilopen: »Wilde Tiere in den Wäldern, wo wir als Kinder gespielt haben! Wenn ich das meiner Schwester erzähle!«
Es bürgerte sich ein, dass Anna bei der Aufnahme der Essensbestellung fragte, was der Gast an diesem Tag erlebt hatte. Sie bekam stets einen kleinen Bericht.
Nur auf die Frage, ob er den Hof seiner Kindheit schon aufgesucht habe, erntete sie ein Kopfschütteln.
»Ich nähere mich da langsam an«, sagte Henry Baumert ohne eine weitere Erklärung, und Anna hakte nicht nach. Diskrete Unaufdringlichkeit gehörte zum Hotelgeschäft, und daran hielt sie sich.
Henry Baumert berichtete von einem sonnigen Tag in Ahlden, wo er sich über das Schicksal der Prinzessin Sophie Dorothea informierte, die im dortigen Schloss im 18. Jahrhundert in einem komfortablen Gefängnis lebte.
Der amerikanische Gast besuchte die Schleuse in Hademstorf am Zusammenfluss von Aller und Leine und erfuhr erstaunt von Ölbohrungen im Aller-Leine-Tal.
Er wanderte über den Friedhof in Bissendorf in der Wedemark und besuchte die dortige Kirche, wo einst seine Ururgroßeltern geheiratet hatten. Er schlenderte um das historische Amtshaus, nahm sich vor, demnächst noch das Heimatmuseum ganz in der Nähe zu besuchen und fuhr langsam durch die Dörfer zurück. Er entdeckte im Dorf Elze das Gasthaus Goltermann und gönnte sich ein zünftiges Schnitzel in Champignon-Rahmsaue. »Heute bin ich mal kulinarisch fremdgegangen«, erzählte er Anna.« Am gleichen Tag verkündete Italien weitgehende Sperrmaßnahmen für das ganze Land.
Zwei Tage später stand ihm der Sinn nach etwas mehr Trubel. Henry Baumert setzte sich in den Regionalzug und fuhr in die niedersächsische Landeshauptstadt, wo er die Herrenhäuser Gärten erkundete. Für seine Zwillingsschwester Christine fotografierte er die Nana-Skulpturen am Hohen Ufer. »So ist Deutschland heute, bunt und nackt«, schrieb er zu den Bildern, die er per WhatsApp versandte. An diesem Tag, dem 11. März 2020, rief Bundesgesundheitsminister Spahn dazu auf, Veranstaltungen mit über 1.000 Gästen abzusagen.
Mittlerweile war die Hälfte seines Aufenthaltes in Niedersachsen um. Henry war mit dem Leihwagen nach Gilten und Bierde gefahren, in Böhme, Essel und Steimbke umhergewandert. Aus all diesen Dörfern kamen Vorfahrinnen und Vorfahren der Familie Baumert. Die kleinen Rundgänge durch bäuerlich geprägte Orte und die Landschaft drumherum gefielen ihm.
Er fand den Hof in Großburgwedel, von dem seine Großmutter stammte, und die Hofstelle im Isernhagener Ort Kirchhorst, von der die Urgroßmutter nach Eickeloh gezogen war. Überall fotografierte er, doch er versuchte nicht, Kontakt zu den heutigen Hofbesitzern aufzunehmen. Das war nicht seine Art.
Henry Baumert, der pensionierte Bibliothekar, übte sich nicht gern in Small Talk. Aufdringlichkeit war ihm fremd.
Am 12. März 2020 saß er beim Abendessen im Gutshofrestaurant, als ihn der Seniorchef ansprach. »Sie sind auf der Suche nach Ihren Vorfahren, nicht wahr?« Henry nickte, ohne die Frage weiter zu kommentieren. »Ich bin sehr aktiv in der Ahnenforschung. Wenn ich Ihnen irgendwie helfen kann, tue ich es gern.«
Der Gast sah Neugier im Blick von Carsten Blume. Doch seine Familiengeschichte war nichts, womit man hausieren ging. Henry Baumert war sich selbst nicht im Klaren darüber, was er suchte, ob er etwas finden würde und wenn ja, ob es ihm gefiele. Er wandte seinen Blick ab und formulierte die passenden Worte, um sich aus der Affäre zu ziehen, ohne den freundlichen Hausherren zu beleidigen.
»Danke, ich werde sicher noch die eine oder andere Frage haben«, sagte er nur und merkte, dass Blume senior irritiert war, mit seiner Neugier ins Leere zu laufen.
»Aus meinen weiteren Reiseplänen wird vielleicht nichts«, kommentierte Henry Baumert am selben Nachmittag die Nachrichten und beruhigte seine Schwester, die ihn per WhatsApp zur umgehenden Heimreise aufforderte. »Nun bin ich hier. Meinst du, die werden die Flughäfen schließen?« Es erschien ihm so unwahrscheinlich, dass er laut lachte.
An diesem 12. März 2020 waberten Gerüchte von Schulschließungen in Deutschland durch die Medien. Am Tag darauf verkündete Donald Trump ein Einreiseverbot in die USA für Menschen, die aus Europa kamen. Das würde sicher nicht lange andauern, meinte Henry und beschloss, weiter seiner Wege zu ziehen. Statt Frankreich und Spanien, wo Tourismus aufgrund der hohen Infektionszahlen aktuell nicht möglich war, würde mehr Zeit in Deutschland seinen Reiseplan füllen. Er googelte nach lohnenden Reisezielen und erwog, Berlin einzuplanen.
Dann ging es Schlag auf Schlag. Henry Baumert verbrachte am 14. 2020 März einen Tag im Vogelpark Walsrode. Danach besuchte er noch das örtliche Kloster mit seiner bis in das 10. Jahrhundert zurückreichenden Geschichte und kam mit einer der Stiftsdamen ins Gespräch, die ihm das ehrwürdige Gebäude zeigte. In den Medien wurden zeitgleich Diskussionen laut, ob Deutschland einen Lockdown benötigte.
Die Bundesliga spielte nicht mehr. Diese Tatsache weckte den amerikanischen Gast schließlich aus seinem touristischen Schlendrian. Wenn hierzulande die Fußballstadien geschlossen wurden, dann war Gefahr im Verzug.
Am 16. März 2020, Henry legte einen Ruhetag ein, nachdem er am Tag zuvor in langen Spaziergängen das Dorf Oegenbostel erkundet und den Wedemärker Geopfad am Brelinger Berg beschritten hatte, sah er in seinem Hotelzimmer die Pressekonferenz der Bundesregierung. Die Schulen und Kindergärten wurden dichtgemacht, fast alle Geschäfte geschlossen. Einige Bundesländer verboten Hotelaufenthalte zu touristischen Zwecken. Für Niedersachsen galt dies nicht. Noch nicht.
Henry verfolgte die Nachrichten mit wachsender Anspannung. Für weitere fünf Tage hatte er im Gutshof gebucht. Danach sollte es weitergehen in Richtung Süddeutschland, wo er ebenfalls feste Hotelbuchungen hatte. Und jetzt?
Er googelte nach Flugverbindungen und fand den nahe gelegenen Flughafen Hannover-Langenhagen nahezu geschlossen vor. Von Frankfurt aus flogen Maschinen, doch nicht in die USA. Er nahm seinen Leihwagen und fuhr über die Autobahn extra nach Langenhagen, weil er sich einfach nicht vorstellen konnte, dass so ein lebendiger Ort wie der Hannover Airport keinen Flugverkehr mehr bieten solle. Der Besuch machte ihm seine Situation drastisch klar. Die Parkplätze waren leer. Selbst die Anzeigetafel im großen Terminal A war einfach dunkel. Nichts. Außer abgestellten Flugzeugen, einem Securitymann, der ihn von Weitem beäugte und auf der leeren Zufahrtsstraße drei Jungs auf Fahrrädern, die johlend dort fuhren, wo sonst reger Autoverkehr herrschte. Henry Baumert logierte in einer Region mit zu diesem Zeitpunkt null Infizierten. Er merkte, dass er, versunken in seine Gedanken, seine Ausflüge und die großen Fragen seiner Reise, um die er sich herumwand, zu wenig beachtet hatte, was in der Welt da draußen...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.