1
Roscoe
Die meisten Menschen haben elf bis zwölf Geschichten zu erzählen, und das ist es dann.
Als ich ein Kind war, dachte ich, dass ältere Leute einfach nur vergesslich wären. Wobei für mich als zehnjährigen Jungen alle über fünfunddreißig »ältere Leute« waren. Aber als ich selber älter wurde, ging mir auf, dass Menschen aller Altersklassen ständig irgendwas vergaßen. Jedenfalls viel mehr als ich.
Genauso wurde mir bewusst, dass niemand es gern hört, dass er sich wiederholt und dieselbe Anekdote oder Story schon zum siebten, achten oder zwölften Mal zum Besten gibt. Die Leute hassen das, vor allem, wenn sie sich an die Einzelheiten der Geschichte nicht so gut erinnern können wie man selbst. Immer, wenn ich jemanden daran erinnerte, dass ich eine Geschichte schon einmal an diesem Tag um jene Zeit erzählt bekommen hatte, oder irgendwelche Einzelheiten der Erzählung korrigierte, reagierte er verärgert und frustriert. Als wäre es nicht seine Schuld, dass er die Dinge durcheinanderbrachte, sondern meine, weil ich nie auch nur die kleinste Kleinigkeit vergaß.
Inzwischen hatte ich gelernt, den Mund zu halten. Ich ließ mir dieselben Storys ein ums andere Mal erzählen und tat immer so, als hätte ich sie nie zuvor gehört. Ich hatte diese Fähigkeit perfektioniert, tat interessiert und überrascht, lachte glaubhaft, wenn was lustig war, und guckte mitfühlend oder besorgt, wenn etwas traurig war.
Ich war ein wirklich guter Schauspieler. Ich hatte das besondere Talent zur Unaufrichtigkeit und redete mir ein, dass meine Reaktionen aus Notwendigkeit und nicht aus böser Absicht selten ehrlich waren. Ich hatte einfach keine Lust, die Leute zu verärgern oder permanent als Besserwisser dazustehen.
Wahrscheinlich war vor allem das der Grund, aus dem mir meine eigene Gesellschaft lieber als die anderer Menschen war. Solange ich allein war, füllte mein Gehirn sich nicht mit zahllosen Erinnerungen an. Und wenn ich das Zusammensein mit anderen nicht vermeiden konnte, zog ich die Gesellschaft Fremder der von Leuten, die ich schon seit Jahren kannte, und die meiner eigenen Familie der aller anderen vor.
Die Geschichten Fremder waren immer neu, was eindeutig ein Vorteil war.
Und die Geschichten der Familie wurden niemals wirklich langweilig für mich. Ich liebte meine zahlreichen Geschwister, und falls ich einmal nicht in der Stimmung war, mir eine der Familiengeschichten anzuhören, nahmen sie mein Gejammer, weil sie sie bereits zum x-ten Mal erzählten, zwar nicht klaglos hin, mussten mich aber trotzdem weiter lieben, weil ich ihr Bruder war.
Erst mit siebzehn ging mir auf, dass es Leuten beim Erzählen von Geschichten weniger um ihre Zuhörer als um sie selber ging. Mit einer Story wie »Als ich mich einmal so betrunken habe, dass ich glatt über den Zaun des Grundstücks dieses oder jenes Stars geklettert bin und dort zum Frühstück eingeladen wurde« oder »Wie ich diese Urlauber vor einer Klapperschlange retten musste«, demonstrieren sie, wie ausgefüllt, bedeutsam oder abenteuerlich ihr Leben ist, wie komisch, mutig oder uneitel sie sind, und dass es sich auf alle Fälle lohnt, mit ihnen befreundet oder wenigstens bekannt zu sein.
Es ist, als müssten sich die Menschen ihres eigenen Werts versichern, und das tun sie durch die permanente Wiederholung der stets gleichen elf bis zwölf Geschichten, die sie selbst und das Leben, das sie führten, definierten.
Genau das ist das Problem für jemanden, der nie etwas vergisst. Genau deshalb bin ich so wählerisch, wenn's um das Sammeln von Erinnerungen geht.
Ich kann nicht entscheiden, ob ich mich an irgendwas erinnern möchte oder nicht. Die Geschichten, die sich einen Weg in mein Gedächtnis bahnen, verblassen nie. Sie prägen sich mir ausnahmslos für alle Zeiten ein. In meinem Kopf sind zahllose Geschichten, die ich nie erzählen würde, obwohl sie mich durchaus definieren, und genauso viele, die ich gern vergessen würde.
Was mir allerdings nicht möglich ist.
Aus diesem Grund saß ich in meinem Wagen, starrte durch die Windschutzscheibe und die breite Fensterfront des kleinen Diners und konnte mich nicht entscheiden, reinzugehen. Gleichzeitig stürmten zahlreiche, lebendige Erinnerungen auf mich ein. All meine Erinnerungen waren lebendig, aber diese gerade waren gleichzeitig so schmerzlich, dass ich sie bereits vor einer Ewigkeit hätte vergessen wollen. Aber wie alles andere hatten sich auch diese Bilder mir für alle Zeiten eingeprägt.
Simone Payton sollte nicht in Daisy's Nut House sein.
Es war Donnerstag, der letzte Donnerstag des Monats. Und am Donnerstag, vor allem am letzten Donnerstag des Monats, hatte ich sie hier noch nie gesehen.
Seit fünf Jahren (oder genau gesagt, fünf Jahren, vier Monaten, zwölf Tagen) kam Simone immer am ersten Freitag jeden Monats um 17.16 Uhr am Flughafen von Knoxville an, was hieß, dass ich problemlos noch bis circa 18.00 Uhr etwas im Daisy's essen konnte, ohne sie zu sehen. Und danach hielt ich mich während des ganzen Wochenendes möglichst von dort fern, denn erst am Sonntagabend kehrte sie zurück nach Washington, D.C.
Das erste Wochenende jedes Monats ohne Donuts zu verbringen, war ein geringer Preis dafür, neuen Erinnerungen an Simone Payton aus dem Weg zu gehen.
Aber jetzt war sie plötzlich hier. An einem Donnerstag. Dem letzten Donnerstag des Monats.
Echt frustrierend.
Ich verschränkte meine Arme vor der Brust und kratzte mich am Hals. Irgendwo in meiner Nähe röhrte ein Motorrad. Das Geräusch kam näher und brach plötzlich ab. Ich selbst hatte den Motor meines Wagens noch nicht ausgeschaltet, weil ich noch nicht wusste, ob ich bleiben würde oder nicht. Die Frage war - wie groß war mein Verlangen nach einem Donut?
Ziemlich groß.
Ich war vier Stunden unterwegs gewesen und während der Fahrt waren mir zahllose Gedanken durch den Kopf gegangen, vor allem an den leckeren Daisy's Nut House-Donut, den ich mir nach meiner Ankunft in Green Valley immer holen ging. Vielleicht würde ich sogar so weit gehen, drei Dutzend für das samstägliche Frühstück mitzunehmen und mit den anderen zu teilen.
Da wären sie sicher überrascht. Erst letzten Monat hatte mein mittlerer Bruder Cletus mir erklärt, ich sähe nie »über die eigene Nasenspitze raus«. Nur, weil ich seine frisch gewaschene Wäsche, statt sie in den Trockner umzuladen, in den Wäschekorb geworfen hatte, als ich selber hatte waschen wollen.
Aber erstens waren die Handtücher im Trockner noch ein bisschen feucht gewesen, und statt einfach seine nassen Kleider noch dazu zu packen, hatte ich den Trockner mit den feuchten Frotteetüchern noch mal angestellt. Zweitens hatte ich im Anschluss erst mal meine eigenen Kleider trocknen müssen, um vor Sonnenaufgang loszukommen. Und drittens hatte ich ihm, ehe ich das Haus verlassen hatte, ausdrücklich gesagt, er müsste seine Sachen in den Trockner tun.
Ich hatte also meine Pflicht getan.
Das aber fand er nicht, und hatte mich deswegen siebzehnmal in Knoxville angerufen, und sich einzeln über jedes Kleidungsstück, das meinetwegen jetzt schlecht roch, beschwert. Ich konnte praktisch hören, wie er daran schnupperte, und sehen, wie er das Gesicht verzog.
Um es kurz zu machen, Cletus hatte, wie es seine Art war, wieder einmal furchtbar überreagiert.
Augenrollend lenkte ich den Blick zurück auf das Lokal und auf die wunderhübsche Frau, die mit einer Kaffeekanne zu den beiden Männern, die am Tresen saßen, trat. Obwohl Garrison Tyler und Jeff Templer auch mir selbst durchaus nicht unsympathisch waren, knirschte ich mit den Zähnen, als ich ihr breites Lächeln sah.
Ich zwang mich, meinen Blick von ihr zu lösen und gestand mir widerstrebend ein, dass sie kein Kind mehr war. Das war sie schon seit einer ganzen Zeit nicht mehr, aber die Jahre, die zwischen jetzt und damals lagen, hatte ich verpasst.
Ich machte so was nicht. Ich suchte niemals ihre Nähe und vor allem saß ich für gewöhnlich nicht nach Sonnenuntergang in meinem dunklen Wagen und beobachtete sie. Ich war kein Stalker. Ganz im Gegenteil ging ich ihr aus dem Weg, so wie mein Bruder Cletus es mit dummen Menschen tat. Ich hatte seit zehn Jahren nichts mehr von ihrem Leben mitbekommen und so sollte es aus meiner Sicht auch weitergehen.
Vielleicht .
Vielleicht könnte ich ja so tun, als hätte ich es eilig. Vielleicht könnte ich so tun, als führte ich ein sehr wichtiges Telefonat und hätte deshalb keine Zeit für ein richtiges Gespräch oder auch nur eine beiläufige Plauderei. Vielleicht könnte ich etwas bestellen, wieder rausrennen, als müsste ich was nachsehen und zurückkommen, wenn die Donuts fertig wären.
Oder vielleicht sollte ich mich einfach nur zusammenreißen und so tun, als wäre alles ganz normal.
. ach nee.
Ich schaltete den Motor meines Wagens aus und dachte über einen Schlachtplan nach. Ich würde einfach reingehen, so tun, als wäre ich am Telefon, mit möglichst wenig Worten die Bestellung aufgeben, wieder hinausgehen - weil ich schließlich keiner dieser nervtötenden öffentlichen...