Schweitzer Fachinformationen
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Die Gänge hallten wider vom nervösen Geklapper der Besteckkästen, als sich die über hundert Studenten vor der Tür zum Allerheiligsten drängelten. Schon unter die noch viel zu weiten magischen weißen Kittel geschlüpft, schlugen sie die letzten Minuten mit sinnlosem, aber lautem Geplapper tot; so, als befürchteten sie das Gestöhne der Leichen im Seziersaal zu hören. Alexander Stern kannte diese Reaktion seiner Kommilitonen. Gerade in den Momenten der größten Befangenheit schwatzten die angehenden Ärzte wie Klatschtanten. Er betrachtete die vielen unreifen, ausdruckslosen Gesichter um ihn herum. Einige wenige Studentinnen sahen wirklich gut aus, die meisten jedoch zeigten die typische blasse Langeweile gebildeter Frauen, die es sich leisten können, auf ihre äußere Erscheinung keinen Wert zu legen. Ein süßlich-beißender Geruch kroch unter der verschlossenen Tür hervor, breitete sich still und zäh auf dem Gang aus und klebte in der Nase. Die schwüle Sommerhitze verstärkte den Geruch. Alexander schwitzte unter seinem Kittel. Wahrscheinlich war wieder die Klimaanlage ausgefallen. Der rauhe, harte Stoff rieb bei jeder Bewegung auf seinen nackten Armen. Er mochte diese grobe Berührung auf der Haut. Arztkittel sind etwas ganz Besonderes, dachte er.
Alexander Stern nahm seine unauffälligen Beobachtungen wieder auf. Im Minirock. Eine Studentin trat im Minirock unter dem Kittel zum Tranchieren der Leiche an. Sie war ziemlich klein, zeigte fast die ganze Länge ihrer kräftigen, wohlgeformten Beine und warf gerade den Kopf nach hinten, schüttelte ihre lange kirschbaumbraune Mähne, um sie mit einem Haargummi zu zähmen. Alexander suchte den Blickkontakt, sie wich aus. Eingebildete Ziege, dachte er. Ich bin ihr noch nicht einmal einen Blick wert. Warum sind gerade die interessanten Frauen so arrogant und hochnäsig, warum tun sie so, als wären sie jeder Körperlichkeit enthoben, so als hätten sie keine körperlichen Bedürfnisse? Manche Frauen versuchen den Eindruck zu erwecken, als stünden sie so weit über jeder Leiblichkeit, daß es für sie noch nicht einmal mehr Stuhlgang gäbe.
Ein vierschrötiger Assistent trat zu den Studenten und öffnete die Tür. Der mozzarellafarben marmorierte Teint seines ungerührten Gesichts schien zu belegen, daß er in seinem Leben schon mehr Formalin als Luft eingeatmet hatte. Als die Studenten eintraten, sprang sie der giftige Gestank wie ein wütendes Raubtier an und verbiß sich in ihre Kehlen. Alexander hustete.
Wenn es etwas gab, was Mira Lubek haßte, dann war es warten. Und dieses Studium schien vor allem aus Warten zu bestehen, warten bei der Rückmeldung zum neuen Semester, warten vor jedem Kurs, warten auf die Vorlesungen . Und das bei der Hitze. Was konnte bescheuerter sein, als einen brütend heißen Sommertag in einem fensterlosen Kellerloch zu verbringen, um an toten Menschen rumzuschnippeln? Auf jeden Fall gäbe es jetzt Schöneres. Zum Beispiel nackt an einem der vielen Badeseen außerhalb der Stadt liegen, coole Drinks schlürfen, sich von einem hübschen Masseur mit starken und geschickten Händen verwöhnen lassen (leider sind die meisten schwul) und über die Perspektiven des Sozialismus diskutieren. Mira band ihr Haar. Es ist heiß genug. Was starrt mich dieser große Typ so an. Mit Seitenscheitel! Das ist wohl das Letzte, das Spießigste überhaupt, Seitenscheitel. Seine Augen sind schön, blauer als ein Baggersee, aber mit der Frisur . nein. Frau kann einen Mann doch nicht erst skalpieren, damit sie ihn überhaupt betrachten kann. Männer!
Endlich wurden sie eingelassen. Es war noch schlimmer als erwartet. Der durchgehend hell gekachelte Saal war von Neonröhren grell erleuchtet; in regelmäßiger Anordnung standen chromglänzende Metalltische, deren Oberfläche eine Mulde bildete. Dort lagen sie, unbeweglich, nackt, sämtliche Körperhaare abrasiert. Die Farbe der Gestalten variierte zwischen lehmgelb, schmutziggrau und der sprichwörtlichen Leichenblässe. Und über allem hing der stechende, alles durchdringende Formalingestank. Mira wurde übel. Sie mußte da durch, wie durch so vieles in diesem Studium.
Der Assistent las die Namen vor und wies die Studenten an die Leichen. Sie arbeiteten zu acht: zwei Zahnmediziner am Kopf, je zwei Studenten für die Arme, Beine und den Rumpf. Mira erhielt das linke Bein einer älteren Frau. Der Große mit den blauen Augen von vorhin kam an den gleichen Tisch, ihr gegenüber, an das andere Bein.
Verlegen lachend berieten die Studenten über einen passenden Namen für die Leiche.
«Eva», schlug der Große mit dem Seitenscheitel vor.
«Warum Eva?» fragte der Zahnmediziner.
«Weil sie so alt aussieht, als wäre sie die erste Frau.» Keiner schien so recht überzeugt.
«Wie wär's mit Hannelore?» fragte Mira. «Sie erinnert mich an die Frau eines Politikers.»
«Meinst du den großen Dicken von der CDU, der unbedingt Kanzler werden will?» fragte der Student mit den blauen Augen.
«Klar», grinste Mira.
«Na ja», kommentierte der Zahnmediziner.
«Findet ihr Miss Piggy oder Emanuelle vielleicht besser?» legte Mira nach. Der Zahnmediziner schüttelte den Kopf, der Große mit den blauen Augen lächelte. Die anderen Frauen an den Armen und am Bauch der Leiche sagten nichts. Offenbar galt ihr Vorschlag damit als angenommen. Der Assistent mit der ungesunden Gesichtsfarbe trat an ihren Tisch und erklärte, wie sie die Haut abzutrennen hätten. Natürlich ohne die darunterliegenden Nerven zu beschädigen, weil diese ja noch für das Testat benötigt würden. Vorsichtig begannen die Studenten, eckige Hautareale mit Skalpell und Pinzette abzulösen. Unter der Haut waberte eine vanillegelbe, glibbrige Masse, wie Pudding. Mira spürte, wie ihr in diesem verdammten Kittel immer heißer wurde. Was ist nur mit dem Licht, dachte sie, als die Lampen im Kreis zu tanzen begannen und sie plötzlich nichts mehr sah.
Das Licht, die Leichen, die geschäftigen Studenten, so, als sei es das Normalste auf der Welt . Nein, eher eine Szene aus einem B-Movie, ein schlechter Science-Fiction, dachte Alexander. Aber auch was Archaisches, dem Tod so nah, das nackte Opfer direkt vor Augen. Noch nie hatte Alexander eine nackte Frau so lange und ausgiebig betrachten können, den geilen Blick zwischen die aufgeweichten Wachsbeine versenkt, direkt in diese offene Muschel mit all ihren Häuten; noch nie hatte eine so lange stillgelegen. Und dann noch rasiert. Manchmal bietet dieses Studium einmalige Erfahrungen. Ausgerechnet an ihrem Geschlecht schien der Zahn der Jahre am wenigsten genagt zu haben. Hier war sie jung geblieben. Forever young. War sie bis zuletzt, was hieß bis zu ihrem Tod, aktiv geblieben, war verwöhnt worden, hatte sich als Kelch der Lust bedankt, forever young, oder war sie vergessen und verdorrt wie ein zierliches und zerbrechliches Vogelgerippe in der Wüstensonne. Als lebendes Totes oder totes Lebendiges. Hannelore verlor jetzt den letzten Rest von Intimität, als die ersten Skalpelle geometrische Formen in ihre formalinvolle Epidermis schnitten. Alexander spürte Hannelores Haut durch den Gummihandschuh: eine verwaschene, mit kaltem Teig gefüllte Beate-Uhse-Puppe. Auf seiner Stirn tropfte Wasser. Die Studentin gegenüber, die mit dem Minirock, fächelte sich Luft mit einem anatomischen Atlas. Sie hatte ein hübsches Gesicht, einen verlangenden, hungrigen Mund mit kräftigen Lippen. Ihre dunklen Augen, hinter der schwarzen, dickrandigen Brille verkleinert, verirrten sich zu ihm, nur einen klitzekleinen Moment, dann drehten sie ab und sie sackte weg, langsam, wie in Zeitlupe. Alexander ließ sein Besteck fallen, blechern klirrte es auf den Boden und im selben Moment sprang er um den Tisch und fing sie auf. Ihre Nachbarin glotzte blöde.
«Hilf doch mal, faß mit an», bat Alexander. Die Nachbarin zuckte die Schulter. «Ich werd sonst nicht fertig», sagte sie und wandte sich wieder Hannelores Bauchhaut zu. Alexander griff den schlaffen Leib unter den Schultern und unter den Knien, stand vorsichtig auf und schleppte sie raus. Er schaffte es noch bis zum Umkleideraum und legte sie auf eine Bank. Er setzte sich neben sie und atmete schwer.
Blau. Der Himmel. Ein Badesee. Nein, seine Augen. Mira wurde wieder klar, auch wenn sich alles drehte. An Stehen war gar nicht zu denken. Harte Holzlatten drückten im Rücken, die Decke in grauem Beton: der Umkleideraum. Sie spürte auf der Haut einen feinen Schweißfilm, der träge abkühlte. Zugleich war da noch die Hitze. Sie nestelte an den Knöpfen ihres Kittels, bekam ihn im Liegen nicht auf. Er beugte sich zu ihr runter, knöpfte ihn auf und lächelte unsicher. Mira holte tief Atem.
«Komm noch mal näher», bat sie. Er zog die Stirn in Fragefalten, tat aber wie ihm geheißen und beugte sich über sie. Sein Gesicht war jetzt genau vor ihrem. Seine Züge waren weich für einen Mann, nur um den großen Mund hatte er etwas Hartes, fast schon Brutales. Mira griff mit beiden Händen auf seinen Kopf und verwuselte die Haare.
«So ist es viel besser», sagte sie. «Danke, daß du mich rausgebracht hast .»
«Alexander.»
«Okay, Alexander. Ich heiße Mira.»
«Ich sollte .»
«Ja, geh ruhig. Wir würden gleich auffallen, wenn wir beide zusammen weg sind. Der Professor mag das nicht. Noch mal danke, aber ich denke, ich komme jetzt wieder alleine klar.»
«Gut», sagte er und ging. Scheiße, dachte Mira. Warum muß mir das ausgerechnet am ersten Tag passieren.
Sie roch gut, als sie so dalag vor ihm. Obwohl - verglichen mit den stechenden Formalinschwaden, welche die Leichen vernebelten, hätte er wahrscheinlich jeden Geruch...
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