Schweitzer Fachinformationen
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Der erste Gast am Nachmittag war eine junge Frau. War sie überhaupt ein Gast? Sie sah in Hoodie, alten Turnschuhen und Löcherjeans nicht nach der üblichen Zielgruppe für einen Restaurantbesuch mit gehobener deutscher Küche aus.
Anna kam ihr zur Begrüßung entgegen und hörte schon bei den ersten Worten, wen sie vor sich hatte. Sie erkannte die Stimme: die Anruferin von gestern.
»Bitte, Sie müssen mich anhören. Ich suche nach Informationen über meine Mutter, und Helene könnte dabei helfen.«
Die kleine schlanke Frau mit dem sportlichen blonden Strubbelhaarschnitt sah nicht aus, als wäre sie leicht abzuwimmeln. Anna Blume-Kamphusen hatte fast 15 Jahre als Therapeutin gearbeitet, bevor sie ihr eigenes Hotel-Restaurant eröffnete. Diese Berufserfahrung erwies sich auch bei Restaurantgästen als nützlich. In diesem Fall spürte sie, dass es nicht nur um Helenes Telefonnummer ging. Annas Neugier war geweckt.
»Dann setzen Sie sich doch erst mal. Möchten Sie einen Kaffee? Oder ein Wasser?«
»Danke, eine Cola wär schön. Wenn's nicht zu teuer ist. Das sieht hier nicht gerade billig aus.« Mit ihren großen grauen Augen musterte das Mädchen die historische Einrichtung des Gastraums.
»Die Cola spendiere ich Ihnen. Ich glaube kaum, dass ich Ihnen sonst irgendwie weiterhelfen kann.«
Anna setzte ihren Gast an den Tisch in einer Nische nahe dem Kücheneingang, den die Familie Blume-Kamphusen für den eigenen Bedarf nutzte. Hier war es zugig, und die Bedienungen rauschten laufend mit Tellern vorbei. Kein geeigneter Platz für entspannungssuchende Gäste, aber die Familie hatte sich daran gewöhnt. Alle anderen Tische waren für den Abend reserviert. In einer Stunde würde es voll sein, denn das Geschäft brummte. Blumes Rittersaal hatte sich in den letzten drei Jahren zu einer angesagten Adresse in der Region entwickelt.
»Nun fangen wir mal ganz von vorne an. Ich bin Anna Blume-Kamphusen. Und darf ich fragen, wer Sie sind?«
»Ach je, ich bin so in Gedanken. Ich wollte nicht unhöflich sein. Tut mir leid. Ich bin Katrin Harms, die Tochter von Vivian Harms.« Sie machte eine Pause und schaute bedeutungsvoll, als ob der Name Anna etwas sagen müsste. Doch so war es nicht.
»Meine Mutter ist verschwunden, schon vor sechs Jahren. Stand in allen Zeitungen. Haben Sie wohl nicht gelesen. Jetzt mache ich den letzten Versuch zu erfahren, was mit ihr passiert ist.«
»Das tut mir leid und ich wünschte, wir könnten Ihnen helfen. Wann und wie ist Ihre Mutter denn verschwunden?« Katrin Harms redete leiser und schaute ins Leere. Die Arme hielt sie fest vor dem Körper verschränkt. »Mama ist von einer Joggingrunde nicht zurückgekommen. Sie ist ihre übliche Strecke gelaufen, und an einer kleinen Straße, die sie sonst immer überquert hat, endeten die Fußspuren. Als ob sie sich auf der Straße in Luft aufgelöst hat.«
Eine Geschichte, wie man sie häufig in den Medien sah oder las. Jedes Mal stieg Wut in Anna hoch, dass Frauen auch im 21. Jahrhundert nicht sicher waren, wenn sie ihr Recht wahrnahmen, in einsamen Wäldern Sport zu treiben oder die Natur zu genießen. Anna joggte häufig, als sie in Hannover wohnte. In der Eilenriede, dem großen Stadtwald, war sie dabei selten allein. Ganz anders in der weiten Landschaft nördlich der Großstadtregion. Hier lief sie eine Stunde lang geradeaus und begegnete niemandem, streifte nicht einmal eine Ortschaft. Anna joggte seltener, seit sie auf dem Gutshof lebte und den Rittersaal betrieb. Angst empfand sie nie, wenn sie doch mal wieder die Laufschuhe anzog und - direkt vom eigenen Grundstück aus - nach einer Minute im Grünen war.
Katrin Harms kramte in ihrem Rucksack. Die schlanken Finger nestelten nach etwas. Sie ließ Anna nicht aus den Augen. »Nur einen kleinen Moment, ich hab's gleich.«
Der Computerausdruck eines Fotos landete auf dem Tisch. Ein schlichtes Blatt Kopierpapier, von Katrin Harms rasch auseinandergefaltet.
Drei Frauen waren darauf zu sehen. Links saß eine Frau mit schon ergrautem Haar, wachen großen Augen hinter einer modischen randlosen Brille und klassischer Perlenkette zur weißen Bluse. Sie saß aufrecht am Tisch und schaute skeptisch in die Kamera. In der Mitte eine zierliche Person mit kurzen Haaren, ihr Mund war weit geöffnet und die Augen strahlten. Mit der linken Hand hielt sie ein Weinglas in die Höhe, als wolle sie dem Fotografen zuprosten. Rechts davon posierte eine Frau mit wallendem langem Haar, kräftig geschminkt, den Kopf leicht geneigt mit geöffneten Lippen. Sie war die Einzige, die sich für das Bild in Pose gesetzt hatte. Das Foto war in einem Restaurant entstanden: Im Hintergrund sah man einen Mann beim Bierzapfen und einen anderen Gast, der, den Rücken zum Bild gewandt, am Tresen auf das Getränk wartete. Ein dicker Aktenkoffer stand neben ihm auf dem nächsten Barhocker. Anna erkannte das Restaurant. Sie hatte dort, in der Nachbargemeinde Schwarmstedt, selbst schon mehrfach gegessen.
Eine der Frauen auf dem Foto war Anna bekannt: Helene Blume, die ehemalige Gutsherrin, ihre geschiedene Tante.
»Smarty, Sporty und Beauty - die Ladies nach 30 Jahren wieder vereint!«, stand in schnörkeliger Computerschrift unter dem Bild. Die Frau in der Mitte der Fotografie war Vivian Harms, erläuterte deren Tochter. Die Ähnlichkeit war unverkennbar.
Das Bild war mit einem Datum versehen: 20. Juni 2013.
»Auf den Tag genau zwei Wochen später war Mama weg.«
Katrin Harms sah Anna wieder fest in die Augen. »Die Polizei hat uns damals gesagt, dass Mama ihr letztes Telefonat, bevor sie verschwand, mit Helene führte. Das war morgens bevor sie joggen ging.«
Die Beamten hielten das Gespräch nach einer Befragung von Helene Blume nicht für wichtig, erfuhr Anna. Doch Katrin fragte sich, um was es in den wenigen Minuten gegangen war, in denen die alten Freundinnen sich unterhielten.
»Vielleicht hat die Polizei etwas übersehen. Kann doch auch passieren. Ich hab jedenfalls Mamas Laptop aufgeladen und in den gespeicherten Mails dieses Bild gefunden. Die Mail kam morgens an, also an dem Tag .« Katrin verstummte.
Anna verstand, warum die junge Frau bei Helene Antworten suchte.
»Gibt es einen speziellen Grund für Sie, gerade jetzt wieder auf Spurensuche zu gehen?«
»Wir sind dabei, ihre Sachen auf den Dachboden zu räumen. Wird auch Zeit nach sechs Jahren.« Der letzte Satz war nur ein leises Murmeln, und einen Moment lang schaute Katrin wieder schweigend auf das Bild, das ihre Mutter so lebensfroh zeigte.
»Ich will mir in Hannover ein Zimmer nehmen, und die neue Freundin meines Vaters zieht bei uns in Nienburg ein«, fuhr sie fort. »Papa will meine Mutter für tot erklären lassen. Ich meine, keiner von uns glaubt wirklich, dass sie noch lebt. Das ist also okay, und mein Vater soll ja nicht allein bleiben. Die Neue ist in Ordnung. Aber je mehr ich in Mamas alten Sachen krame, umso mehr glaube ich, dass ich nochmal nach ihr suchen muss. Nur noch einmal und dann einen Schlussstrich ziehen.«
Anna schaute auf die Pendelstanduhr, die eines der historischen Dekorationsstücke des Gastraumes war: eine halbe Stunde bis zum Eintreffen der ersten angemeldeten Gäste. Zeit, die sie gern genutzt hätte, um den Tresen auf Hochglanz zu wienern, die Reservierungen durchzugehen und in Ruhe eine Rhabarberschorle zu trinken.
Katrin Harms machte keine Anstalten aufzubrechen. Sie hielt das Blatt Papier mit dem Foto fest in den Händen und betrachtete es stumm. Anna sah ein, dass sie zumindest die halbe Stunde opfern und weiter zuhören musste.
»Und wie haben Sie uns gefunden? Kennen Sie meine Tante von früher?«
»Nein, aber die Mail, an der das Dokument hing, hatte eine Signatur mit Namen und Adresse. Helene war >Beauty<. Diese albernen Spitznamen, die hatten sie in der Schulzeit. Kurz bevor sie verschwunden ist, war Mama auf einem Klassentreffen, 30 Jahre nach dem Realschulabschluss.«
Beauty als Spitzname für Helene, da war der Name Programm. Wenn sie sich an Treffen mit der jungen Tante erinnerte, dann fielen ihr elegante Kleider ein, glänzende Haare und Schönheitstipps, die Helene immer parat hatte, die an Anna jedoch abprallten.
Das erzählte sie und schaute dabei auf ihre Finger mit den kurzen Nägeln, die seit vielen Jahren keinen Nagellack mehr gesehen hatten. Katrin Harms berichtete, warum ihre Mutter in der Jugend »Sporty« genannt wurde.
»Mama war Klassenbeste im Sport. Darum hat sie eine Ausbildung als Gymnastiklehrerin gemacht und bei uns im Sportverein und in der Volkshochschule unterrichtet.«
Vivian Harms schwärmte ihrer Familie 2013 von einem herrlichen Abend mit alten Schulfreundinnen vor, die sich nach diesem Treffen schworen, wieder regelmäßig Kontakt zu pflegen. Helene mailte zwei Wochen später das gemeinsame Bild in die Runde. Und dann verschwand Vivian.
»Ich hatte gehofft, Helene könnte mir was darüber erzählen, wie Mama damals war, also in der Schulzeit. Worüber sie beim Klassentreffen geredet haben und bei diesem letzten Telefonat. Es ist doch komisch. Sie kriegt morgens ein Foto von Helene, ruft an - und kurz danach verschwindet sie.«
War es nicht eher ein Zufall? Anna stellte sich vor, dass Vivian sich am Telefon rasch für das gemailte Bild bedankt hatte, bevor sie zur Joggingrunde aufbrach. Ein Zusammenhang mit Vivians Verschwinden war unwahrscheinlich, und so hatte es die Polizei ebenfalls eingeschätzt. Anna verstand Katrins Spurensuche. Aber sie war auf dem Gutshof in einer Sackgasse...
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