Schweitzer Fachinformationen
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Charlotte, North Carolina
All die winzigen, abgenagten Teilchen stammten von einem Menschen. Das hatte ich sofort erkannt.
Aber war dieser Mensch Norbert Mirek gewesen?
Ich warf einen Blick auf die Wanduhr. 20 Uhr. Ich hätte schon vor Stunden Feierabend machen sollen. Doch ich war noch immer hier bei Norbert. Vermutlich Norbert.
Genauer gesagt, war ich in Autopsieraum vier. Dem Stinker. Wo man mich für gewöhnlich antraf.
Selbst die Spitzen-Lüftungsanlage änderte kaum etwas an dem Gestank, den das vor mir ausgebreitete Gemenge absonderte. Der mit Erde verkrustete Haufen Exkremente bestand aus Pflanzlichem, Haaren, Knochen und allerlei unidentifizierbaren Einschlüssen.
Die Knochenstücke trugen nichts zur olfaktorischen Belästigung bei. Sie hatten schon lange jede Verbindung mit zusammenhaltendem Weichteilgewebe verloren. Der Übeltäter war die Scheiße.
Als forensische Anthropologin habe ich es regelmäßig mit verwesten, verbrannten, mumifizierten, verstümmelten, zerstückelten und skelettierten menschlichen Überresten zu tun. Verfaultes Fleisch ekelt mich nicht. Aber in Scheiße zu wühlen, hatte noch nie zu meinen Lieblingsbeschäftigungen gezählt. Der vorliegende Fall bestärkte diese Aversion einmal mehr.
Links von mir türmten sich noch ungeprüfte Kotberge, während beachtenswerte Fundstücke rechts auf einem blauen Plastiktuch ruhten. Auf einer Theke hinter mir stand eine Reihe weiterer Beutel.
Ein paar Hintergrundinformationen hatte ich dazu von Detective Skinny Slidell aus dem Morddezernat des CMPD erhalten. Slidell war zwar offiziell bereits verrentet, sprang jedoch angesichts von Budgetkürzungen und Personalmangel gelegentlich ein, um bei der Aufklärung eher unspektakulärer Fälle zu helfen.
Was stets ein besonderes Vergnügen war - Skinny besaß den Liebreiz einer Triefnase.
Norbert Mirek, Alter achtundsechzig, war Eigentümer von Lost Foot Pastures, gut sechzehn Hektar Wald- und Ackerfläche im ländlichen Teil von Mecklenburg County, North Carolina. Mirek lebte seit Jahrzehnten allein auf dem Anwesen. Seine einzige Gesellschaft bestand aus einem Rudel geretteter Hunde, das er frei herumlaufen ließ, insgesamt etwa dreißig.
Vor einem Jahr war Mirek spurlos verschwunden. Vor zwei Tagen war dann Halsey Banks, Mireks Neffe, in Lost Foot auf Truthahnjagd gewesen und hatte ein paar Kojoten bemerkt, die sich auf einem überwucherten Feld abseits der Straße sonderbar benahmen. Aus Neugier ging er hinüber und fand mehrere ausgeblichene Bruchstücke, die er für mögliche Knochen hielt. Außerdem eine Brille, von der er glaubte, dass es die seines Onkels war.
Daraufhin hatten Beamte des CMPD mit Leichenspürhunden das Gelände abgesucht und bergeweise Hundekot eingesammelt. Ein Teil davon lag jetzt auf dem Edelstahltisch, über den ich mich beugte.
Mireks Angehörige wollten Antworten. Die Anwälte von Mireks Angehörigen wollten Antworten.
Skinny drängelte.
Deshalb war ich noch im Labor.
Allerdings fiel es mir schwer, mich zu konzentrieren. Das lag nicht allein an der späten Uhrzeit. Oder an den organischen Düften, die mir in die Nase stiegen und Kleidung und Haare durchdrangen. Meine Gedanken wanderten ständig zum bevorstehenden langen Memorial-Day-Wochenende. Zu einem Rendezvous mit Ryan und entspannten drei Tagen in Savannah.
Wir hatten ein Zimmer in einem kleinen B & B namens The Tumble Inn gebucht. Ryan würde morgen mit dem Flieger in Charlotte landen. Ich wollte ihn am Flughafen abholen, und von dort würde es sofort weiter nach Georgia gehen. Vier Stunden Fahrt. Ein Kinderspiel.
Welcher Ryan, wollen Sie wissen?
Scharfsinnige Frage.
Andrew Ryan. Lieutenant-détective. Section de Crimes contre la Personne. Sûreté du Québec. Retraité.
Was übersetzt ungefähr heißt: Ryan war jahrzehntelang Cop in der kanadischen Provinz Quebec gewesen. Seit seinem Abschied vom Dienst arbeitete er als Privatermittler. So eine Art zweisprachiger, grenzübergreifender Philip Marlowe.
Außerdem ist Ryan mein langjähriger Partner, sowohl in beruflicher wie in privater Beziehung. Doch dazu später mehr.
Konzentrier dich, Brennan!
»Hey, Großer«, rief ich, warf meine Handtasche auf den Küchentresen und stellte den Pizzakarton daneben. »Sorry für die Verspätung.«
Kein Katzentier.
In weiser Vorausschau hatte ich Birdies Napf morgens vor meinem Aufbruch mit Trockenfutter gefüllt, da ich bereits mit einem langen Tag rechnete. Statt des üblichen Knöchelschmeichelns zur Begrüßung strafte mich der Vierbeiner jetzt dennoch mit Nichtbeachtung. Auf diese Weise brachte er zum Ausdruck, dass er das trockene Zeug wirklich gar nicht mochte. Und meine lange Abwesenheit ebenso wenig.
Womit Bird nicht unrecht hatte. Es war mittlerweile kurz vor zehn. Ich war fast vierzehn Stunden weg gewesen. Immerhin war es mir gelungen, mich durch den gesamten Kot zu arbeiten.
Einige der Knochenreste, die sich in den Exkrementen fanden, waren tatsächlich menschlicher Natur, sodass ich ein paar Proben zur DNA-Bestimmung einschicken konnte. Zusätzlich hatte ich noch Geschenktütchen für die Haar- und Stoffexperten beigelegt. Da ich für die Anfertigung eines vollständigen Berichts viel zu müde war, hatte ich anschließend nur noch einen ersten Entwurf auf Band gesprochen und war nach Hause gefahren.
Zu einem eingeschnappten Kater.
Dem zu allem Übel auch noch die Erkenntnis blühte, dass er die nächsten drei Tage bei der Nachbarin verbringen würde.
Sei's drum.
Ich wollte jetzt nur noch eine heiße Dusche, die Pizza und dann ins Bett.
Alle drei Wünsche erfüllten sich. Ich war gerade im Tiefschlaf, als Ray Charles auf meinem Nachttisch zu singen begann. »Georgia on My Mind«. Mein aktueller Klingelton. Nicht schwer zu verstehen warum, was?
Mir gelang es in diesem Moment allerdings nicht. Mein Hirn hing noch groggy in den Seilen.
Ich griff blinzelnd nach dem Handy und schaute auf den Bildschirm.
Den Zahlen am oberen Rand zufolge war es 3:02 Uhr. Im Feld darunter stand Katys Nummer.
Um Himmels willen!
Meine ausgiebige Erfahrung mit Anrufen zu frühmorgendlicher Stunde hat mich gelehrt, dass sie nie Gutes bedeuten.
Starr vor böser Vorahnung hob ich ab. »Was ist los, Katy? Wo steckst du?«
»Mir geht's gut. Chill erst mal.«
»Es ist mitten in der Nacht.«
»Ich ruf doch oft mitten in der Nacht an.«
Wohl wahr.
»Kannst du kurz auf Empfang schalten?«, sagte sie.
Ich setzte mich auf, rutschte gegen das Kopfteil und sammelte mich einen Moment. »How goes it, Katy Matey?«
»Ist dir klar, wie bescheuert sich das anhört?«
»Früher hat's dir gefallen.«
»Da war ich sechs.«
»Na, wir sind aber schlecht gelaunt.«
»Ich bin nicht schlecht gelaunt.«
Erst der Kater, jetzt meine Tochter.
»Was gibt's?« Um drei Uhr morgens? Das ließ ich weg.
»Morgen gibt's Gips.«
»Und meine Sprüche klingen bescheuert?«
»Ich hab eine Bitte an dich.«
»Klar doch«, sagte ich, ganz automatisch.
»Gefallen wird's dir nicht.«
Na wunderbar.
»Erinnerst du dich noch an Ivy Doyle?«
»Nein, tut mir leid.«
»Ivy ist Reporterin. Sie war meiner Einheit als zivile Kriegsberichterstatterin zugeteilt bei meinem zweiten Einsatz in Afghanistan. Inzwischen arbeitet sie für einen Fernsehsender in Washington, D.C.«
Eine Fernsehreporterin. Katy hatte recht. Mir gefiel die Sache schon jetzt nicht.
»Ich wollte dich bitten, ihr ein paar Fragen zu beantworten. Zu einem Brand, über den sie berichtet.«
»Du weißt, dass ich keine Interviews gebe.«
»Warum eigentlich?«
»Gespräche mit der Presse bringen nie was Gutes.« Ebenso wenig wie mitternächtliche Anrufe. Das ließ ich auch weg.
»Herrgott, Mom. Das ist dermaßen engstirnig.«
»Sagen wir einfach, gebranntes Kind scheut Feuer.«
»Im Wortsinn?«
»Sehr witzig.«
Ich hörte das zischende Öffnen einer Dose. Schluckgeräusche.
»Könntest du nicht einfach kurz mit ihr reden?«
»Liebling, ich .«
»Ich schulde Ivy was«, unterbrach sie mich. In Katys Stimme lag eine neue Schärfe. »Und zwar verdammt viel.«
Meine Tochter sprach nur selten über ihre Zeit in der Armee. Über die Kampfeinsätze, die sie miterlebt hatte. Die beiden Aufenthalte in Kriegsgebieten, die sie für immer verändert hatten. Die Albträume, die sie nachts noch immer heimsuchten.
»Ich würde dir das nicht zumuten, wenn es nicht wichtig wäre«, fuhr sie fort. Es war nicht zu überhören, wie schwer ihr die Bitte fiel. »Wichtig für mich.«
Ich wartete.
Katy sog hörbar die Luft ein. »Ivy hat mir das Leben gerettet.«
Ich verharrte reglos, vor meinem inneren Auge das Gesicht meiner Tochter. Das militärisch kurz geschorene blonde Haar. Die eindringlichen grünen Augen. Die Narbe auf der Wange.
Die Narbe, über die sie nie sprach.
»Möchtest du darüber reden?«
»Nein. Ich möchte, dass du Ivy hilfst. Für sie ist das enorm wichtig.«
»Warum?«
Ein Wimpernschlag Stille. »Das spielt keine Rolle«, sagte sie dann.
»Wie helfen?«, fragte ich seufzend. Schon halb in mein...
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