Eins
Würde dies seine letzte Reise sein, die er antrat? Henry befand sich an einem Punkt in seinem Leben, einem Punkt, an dem er am weitesten davon entfernt war, von dem, was er eigentlich wollte. Er schaute aus dem Fenster, sah das bisschen Leben, das ihm noch bleiben würde, an sich vorbeirasen. Ein letztes Mal sollte sein Weg zu den Menschen führen, die er so schändlich verlassen und enttäuscht hatte. Das Surren der Gleise tönte in seinem Kopf. Rasende Kopfschmerzen machten ihm das Denken schwer. Nur noch wenige Minuten, dann würde der Zug in Düsseldorf einfahren. Sein Weg sollte dann gleich in die Düsseldorfer Klinik führen. Noch einmal zurück auf Anfang! Wäre das möglich, würde er dann sein Leben anders leben, als er es bisher getan hatte? Das Atmen fiel ihm schwer und er spürte, wie er seine Zähne aufeinander schlug, um den aufsteigenden Hass in ihm zu unterdrücken. Hey, was macht es schon, wenn ich mich unsterblich blamiere. In ein paar Monaten interessiert es keinen mehr, wer ich war und was ich mein Leben nannte, dachte er.
Über den Lautsprecher ertönte die Ansage, dass der Zug nun den Düsseldorfer Bahnhof erreicht hatte. Schnell packte Henry seinen Koffer und seinen Mantel und ging Richtung Ausgang. Noch immer lief die Ansage und verkündete die weiteren Anschlusszeiten nach Hamburg, Stuttgart und Berlin. Für ihn jedoch war hier Endstation. Henry schob sich durch die Menge und steuerte sicher das nächste freie Taxi an. "Zum Klinikum", befahl er und war selbst erschrocken, wie barsch seine Stimme rüberkam. Er wollte sich schon entschuldigen, aber der Fahrer schien einiges gewöhnt zu sein und setzte den Wagen sofort in Gang, ohne auch nur ein einziges Wort zu sagen. Henry entschloss sich, ihm am Ende der Fahrt ein großzügiges Trinkgeld zu geben. Trotz aufkommenden Verkehrs steuerte der Taxifahrer den Wagen sicher und zügig durch die Düsseldorfer Innenstadt. Schneller, als ihm lieb war, erreichte Henry die Klinik. Hier hatte alles seinen Anfang genommen. Vor etwa einem Jahr fand sein Leben hier ein Ende und stellte alles Bisherige infrage. Es sollte eine einfache Routineuntersuchung werden bei seinem guten Freund und Arzt Ben. Aber als er ihn dann eine Woche später zu sich bat, war die Diagnose kurz, aber schmerzvoll: Krebs! Chronische Leukämie im fortgeschrittenen Stadium. Es folgte die Chemotherapie. Die erste und auch eine zweite, danach war Henry stabil, aber ein Todeskandidat mit Verfallsdatum. Er würde sterben, hieß es .
"Danke", sagte er zu dem Fahrer. Der reichte ihm sein Gepäck und lächelte freundlich. Henry gab ihm die Hand, darin hatte er einen Zwanzigeuroschein versteckt, die mit einem kräftigen Händedruck seinen Besitzer wechselten. Ohne hinzuschauen, was er bekommen hatte, verneigte er sich tief vor Henry. Eine Geste, die er zuvor bei keinem anderen Fahrer erlebt hatte. Er blieb noch eine ganze Weile stehen und sah dem Taxi hinterher, bis es am Horizont verschwand. Nun war Henry wieder hier und er war am Leben.
"Henry! Wie schön, dich zu sehen. Wie geht es dir? Lass dich anschauen. Wir haben uns so lange nicht gesehen, ich freue mich wirklich."
"Hallo Ella." Zu mehr war er nicht fähig, es verschlug ihm die Sprache. Alle Erinnerungen kamen zurück, überrollten ihn wie ein Zug und begruben ihn mit Schmerz und Trauer wie eine Lawine, der er nicht entkommen konnte. "Du kennst ja den Weg", sagte Ella freudig erregt. "Ich bringe dir auch gerne einen Tee. Schwarz mit drei Stück Zucker und Sahne extra, so wie du ihn am liebsten magst." Henry sah in Schwester Ellas schönes, junges Gesicht. Ein Gesicht, das nicht verbergen konnte, dass es mitfühlte. Nicht nur bei ihm, dem Todeskandidaten. Ellas Augen hatten immer diesen leichten feuchten Glanz. Sie liebte ihren Beruf und trug ihr Herz am rechten Fleck, aber sie litt mit jedem einzelnen ihrer Patienten. "Oder möchtest du doch lieber etwas anderes?", unterbrach sie seinen Gedankengang euphorisch. "Ich habe Dr. Römer bereits informiert, er bittet dich um ein wenig Geduld. Visite, du weißt ja, wie das hier abläuft."
"Natürlich, er soll sich Zeit lassen, und ja, ich nehme gerne einen Tee. Könnte ich auch etwas Gebäck dazu bekommen, ich hatte noch nichts Richtiges zum Frühstück. Mal wieder Blutabnahme, du verstehst?" Henry schwenkte seinen Arm demonstrativ in ihre Richtung. Deutlich sah man das Pflaster in seiner Armbeuge und die vielen blauen Flecken, die aussahen, als würde er täglich verprügelt werden. Leider war es immer schwieriger, gut funktionierende Venen zu finden. Es war so unwahrscheinlich wie ein Sechser im Lotto. Henry hatte seinen alten Hausarzt um ein erneutes Blutbild gebeten. Wenn die Ergebnisse vorlagen, sollte er sie an Dr. Römer faxen. Nur für den Fall der Fälle. "Dr. Römer bat mich, für ihn ein Frühstück zu bestellen, gerne bestelle ich dir eins ."
"Nein danke! Tee und Gebäck sind völlig ausreichend. Henry hatte den Türgriff zu Bens Büro bereits in der Hand, als Ella verlegen den Kopf zum Boden senkte. "Kopf hoch, Ella, noch lebe ich ja, und außerdem gehen Dr. Römer und ich heute Mittag noch essen. Kein Grund also traurig zu sein, ich bin es doch auch nicht." Schon zeichnete sich wieder ein kleines Lächeln auf ihrem Gesicht ab. "Wie geht es Ruben?", fragte Henry neugierig - ob die beiden noch ein Paar waren? "Seid ihr zwei immer noch so verliebt?" Jetzt hatte er Ella endgültig in Verlegenheit gebracht. Er wollte sich schon entschuldigen, dann strahlte sie ihn mit großen Augen an. "Ruben ist auch hier auf der Station von Dr. Römer. Ich soll dir Grüße ausrichten und er sagte etwas von ." Wieder stieg ihr die Schamesröte ins Gesicht. Langsam bekam Henry Mitleid mit dem armen Ding und erlöste sie. "Ich soll an die Karten denken, denn er hat die Wette gewonnen, richtig oder richtig?", neckte er sie. Ella staunte nicht schlecht und auf ihrem Gesicht war erneut ein Lächeln zu sehen. Es war immer eine Freude für alte und müde Augen, Ella zu betrachten. Sie war von schlanker Natur, hatte ihre Rundungen dort, wo sie hingehörten, und wunderschönes rotes Haar. Ihr schönes Gesicht, das von ihren noch schöneren tiefgrünen Augen umrahmt war, strahlte. Ihre Lippen, die etwas zu schmal geraten waren, schimmerten in leichtem Rosé und ihre Wangen waren die eines kleinen, schüchternen Mädchens, puderig rot und leicht fleckig. Ella könnte meine Tochter sein, dachte er. Und genau mit diesen Augen sah er sie. "Ruben sagte bei meiner letzten Chemotherapie, dass wir uns wiedersehen und .", Henry musste erst einmal tief Luft holen, dann fuhr er fort, ". dass ich halt nicht so schnell den Löffel abgeben würde, meinte er." Ellas Gesicht wurde starr vor Entsetzen. "Das hat er nicht wirklich gesagt", echauffierte sie sich. "Doch, das hat er gesagt und er hat die Wette gewonnen. Sag ihm einen lieben Gruß von mir, ich würde mich freuen ihn zu sehen."
"Mache ich. Aber Ruben wird was zu hören bekommen." "Lass ihn, es ist schon in Ordnung und ich weiß ja, wie er es gemeint hat."
"Schwester Ella, bitte zum Labor, Schwester Ella, bitte ." "Ich muss gehen, Henry. Schön, dass du da bist." Er sah ihr nach, wie sie schnell den Flur entlanghuschte, dann verschwand sie hinter der Türe, auf der mit großen schwarzen Buchstaben 'Labor' stand.
Ohne das kleinste Geräusch ließ sich die Türe zu Bens Büro öffnen. Sie kannten sich bereits mehr als dreißig Jahre. Als Vertreter kam Henry damals zu ihm, um seine Wellnessprodukte an den Mann zu bringen. Er erinnerte sich, als sei es erst gestern gewesen. Ben war angehender Oberarzt für Onkologie. Schon damals wusste er genau, was er wollte und was nicht. Er machte nie einen Hehl daraus, was er dachte, und kam immer sehr schnell auf den Punkt. Henry war noch sehr unerfahren und fühlte sich leicht überrannt von seiner sehr dominierenden Art, die auf Henry leicht arrogant wirkte. "Ich habe keine Zeit", begrüßte Ben ihn damals fast schon herablassend und gab ihm nur sehr flüchtig die Hand. "Dr. Römer, Oberarzt für Onkologie", betonte er. Später jedoch erfuhr Henry, dass er zu diesem Zeitpunkt noch gar kein Oberarzt für Onkologie war. Ben aber war ein Blender, ein Macher, ein Showman, ein Überflieger und allen und jedem immer zwei Schritte voraus. Ein großer, stattlicher und muskulöser Typ, mindestens 1,80 groß mit rabenschwarzem, kurz gelocktem Haar. Er trug seinen Kittel offen und das hellblaue Hemd, das er daruntertrug, war so weit geöffnet, dass seine Brusthaare deutlich zu sehen waren. Das war Ben.
Henry sah sich kurz um. Sein Büro hatte sich kaum verändert. Auch jetzt überkam ihn wieder dieses ungute Gefühl, wie damals, als er zum ersten Mal Bens Büro betrat. Klare, für ihn jedoch kalte Linien prägten den Raum und gaben ihm eine frostige Atmosphäre. Die Einrichtung war schlicht, aber elegant und teuer, sehr teuer. Chrom und Glas dominierten, spiegelten seinen Status. Mitten im Raum stand dieser demonstrative Tisch mit einer Glaspatte aus hellen und schwarzen Steinelementen, auf dem das Nötigste wie Computer, Telefon, Schreibutensilien und ein persönliches Bild von ihm stand. Der einzige Gegenstand, der sich mit Sicherheit von Jahr zu Jahr veränderte. Henry vermutete, dass es sich jeweils um die Abbildung seiner aktuellen Freundinnen handelte. Eine junge Dame, nicht älter als dreißig und immer wunderschön anzuschauen. Auffällig, aber in einer ganz anderen Art als der Tisch war das einzige Bild, das Henry immer wieder aufs Neue in seinen Bann zog. Es zeigte eine Schwarzweiß-Karikatur verschiedener Menschen von Nationalität und Alter, die gemeinsam auf einem Hochseil balancierten. Unter ihnen befand sich ein trichterförmiger Abgrund und man...