Schweitzer Fachinformationen
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Wieso wir lesen, was wir lesen
Jetzt, da wir wissen, was alles Literatur ist und wofür wir Lesen im Generellen und Klassiker im Speziellen brauchen, schauen wir uns doch mal an, was genau so gelesen wird - und wieso. Natürlich habe ich jetzt keine wissenschaftliche Studie gemacht, welche Werke am häufigsten gelesen werden,45 sondern mich auf den Bereich beschränkt, in dem ich mich auskenne: die Schule. Denn hier sollte, finde ich, besonders sorgsam ausgewählt werden, was gelesen wird. Ich habe mich also in die Deutsch-Lehrpläne für die Oberstufen aller deutschen und österreichischen Bundesländer eingelesen,46 weil fast nur hier Klassiker gelesen werden, und um die wird's im Folgenden größtenteils gehen. Meine Recherchen ergaben, dass die Werkauswahl in den allermeisten Schulen relativ frei ist, also wenig konkret vorgegeben ist. Meistens wird verlangt, eine Ganzschrift, also ein komplettes Werk, aus einer bestimmten Epoche oder eines bestimmten Genres zu lesen. Oft gibt es, wie in Hessen, noch ein paar Eigenschaften, die das gewählte Werk haben muss. Zum Beispiel:
ästhetische Qualität und geschichtliche Bedeutung
exemplarischer Charakter für die jeweilige Epoche, Textart oder Gattung
motiv-, form- und stilgeschichtliche Relevanz
thematische Bedeutung für die Schüler*innen bezogen auf ihre Mit- und Umwelt sowie auf Grundprobleme der menschlichen Existenz
Das kann natürlich ein bisschen alles und nichts heißen. Und da stellt sich natürlich auch schon wieder die Frage, wer denn genau entscheidet, was ästhetisch und relevant ist und was Bedeutung hat.47 Wenn man Schüler*innen fragt, ob die gelesenen Werke Bedeutung für sie hatten . Können wir uns denken, seien wir ehrlich. In Bayern ist das einzige fest vorgeschriebene Werk Faust, in Bremen zum Beispiel sind die Autoren fix: Büchner, Goethe und Shakespeare. Drei weiße, christliche, cis boys also. Im Saarland werden fix Nathan der Weise von Lessing, Faust von Goethe, Terror von Ferdinand von Schirach und Corpus Delicti von Juli Zeh gelesen - das sind zumindest zwei Leute, die noch leben, und sogar eine Frau, juhu! In Sachsen ist einer der Wahlbereiche im Leistungskurs, in denen Lehrkräfte aus mehreren Themen aussuchen können, das Werk von Karoline von Günderrode. In Mecklenburg-Vorpommern wird ebendiese auch vorgeschlagen, genauso wie Werke von Bettina von Arnim, Annette von Droste-Hülshoff, Anna Seghers, Mascha Kaléko, Ingeborg Bachmann und sehr, sehr vielen Männern natürlich. Sachsen-Anhalt ist komplett eskaliert: Die haben einfach eine Liste mit Empfehlungen, auf der über 100 Autor*innen stehen und noch viel mehr Werke. Da stehen sogar 24 Frauen drauf - allerdings keine mit mehr als einem empfohlenen Werk und soweit ich recherchieren konnte nur weiße, nicht-behinderte und nicht-queere Autor*innen.
In Österreich sind die Werke an sich auch nicht festgelegt. Da sollen beispielsweise an allgemeinbildenden höheren Schulen antike Texte gelesen werden (die aber quasi automatisch von weißen Männern sind), dann kommen Mittelalter, Humanismus, Reformation, Barock und so weiter und so fort. Dabei sollen Sprach- und Gesellschaftswandel erkannt und die Themen auf das Heute bezogen werden. Im letzten Semester soll es sogar um Themen wie Interkulturalität, Migration oder Gender gehen. So festgelegt wie in manchen Teilen Deutschlands sind die Lektüren also in Österreich nicht. Und: Auf Empfehlungslisten finden sich auffällig viele Frauen. Das ist mir tatsächlich im Studium auch schon aufgefallen: Wenn jemand nach Autorinnen fragt, fallen immer zuerst Ingeborg Bachmann und Elfriede Jelinek ein - beides Österreicherinnen.
Ich bin ehrlich: Bei den gefühlt gleichen drei Werken, von denen ich immer lese, dass ihr sie lesen müsst, dachte ich wirklich, mehr Lehrpläne hätten fixe Werke vorgeschrieben. Deshalb finde ich es wirklich eine berechtigte Frage, wieso denn gefühlt immer das Gleiche gelesen wird, obwohl man in der Schule theoretisch alles lesen kann. Was ist denn dieser Schulkanon eigentlich, den es offenbar offiziell gar nicht gibt? Wer hat den gemacht? Wer ist da drin? Wer nicht? Und wieso? Und meine Kernfrage: Wieso sind das fast alles Männer? Weiße Männer, um genau zu sein. Weiße cis Männer. Weiße, christliche cis Männer. Weiße, christliche, hetero cis Männer. Weiße, christliche, hetero cis Männer ohne Behinderung. Weiße, christliche, hetero cis Männer ohne Behinderung aus der "oberen Gesellschaftsschicht".
Das gilt natürlich für die Autoren der Werke, aber ganz oft auch für die Figuren in den Werken. Ganz einfach, weil man natürlich am besten über eigene Erlebnisse und Lebensrealitäten schreiben kann - das ist komplett normal und in Ordnung. Das Problem ist, dass diese super kleine Gruppe der Gesellschaft eben nicht nur über sich selbst schreibt, sondern über alle. Wenn das passiert, sind die Figuren voller Stereotype und Klischees und das spielt der Diskriminierung natürlich wieder perfekt in die Karten. Dann lesen wir nämlich Geschichten über Frauen, behinderte Personen, homosexuelle und/oder trans* Personen oder über Bi_PoC und haben ein komplett falsches Bild von ihnen, das uns erstmal wieder aus dem Kopf rausgeprügelt werden muss - mega anstrengend. Außerdem kann es wirklich großen Schaden anrichten, in der Schule Geschichten lesen zu müssen, in denen Personen, die in Teilen sind wie man selbst, diskriminiert werden. Dass diese Perspektive als "gängig" gilt und sich die Autor*innen damals wie heute anmaßen, über alle zu schreiben, prägt uns und unser Weltbild. Der wirklich unlustige Witz an der Sache ist ja: Alle Menschen, die nicht weiße, christliche, hetero cis Männer ohne Behinderung aus der "oberen Gesellschaftsschicht" sind, werden als "anders" dargestellt und abgestempelt und unterdrückt. Dabei ist es doch genau andersherum mit der Minderheit.
Ich konnte nicht genau ausrechnen, wie viel Prozent der Gesamtbevölkerung unsere "klassischen" Klassikerautoren ausmachen, aber meine blauäugige erste Einschätzung war: "Vielleicht so 20 Prozent" - haha, I wish. Zum Bürgertum, zu dem die meisten dieser Schriftsteller gehörten, zählten nur sieben bis zehn Prozent der Bevölkerung. Das ist nur eine der sieben Kategorien, und wenn wir davon ausgehen, dass die Hälfte des Bürgertums Frauen waren (was wahrscheinlich nicht ganz stimmt), sind wir schon bei fünf Prozent oder drunter. Wenn man alle Kategorien zusammenrechnet - was ich nicht mal könnte, wenn ich die Zahlen hätte, machen wir uns nichts vor -, dann, na ja, also sagen wir so: In den Bundestag würde es die Partei der Klassikerautoren nicht schaffen.
Da muss einem doch schon das pädagogische Herz bluten. Wie soll ich denn die ganze deutsche Literaturgeschichte lehren, wenn ich nur Werke einer super kleinen Nischengruppe lese? Sorry, wahrscheinlich halt gar nicht. Bevor jetzt bestimmte Leute einen roten Kopf bekommen, zwei Dinge: Ich will nicht, dass alle diese Autoren aus dem Lehrplan verschwinden. Ich will keine Werke "verbieten",48 ich möchte nur ergänzen. Und: Ich will nicht den Lehrkräften die Schuld in die Schuhe schieben. Ein Werk, zu dem es wenig bis kein Unterrichtsmaterial gibt, mit einer Klasse zu lesen, ist fast schon unmöglich. Man müsste alle Materialien selber erstellen und erarbeiten - dazu fehlt einfach meistens die Zeit. Aber lasst uns doch mal ganz genau hinschauen und fragen, wie es dazu kommen konnte, dass die Nische einer Nischennische die deutsche Literatur eingenommen hat. (Spoiler: Die Zauberwörter fangen mit P und W an und enden mit atriarchat und hite Supremacy.) Wie es sein kann, dass Diversität und marginalisierte Sichtweisen in der Literaturauswahl für die Schule schlichtweg keine Rolle spielen. Willkommen im zweiten Teil des Buches: Wie zum Fick ist unser Schulkanon eigentlich hierhergekommen?
Who the fuck is Faust?
Dass Goethes Faust so berühmt und wichtig für die deutsche Literatur wurde, hat im Groben zwei Gründe: Goethe und Faust. Wir wissen ja schon, dass Goethe mit Schiller einer der wichtigsten Babos49 der deutschen Literaturgeschichte war. Aber Faust ist quasi DAS deutsche Drama überhaupt. Das einzige Stück, das zum Beispiel namentlich im bayerischen Lehrplan für Gymnasien steht. Das berühmteste, meistzitierte Werk der deutschen Literaturgeschichte, auf das sich immer noch alle Literaturwissenschaftler*innen und Lehrkräfte einen runterholen. Nur wieso eigentlich?
Da haben wir als Erstes den Fauststoff. An Faust hat Goethe wirklich, wirklich lang gearbeitet. Doch nicht nur er! Das ist das Ding: Der Fauststoff ist ewig alt und war bei den Leuten sehr bekannt. Auf Wikipedia stehen einfach insgesamt über 50 literarische Werke mit Faust-Bezug, darunter eben Goethe, aber auch Thomas Mann50 und sein Sohn Klaus Mann, Storm, Heine, Hesse, Lessing, bla bla. Ungefähr alle wichtigen deutschen boys halt. Auch zum Beispiel Christopher Marlowe (der mit Shakespeare gemeinsam geschrieben hat) hat schon ein Drama über Faust verfasst. Faust ist also nicht irgendeine von Goethe erfundene Story, sondern nimmt Bezug auf eine historische Person, die die Leute über Generationen hinweg fasziniert hat.
Wer ist dieser historische Faust jetzt also? Na ja, das ist der Witz: Das weiß man nicht ganz genau. Es gab ziemlich sicher einen Dr. Johann Georg Faust, der um 1500 gelebt hat - um die Zeit spielt auch Goethes Faust. Der hat in Knittlingen in Baden-Württemberg gewohnt und war Zauberer. Jep, ich dachte auch, dass er ein super anerkannter Wissenschaftler war, wie bei Goethe....
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