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Auf den ersten Blick sah es aus, als hätten die Wölfe versucht, den Toten aufzufressen. Sie mussten entweder dabei gestört worden sein oder sie hatten aus irgendeinem anderen Grund von ihm abgelassen. Zuvor hatten sie aus dem Körper Fleischstücke gerissen.
Doch wie war der Mann in das Gehege gelangt?
Freiwillig wäre er wohl kaum von der Aussichtsplattform in den eingezäunten Bereich gesprungen, wenn er gewusst hatte, dass sich darin Wölfe befanden, und Letzteres stand für Stern außer Zweifel. Die hölzerne Konstruktion, auf der sie sich befanden, war mit zahlreichen Informationstafeln rund um das Raubtier bestückt. Der Text war in einer Größe geschrieben, dass selbst er ihn ohne Brille lesen konnte. Auch ließen die Bilder keine Zweifel aufkommen, was sich in dem Gehege befand.
Also, was war hier passiert?
»Wer hat ihn gefunden?«, fragte er Gruppeninspektor Martin Heinze, der neben ihm mit den Händen in den Hosentaschen wartete, bis sein Chef mit der Begutachtung fertig war. Der Ex-Wiener wusste, dass für Stern der erste Eindruck, den der Tatort und die Leiche auf ihn machten, besonders wichtig war, deshalb ließ er ihm dafür ausreichend Zeit. Jede Kleinigkeit war von Bedeutung, die Stern oftmals nur unbewusst wahrnahm.
»Ein Tierpfleger. Er steht dort drüben bei den Affen.« Heinze deutete auf einen Mann, der eine auffällige Erscheinung bot. Die Arme, die aus den T-Shirt-Ärmeln ragten, und die Schienbeine, die unterhalb der kurzen Hose zu sehen waren, waren mit Tätowierungen überzogen.
»Kennen wir die Identität des Toten?«, fragte der Chefinspektor weiter.
»Noch nicht. Er war kein Mitarbeiter vom Zoo, so viel steht fest. Die Kollegen hätten ihn sicher erkannt, auch wenn er ziemlich übel zugerichtet ist. Das Gesicht ist noch einigermaßen intakt, aber der Bauch . na ja.«
»Und wer sind die Leute, die dort unten die Wölfe in Schach halten?« Stern schaute auf die Frauen und Männer, die sich den Wölfen entgegenstellten, die tatsächlich Abstand hielten. Durch ihre Anwesenheit wurden zwar vermutlich Spuren vernichtet, aber zumindest konnte die Tatortgruppe ihre Arbeit verrichten.
»Die sind vom Tierpark und mit so etwas vertraut. Von uns wäre da niemand reingegangen. Wir wissen ja nicht, wie die Wölfe reagieren, immerhin haben sie bereits Blut geleckt. Vielleicht wollen sie ja einen Nachschlag«, scherzte Heinze. »Und die Wölfe betäuben kommt für die Tierparkmitarbeiter nicht infrage. Ich hab das vorgeschlagen, bin aber abgeblitzt. Sie meinen, sie hätten die Lage im Griff, sie müssten ja auch sonst immer wieder ins Gehege, um Wartungsarbeiten durchzuführen und nach dem Rechten zu sehen.«
»Ich hab mal gelesen, dass ein Wolf unter normalen Umständen keinen Menschen anfällt. Wir Zweibeiner passen nicht in sein Beuteschema«, glaubte Stern, sich zu erinnern. »Was ist da unten also passiert?«
»Das werden wir herausfinden.« Mara Grünbrecht tauchte unerwartet neben Stern und Heinze auf. Ihre schulterlangen dunkelbraunen Locken trug sie zu einem Pferdeschwanz gebunden.
»Wo ist Tobias?« Stern hielt nach seinem Enkel Ausschau. Eigentlich hatte er erwartet, dass sich die Kollegin um den Jungen kümmern würde, solange er hier zu tun hatte.
»Ich hab eine nette Polizistin gebeten, auf ihn aufzupassen. Die beiden erkunden den Tierpark. Keine Sorge, er wird nichts mehr von dem hier mitkriegen.« Grünbrecht deutete hinab auf die Leiche. »Aber wieso hast du ihn überhaupt mitgenommen?«, fragte sie vorwurfsvoll. »Das ist kein Anblick für einen Elfjährigen.«
»Was hätte ich denn tun sollen? Er war heute bei mir, weil Barbara und Melanie shoppen gegangen sind, um ihr Mutter-Tochter-Verhältnis zu verbessern. Die beiden streiten in letzter Zeit nur noch. Melanies pubertäre Ausbrüche sind ziemlich heftig. Und wenn ich das jetzt zunichtegemacht hätte, weil ich nicht auf Tobias aufpassen kann, dann . dann .« Stern rang nach den passenden Worten, die seine Zwangslage erklärten. Denn natürlich hatte er ein schlechtes Gewissen.
»Dann wirst du nicht zum Großvater des Jahres gewählt«, beendete die Gruppeninspektorin den Satz.
Stern seufzte. »So in etwa.«
»Wer will zum Großvater des Jahres gewählt werden?«, fragte eine Stimme hinter den Kriminalbeamten, die sich allesamt umwandten. Dominik Weber betrat die hölzerne Aussichtsplattform und grinste Stern schelmisch an. »Doch nicht etwa du?«
Begleitet wurde der Gerichtsmediziner von Hermann Kolanski, der mit verwaschener Jeans und schwarzer Lederjacke eher wie ein Rocker wirkte als ein Gruppeninspektor vom Landeskriminalamt. Außerdem verstärkten seine nach Sterns Geschmack zu langen, an den Schläfen ergrauten Haare diesen Eindruck. »Von Tobias bekämst du sicher eine Eins«, sagte Kolanski. »Als wir gerade an ihm vorbeigegangen sind, hab ich gehört, wie aufgeregt er ist, dass du ihn hierher mitgenommen hast. Ich will gar nicht wissen, was du dir dabei gedacht hast. Er wird in der Schule allen davon erzählen und der Star sein, auch das hat er gesagt. Von deiner Tochter gibt es dafür allerdings einen glatten Fünfer. Tut mir leid, Großvater des Jahres wirst du nicht.« Mitleidig klopfte er Stern auf die Schulter und trat an das Geländer heran, um einen Blick in die Tiefe zu werfen. »Geh leck!«, stieß er ob des Anblicks, der sich ihm bot, aus.
Der Chefinspektor verzog leidend das Gesicht. Dass sich nun alles um Tobias und ihn drehte, hatte er nicht gewollt. Deshalb antwortete er spitz: »Schön, dass ihr auch endlich da seid.« Und an Weber gewandt fügte er hinzu: »Dein Patient wartet dort unten auf dich.«
»Dass Tote warten, höre ich zum ersten Mal«, konterte Weber.
»Aber die Wölfe tun es.« Stern machte den Gerichtsmediziner auf die Tiere aufmerksam, die das Geschehen in ihrem Revier beobachteten. Auch wenn die Leute vom Tierpark sie fernhielten, würde er sich hüten, dort hinabzusteigen und sich den Toten aus der Nähe anzusehen. Doch Weber musste da jetzt runter. Darum beneidete er ihn keinesfalls.
»Mir bleibt auch nichts erspart«, murmelte der Gerichtsmediziner und verließ die Plattform, um in das Gehege durch eine Gittertür im Zaun ein Stück unterhalb zu gelangen.
Stern wandte sich ab und bat Grünbrecht, den Tierpfleger herzuholen, der den Toten entdeckt hatte. Ihn wollte er als Erstes befragen, die anderen Mitarbeiter des Parks sollten Kolanski und Heinze übernehmen.
»Wie heißen Sie?«, fragte er den Mann, als dieser in Begleitung der Gruppeninspektorin auf ihn zukam.
»Eduard Grückel«, antwortete der Tierpfleger, der nicht nur tätowiert, sondern dessen Körper ein Gesamtkunstwerk war. Die Haare waren auf der einen Seite kurz geschoren und auf der anderen zu kleinen Zöpfen geflochten, die wiederum zu einem großen zusammengebunden waren. Wahrscheinlich, damit sie ihm bei der Arbeit nicht ins mehrfach gepiercte Gesicht fielen.
»Erzählen Sie uns, wie Sie die Leiche entdeckt haben«, forderte Stern den Mann auf, bemüht, ihn nicht anzustarren. Auch wenn viele Leute Vorurteile gegenüber Menschen mit derartigem Aussehen hatten und sich vor ihnen fürchteten, wusste er, dass der Großteil der Verbrechen von unauffällig wirkenden Individuen verübt wurde. Oftmals waren es die lieben, netten Nachbarn, die ein Doppelleben führten.
»Wie ich in der Früh meine Runde g'macht hab, um nachz'schauen, ob eh alles in Ordnung ist und wir den Tierpark aufsperren können, hab ich ihn da unten liegen sehen.« Mit dem Kopf deutete der Tierpfleger in die entsprechende Richtung.
»Kennen Sie den Toten?«
»Ich weiß es ehrlich g'sagt net, so genau hab ich mich net hinschaun g'traut. Aber von uns ist das keiner, da bin ich mir sicher. Die Kollegen sind nämlich alle da, und der Chef ist gerade bei einem Termin. Aber ob das einer von den Nachbarn ist, kann ich net sagen, weil der hat lebend sicher anders ausg'schaut als jetzt.« Grückel fuhr sich mit der Hand über die Seite mit den kurz geschorenen Haaren, was sein Unwohlsein verriet.
Kein Wunder, dachte Stern, ein schöner Anblick war der Tote freilich nicht, doch das Unbehagen seines Gegenübers könnte genauso gut davon herrühren, dass der Mann etwas mit der Sache zu tun hatte. Durch die Geste mit der Hand entdeckte der Chefinspektor in der Fülle der Tätowierungen einen Wolf. Die Wahl des Motivs lag gewiss daran, dass der Mann hier arbeitete. Stern vermutete keinen Hinweis auf die Todesursache des Opfers darin, denn er machte noch andere Tiere auf der Haut des Befragten aus. »Können Sie sich vorstellen, wie er in das Gehege gelangt ist?«
»Der ist sicher von da runterg'stürzt, anders kann ich mir das net erklären.« Eduard Grückel deutete auf das Geländer.
»Und die Wölfe? Wie reagieren die, wenn plötzlich ein Mensch in ihr Revier fällt?«
»So genau kann man des net sagen. Unsere Wölfe sind zwar in einem Tierpark geboren, trotzdem sind es wilde Tiere. Ich vermute, dass der arme Kerl was g'habt hat, ich meine, eine offene Wunde, aus der Blut g'flossen ist. Entweder hat er sich die bei dem Sturz zu'zogen, oder er war vorher schon verletzt und ist deshalb überhaupt erst da runterg'fallen. Und dann sind die Wölfe auf ihn los'gangen. Die kennen uns Menschen ja, die wissen, dass wir das Futter bringen und net das Futter sind. Wölfe sind intelligente Tiere. Aber wenn da Blut ist, kann ihr Instinkt angesprochen werden und sich ihr Verhalten ändern.«
»Mit was werden die Tiere bei Ihnen gefüttert?«
»Vor allem mit Rindfleisch, aber auch mit verunfalltem Wild. Am meisten mögen's den Pansen von den...
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