Wieder einmal saß Liz, wie so oft in letzter Zeit, gelangweilt in ihrer kleinen Küche. Neben ihr auf dem Tisch standen noch die Reste ihres Frühstücks. Sie sah aus dem Fenster. Der Himmel hing voll mit dicken, schweren Regenwolken. Liz fragte sich, mit einem Seufzer, der ihr im Hals stecken blieb: Was fängt man mit dem Rest seines Lebens an, wenn man keinen Plan hat für den bevorstehenden Tag? Und was macht man mit dem morgigen Tag und den darauffolgenden Tagen? Hier unterbrach sie meist ihren Gedankengang. Denn sie wusste nicht, wie sie erreichen konnte, was sie für ihr Heute, Morgen und für den Rest ihres Lebens wollte. Liz fand, dass es schon lange an der Zeit war für eine Veränderung.
Sie nippte an ihren Kaffee. Irgendwie schmeckte dieser heute Morgen auch nicht wie sonst. Ein wenig bitter, so wie Liz' gegenwärtiger Zustand. Bitter mit einer Prise oder doch eher ordentlicher Portion Enttäuschung und Wut auf sich selbst. Sie starrte auf den angebissenen Toast, bestrichen mit extra viel hausgemachter Erdbeermarmelade. Mindestens zweihundert Kalorien lagen vor ihr, auf die sie lieber verzichten sollte. Sie schob den Teller entschlossen ein Stück von sich. Aber ihr schlechtes Gewissen saß ihr bereits im Nacken. Liz wusste, dass der Toast in nicht einmal fünf Minuten verschlungen sein würde. Sie tat sich schwer mit Entscheidungen. Sonst hätte sie längst ihre Waage aus dem Badezimmer entsorgt. Aber wie mit so vielen Dingen im Leben, hatte auch Liz Angst davor, etwas zu verpassen. Wer weiß, vielleicht nahm sie ja doch noch ein paar Gramm ab. Resigniert räumte sie mit sicheren Handgriffen den Tisch ab. Stellte das schmutzige Geschirr ins Spülbecken und schaute sich fragend um. Sollte sie zuerst das Bett machen oder doch lieber erst ins Bad gehen? Oder doch in der Küche bleiben und die zwei Teile Geschirr spülen? Wie war ihre Reihenfolge gestern gewesen? Liz brauchte unbedingt etwas Abwechslung in ihrem tristen Dasein. Ihr Alltag ödete sie an.
Liz handelte ganz frech und irrsinnig spontan und machte nichts von alledem. Kreativ wie sie als Künstlerin nun einmal war, schnappe sie sich die Fernbedienung und schaltete den Fernseher an. Sie zappte kreuz und quer durch die Programme. Die Ernüchterung folgte prompt. Auch hier gab es nichts Aufregendes oder Neues. Die Welt da draußen war noch genauso am Arsch wie gestern um diese Zeit. Liz zwang sich, wenigstens die Nachrichten einmal am Tag anzuschauen. Die Berichterstattung war jedoch meistens sehr düster. Da gab es diese Leute, die alles hatten und sich dennoch empörten, wenn sie was abgeben sollten. Ob Politiker, die Angst um ihre Diäten hatten. Oder die Reichen und noch Reicheren, die Panik bekamen, wenn die zweite Yacht kleiner ausfiel als die, die im Nachbarhafen lag. Und dann gab es die anderen. Diese armen Schweine, die jammerten und ihren verpassten Träumen hinterhertrauerten. Sie gaben jedem die Schuld an ihrem verpfuschten Leben. Jedem, außer sich selbst. Ihr einziger Gedanke waberte im Dunstkreis der sozialen Minderheit. Diese Leute hatten keine Ziele mehr. Sie verfolgten nur noch einen Wunsch: Eine regelmäßige Hartz-Vier-Erhöhung. Liz fragte sich, wo sie in ein paar Jahren stehen würde. Superreich, wohl kaum, aber Hartz Vier, nein danke. Sollte sie jetzt schon zugeben, dass sie so gut wie alles in ihrem Leben falsch gemacht hatte. Nein! Noch war sie nicht bereit, sich dem Schicksal Hartz IV zu ergeben, auch wenn das Geld nie wirklich reichte. Bereits Mitte des Monats war sie schon wieder blank und wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Es war jeden Monat das gleiche Spiel. Zu wenig Geld zum Leben und zu viel, um zu sterben. Ein Spruch, den sie hasste, der aber auf sie zutraf. Liz konnte überleben, aber niemals konnte sie leben. Nicht ein verdammter Traum war mit dem wenigen, das sie besaß, zu erreichen. Liz ertappte sich gerade in letzter Zeit häufiger dabei, dass sie auf alles pfiff und lautstark zu schimpfen begann. "Manchmal ist das Leben einfach nicht fair." Oder wie Liz es inzwischen sieht.
"Das Leben ist eine Bitch."
Schon seit einiger Zeit steckte sie in einer regelrechten Lebenskrise. Die Frage war, wie geht man mit sowas um. Begnügt man sich mit dem, was man hat, oder versucht man noch ein allerletztes Mal, das Ruder herumzureißen. Liz fehlte das Wasser, um dem Ruder genug Tiefe zu geben, um es dann herumzureißen. Sie bewegte sich zwischen Resignation und purer Verzweiflung. Sie drohte zu kentern und zu ertrinken.
Mehr als einmal stellte sich ihr die Frage: Wann hätte sie was zu welchem Zeitpunkt in ihrem Leben anders machen müssen, um heute nicht so abgewrackt auf ihr Leben zurückzublicken. Gab es diesen einen Moment überhaupt, der das Leben eines Menschen vollkommen verändern konnte? Wäre sie wirklich glücklicher, wenn sie mehr Geld hätte? Wäre ihr Leben dann in eine andere Richtung verlaufen, die besser für sie gewesen wäre? Wenn sie zum Beispiel die Schule ernster genommen hätte? Gute Noten gleich bessere Chancen auf eine gute Ausbildung. Hätte das vielleicht schon gereicht?
Liz musste daran glauben, dass dieser eine Moment noch nicht an ihr vorübergegangen war. Sie brauchte eine letzte, eine allerletzte Chance. Nein! Eine Chance genügte nicht mehr. Liz brauchte ein richtiges großes verdammtes Wunder. So wie sich ihr Leben im Moment anfühlte, war ihr Schicksal längst besiegelt. Keine noch so große Chance würde etwas daran ändern, dass sie heute wie damals frustriert und gelangweilt von allem mit ihrem Leben auf Kriegsfuß stand. Nichts, wirklich gar nichts machte in ihrem Leben noch irgendeinen Sinn.
Liz hatte ihre Chancen gehabt und sie mehr als einmal vertan. Sie erinnerte sich genau an diese verpassten Möglichkeiten. Das Leben hatte ihr mehr als einmal eine Chance zugespielt. Liz drehte sich der Magen um bei dem Gedanken, dass sie ihre Träume selbst in den Dreck geworfen hatte. Ganz spontan fielen ihr sofort einige Dinge wieder ein, die sie auf Anhieb kein zweites Mal machen würde. Sie war aufgewacht, wenn auch zu spät, und würde ihre Chancen heute bewusst anders nutzen. Was wäre, wenn, und hätte ich doch und warum nicht doch und weshalb nicht gleich. Es war zum Haareraufen, die Erkenntnis, die sie am Ende des Tages auch nicht viel weiterbrachte. Nur eine einzige, winzige Variable und vielleicht könnte sie dann ihren verstaubten Koffer aus dem Keller holen. Und einfach so ein Ticket nach Paris kaufen.
Wenn es so einfach gewesen wäre, hätte Liz sich dann diese Chance entgehen lassen? Bestimmt nicht! Eine weitere Frage stellte sie sich. Wenn sie alle Chancen im Leben ergriffen hätte, wäre ihr Leben dann so viel besser als heute? Oder ist besser nicht gut genug, weil man nicht vorhersehen kann, wie man die Chance genutzt hätte? Nur ein einziges unbedeutendes Puzzleteil aus der Vergangenheit, hätte oder wäre diese Entscheidung falsch, richtig oder einfach nur nicht von Bedeutung. Langsam bekam sie leichte Kopfschmerzen. Warum musste sie auch immer wieder daran rühren. Ihr Leben war gelebt, und den Rest musste sie wohl oder übel hinnehmen, wie es kam.
Das alles waren doch nur wilde Spekulationen, die niemand mehr im Nachhinein zu beantworten wusste. Eine kleine Erkenntnis hatte Liz inzwischen dazugewonnen. Sie kannte sich heute besser als jemals zuvor. Mit diesem Wissen von heute würde sie ihre Prioritäten mit Sicherheit damals anders gewählt haben. Dann wären die zehn Kilo plus heute ihr kleines Problem. Mit hundert, nein! Mit tausendprozentiger Sicherheit wäre sie dann vielleicht als Model, Influencer oder ähnliches durchgestartet. Liz hatte schon immer das Gesicht, aber nie den passenden Körper dazu. Was brauchte es heute schon, um in den Medien ein Star zu werden. Um finanziell abzuräumen, reichte es auch aus, ein Z-Promi zu sein. Manchmal brauchte es nicht mehr als eine schräge Idee und etwas nackte Haut. Selbst als Dicke, Verzeihung Plus-Size-Modell, hatte man heutzutage mehr Möglichkeiten als mit einem ehrbaren Beruf. Leider aber war auch dieser Zug ohne Liz abgefahren. Ihr Leben war so gut wie vorbei. Mit jedem Aufwachen an einem neuen Tag kam es ihr jedenfalls so vor. Sie war jetzt in den Fünfzigern und gestraft mit den ersten Anzeichen der Wechseljahre. Ihr blieben nicht mehr viele Möglichkeiten auf ein neues und perfektes Leben. Sie hatte es versäumt, ihre Weichen nach den Zwanzigern zu stellen. Jetzt blieb ihr nichts anderes übrig, als sich Abend für Abend mit Bergen von Eis und Selbstmitleid zu betäuben. Natürlich war das der einfachste Weg. Alle hatten Schuld an ihre Misere, nur nicht sie selbst. Zu jammern, war ja auch so viel einfacher, als mal den Arsch hochzukriegen und selbst etwas Initiative zu zeigen. Liz hatte sich schon vor Jahren aufgegeben und seitdem kein echtes Ziel mehr in Angriff genommen. Ihr Glaube an sich selbst war schlichtweg nicht vorhanden. Regelmäßig, als liege ein Fluch auf ihr, geriet sie ins Stolpern und fiel regelrecht mit jedem Versuch, sich aufzuraffen, auf die sprichwörtliche Fresse. Sie hatte längst akzeptiert, was vorbei war, war vorbei. Und was man versäumt hatte zu leben, war nicht nach- oder aufzuholen. Frustration bestimmte Liz' Leben tagein, tagaus. Und niemand war schuld, außer sie selbst. Sie hatte ihr Leben eigenhändig in die Tonne gekloppt.
Mühsam raffte sie ihre achtzig Kilo aus dem Stuhl heraus. Bei nicht mal einer Körpergröße von einem Meter und siebenundsechzig wirkte sie klein und gedrungen. Kaum merkbar hob sie ihre Füße vom Boden, als sie die Küche verließ.
Der Tag musste ja irgendwie vorangehen, also bestimmte Liz ihre Reihenfolge für heute Morgen wie folgt: Sie spülte zuerst ihre Tasse. Dann das Besteck und zum Schluss noch den Frühstücksteller. Gleich danach machte sie ihr Bett, und ging nur wenige Minuten später ins Bad. Zähne putzen brauchte sie...