Kapitel 1
Das Telefon schrillte unablässig, die Katze stiftete Verwüstung in der kleinen Wohnung und brachte Fios Sachen durcheinander. Auf der Fußmatte, unter dem Briefkastenschlitz, türmten sich Rechnungen und Mahnungen, die sich zu dem unbeantworteten Papierchaos auf ihrem Couchtisch gesellen würden. Abermals läutete das Telefon, und Fio stürzte aus dem Badezimmer, um abzunehmen.
»Winkler«, meldete sie sich.
»Fiona! Endlich erreiche ich dich.«
»Hallo, Mama.« Lediglich in ihr Handtuch gewickelt, ließ Fiona sich auf ihren Lieblingssessel sinken. »Wie geht's dir?«
»Ich habe mir Sorgen gemacht«, ertönte die vorwurfsvolle Stimme ihrer Mutter Irene am anderen Ende der Leitung. »Ich habe mehrmals angerufen, aber du bist nie rangegangen.«
Für Irene war das ein Indiz dafür, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.
Fio rollte mit den Augen. So sehr sie ihre Mutter liebte, dass diese so überfürsorglich war, nervte sie. Andererseits war es kein Wunder, es gab nur sie beide.
»Ich war unter der Dusche, Mama. Da telefoniert es sich so schlecht.«
»Ach so. Wie geht es dir, mein Schatz? Alles in Ordnung? Wie läuft das Geschäft?«
Fio schielte durch die offene Küchentür zu ihrem Esstisch, den sie zur Schmuckschmiede umfunktioniert hatte, und auf dem sich Halsketten, Armbänder, Ohrringe und vieles mehr stapelten, ohne einen Abnehmer zu finden. Der Traum, sich nach ihrer Ausbildung als Gold- und Silberschmiedin selbständig zu machen, entpuppte sich immer mehr als Alptraum. Das würde sie allerdings nicht zugeben. Nicht nachdem sie trotz Abitur und abgeschlossenem Sozialpädagogikstudium unbedingt noch diese Lehre hatte absolvieren wollen.
»Ganz gut«, log sie und wickelte sich eine rotblonde Strähne um den Zeigefinger. »Es kommt langsam ins Rollen.«
»Toll, also musst du nicht mehr in dieser furchtbaren Bar arbeiten?«
Diese furchtbare Bar war so furchtbar gar nicht und der einzige Grund, weshalb Fio ihre Miete zahlen konnte.
»Doch, noch ein bisschen. Damit ich eine finanzielle Absicherung habe, bis das mit dem Schmuck so richtig gut läuft.«
»Aber hast du nicht gerade gesagt, dass es gut läuft?«
»Ja, tut es ja auch«, erwiderte Fio hastig. »Nur für den Fall, dass das Geschäft mal einbricht, solange ich noch keine konstanten Einnahmen habe.«
»Dann kannst du mich ja bald mal besuchen kommen, oder?« Irene klang hoffnungsvoll. »Du warst schon so lange nicht mehr hier draußen, und so weit ist es wirklich nicht.«
Von München bis an den Tegernsee, wo Irene lebte, war tatsächlich keine Weltreise, und Fio hätte sie liebend gerne besucht, bloß hatte sie keine Zeit. Wenn sie frei hatte, versuchte sie, so viel Schlaf wie möglich nachzuholen, der bei ihren vielen Abend- und Nachtschichten generell zu kurz kam.
»Ich schau mal, wann ich es einrichten kann, okay?«, sagte Fio.
»In Ordnung. Dann koch ich dir was Schönes. Was hättest du denn gerne?«
»Hm, weiß nicht.«
Fio zuckte zusammen, als ihre schwarze Katze Onyx auf ihren Schoß sprang und sich dort zusammenrollte. Während sie den Erzählungen ihrer Mutter lauschte, kraulte sie Onyx hinter den Ohren. Die Katze schnurrte und ihr ganzer Körper vibrierte dabei.
Irene versprach ihr, dass sie hausgemachte Lasagne und Zitronenkuchen machen würde, sobald Fio zu Besuch kam. Dann erzählte sie ihr, dass die Katze der Nachbarin überfahren worden war, woraufhin Fio Onyx fest an sich drückte, und wie groß die Kälbchen auf der gegenüberliegenden Kuhweide geworden waren. Heimweh kroch über Fios Rücken und nistete sich in ihrer Brust ein. Nicht wegen der Kälbchen auf der Weide oder den Kuhglocken, die sie um den Hals trugen und deren Bimmeln Fio als Kind oft abends in den Schlaf gesungen und morgens geweckt hatte. Auch nicht wegen des Sees und der Wiesen und Wälder, die sich um diese Jahreszeit rotgold färbten. Und der Klatsch und Tratsch, der unweigerlich in so einem kleinen Dorf kursierte, fehlte ihr erst recht nicht.
Fio vermisste ihre Mutter, vermisste Geborgenheit und Wärme. Sie hatte die Einsamkeit und Anonymität der Großstadt satt. Obwohl es natürlich nicht an der Stadt lag, dass sie sich oft alleine fühlte, das wusste sie.
Als sie auf die Wanduhr schielte, die über ihrem Esstisch hing, erschrak sie.
»Mama, ich muss los«, unterbrach sie Irenes Redefluss darüber, dass sie sich eine E-Mail-Adresse zugelegt hatte. »Es tut mir leid, aber ich bin spät dran. Ich muss in einer Stunde im Alternativ sein und sitz hier noch im Handtuch rum.«
»In Ordnung, mein Schatz«, sagte Irene. »Gib mir Bescheid, wann du kommst, ja?«
»Ja, mach ich«, erwiderte Fio. »Ach, und Mama?«
»Ja?«
»Ich hab dich lieb.«
»Ich dich auch, mein Schatz.«
Nachdem Fio aufgelegt hatte, schubste sie Onyx von ihrem Schoß, erntete dafür ein empörtes Fauchen, und eilte durch ihr Appartment, um pünktlich zur Arbeit zu kommen.
Eine knappe Stunde später kam sie abgehetzt im Alternativ an und schmiss ihre Umhängetasche hinter die Bar. In dem alten Kellergewölbe, dessen Decken von grob gehauenen weißen Säulen gestützt wurden, waren nur sehr wenige Gäste. Die Lichter waren noch nicht gedimmt und die Musik noch leise. Das würde sich in kürzester Zeit ändern.
»Hey, Fio«, sagte Manu, der Barkeeper und bei der Arbeit so etwas wie ein Freund für Fio war. Er drückte ihr ein Küsschen auf die Wange. »Was ist denn los? Du siehst gestresst aus.«
»Mütter und öffentliche Verkehrsmittel«, antwortete Fio, während sie ihre Schürze und ihren Kellnergeldbeutel anzog. »Noch Fragen?«
»Nein, alle Klarheiten beseitigt.« Er grinste und strich sich die braunen Haare aus dem Gesicht. »Bereit für heute? Wir haben zwei Reservierungen mit jeweils über 20 Personen, die trinken und essen wollen. Ach, und Alex ist erkältet, Tessa springt ein. Sie kommt aber erst in einer halben Stunde.«
Fio stieß genervt die Luft aus. Alex war eine neue Servicekraft und ein Prinzesschen auf der Erbse, das zwar den männlichen Gästen schöne Augen machen und dementsprechend Trinkgeld einfahren konnte, jedoch weder besonders belastungsfähig noch zuverlässig war.
»In Ordnung«, sagte sie. »Bist du heute alleine an der Bar?«
»An einem Freitag? Sehe ich für dich lebensmüde aus?« Manu schüttelte den Kopf. »Ne, David ist auch da. Der ist gerade im Keller, Bierfässer wechseln. Den Damen aus der Tagschicht ist das zu schwer.«
Fio lachte und boxte Manu gegen den Oberarm. »Tja, kann ja nicht jeder so muskelgestählt sein wie du. Ich geh mal die Kerzen anzünden, bevor wir Schichtübergabe machen.«
Wenig später dröhnten harte Hip-Hop-Beats aus den Lautsprechern, die Bässe wummerten und die Luft war stickig und vibrierte. In der kleinen Bar wimmelte es nur so vor Menschen, und Fio hatte Mühe, sich mit ihrem Tablett und den Tellern durch die Menge zu schlängeln. Ihre Füße klebten bei jedem Schritt am Boden fest, der Geruch nach exotischen, zuckrigen Cocktails und Alkohol waberte durch den Raum und überdeckte den Schweißgestank. An den Stehtischen, dem Tresen und jedem freien Durchgang dazwischen wippten die Feierwütigen zum Takt der Musik, an den Sitztischen saßen größere Gruppen und genossen mexikanisches Essen. Hinter der Bar und in der Küche herrschte Hochbetrieb. Das Personal rotierte, um alle Gäste zufriedenzustellen und die Bestellungen abzuarbeiten, die schneller hereinkamen, als man sie umsetzen konnte.
Der Black Friday boomte und zauberte den Laden jede Woche brechend voll - gut für Fios Geldbeutel, schlecht für ihre Nerven und noch schlechter für ihr Schlafpensum. Dafür wiederum war es gut für ihren Unterhaltungsfaktor. Trotz der vielen verschwitzten Körper, der schwülen Luft und den ganzen Betrunkenen, machte ihr die Arbeit Spaß. Sie ließ sich treiben in dem Fluss der Feiernden, schwamm mit ihnen mit und gehörte zwar nicht mit dazu, aber konnte sich einreden, in diesem Moment nicht alleine zu sein.
Gegen drei Uhr nachts verabschiedeten sich die letzten Gäste und schwärmten in die benachbarten Clubs oder in ihre Betten. Als Manu das Licht andrehte, musste Fio blinzeln, bis sich ihre Augen an die Helligkeit gewöhnten.
»So, wer von euch putzt jetzt meine Bar?«, fragte Manu und grinste.
Tessa zeigte ihm den Vogel. »Vergiss es. Aber du kannst gerne meinen Servicebereich putzen.«
»Nein, kann er nicht«, warf Fio ein. »Er putzt meinen.«
Manu lachte. »Keine Chance! Ich finde, David hat den Abend über noch nicht genug geschwitzt. Er kann ja Bar und Servicebereich machen.«
»Klingt super«, sagte Fio.
»Ihr könnt mich mal«, grummelte David und schleppte eine Kiste Leergut in Richtung der Treppen. »Ich geh auffüllen, während ihr den Putzlappen schwingt.«
»Spielverderber«, seufzte Manu. »Dann lasst uns mal loslegen. Ich will heute noch hier raus.«
Eineinhalb Stunden später war alles blitzblank sauber und wartete nur darauf, von der Tagschicht in Betrieb genommen zu werden. Zusammen mit Tessa lief Fio zur U-Bahn-Station. Es war noch dunkel und Nebel waberte in Fetzen über den Boden. Feuchte Kälte kroch durch Fios Kleidung, und sie fröstelte. Der Herbst war da und hatte den Sommer abgelöst, eindeutig.
Fio verpasste ihre U-Bahn knapp, und da Tessa in einem anderen Stadtteil wohnte und ihr Zug keine zwei Minuten später einfuhr, musste Fio alleine warten. Eine geschlagene...