Schweitzer Fachinformationen
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»Liebenau? Noch nie etwas davon gehört.« Etwas unwillig saß Chefinspektor Oskar Stern auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch seines Vorgesetzten am Landeskriminalamt in Linz. Heute begann die Fußballweltmeisterschaft. Da wollte er nicht weg! Er hatte sich schon auf einen gemütlichen Fernsehabend daheim in seiner Wohnung in der Herrenstraße gefreut. Und jetzt? Jetzt teilte ihm sein Chef mit, dass sie einen neuen Fall hatten. »Liebenau«, wiederholte er konsterniert. »Wo liegt das überhaupt?« Er bemühte sich auch gar nicht erst, seinen Unwillen zu verbergen. Ein unauffälliger Blick auf seine Armbanduhr ließ ihn wissen, dass es bereits früher Nachmittag und das fehlende Mittagessen wahrscheinlich mit ein Grund war, warum er so schlechte Laune versprühte. Seine Speiseröhre krochen Laute empor, die dem Brummen eines Bären ähnelten. Reflexartig zog er seinen fülligen Bauch ein, was an den Geräuschen jedoch nichts änderte.
»Liebenau ist eine Marktgemeinde im Bezirk Freistadt, nicht einmal 70 Kilometer von Linz entfernt, und hat im Moment wahrscheinlich mehr Fernsehgeräte als Einwohner«, antwortete Bormann in Hinblick auf die beginnende Fußballweltmeisterschaft. Scheinbar hoffte er, den Chefinspektor mit derartigen Aussichten etwas milder stimmen zu können.
Stern kramte in seinem Gehirn nach Erinnerungen. Er hatte das bestimmte Gefühl, als wenn er über dieses Liebenau schon einmal etwas gelesen hätte, dass es ein beschauliches Erholungsdorf sei oder Ähnliches. Na toll!
»Dort gibt es doch sicher nicht einmal Strom. Wie soll dann ein Fernseher funktionieren?«, nörgelte er weiter. Erinnerungen an einen Urlaub, der bereits mehrere Jahre zurücklag, wurden schlagartig wachgerufen. Damals hatte er mit seiner nunmehr geschiedenen Frau Franziska einen Urlaub auf einer steirischen Almhütte verbracht. Einer Almhütte ohne Strom und jeglichen Luxus für Menschen, die genau das wollten. Wie hätte er wissen sollen, dass er so etwas nicht wollte? Eine Woche lang ohne Strom zu sein hatte anfangs geklungen wie ein Abenteuer, ein Hindernisparcours, eine Herausforderung. Und obwohl er Herausforderungen dieser Art hasste, hatte er sich Franziska zuliebe auf eben diese eingelassen. Hätte er damals schon gewusst, dass dem Urlaub eine Scheidung folgte, wäre er zum Nordpol gefahren und hätte dem Weihnachtsmann beim Stricken der Norweger-Pullis geholfen.
»Sie werden überrascht sein, Stern, was die in Liebenau alles haben«, riss der Leiter des Landeskriminalamtes den Chefinspektor aus dessen Erinnerungen, stand auf und setzte sich vor ihm auf die Schreibtischkante. »Kolanski und Mirscher sind im Krankenstand. Kolanski wegen seines gebrochenen Beines, und Mirscher hat einen Magen-Darm-Infekt. Bis die beiden wieder fit sind, haben Sie den Fall längst aufgeklärt. Und sonst hab ich niemanden, den ich schicken kann. Aber ich habe Ihnen und Grünbrecht bereits im besten Gasthaus des Ortes ein Zimmer reservieren lassen.«
Stern brummte, was so viel hieß, dass Bormann ihn kreuzweise konnte. Dass die beiden Kollegen Mirscher und Kolanski zur selben Zeit ausfielen, war schon Pech. Er stemmte sich aus dem Stuhl und trottete wie einer, der zum Schafott geführt wurde, zur Tür.
»Ach, Stern .«, rief der Dienststellenleiter ihm hinterher.
»Ja?« Der Chefinspektor wandte sich noch einmal um.
»Vergessen Sie nicht, auch etwas Warmes einzupacken. Die Nächte im Mühlviertel können sogar im Juni noch rau sein.« Bormann grinste verhalten.
Stern murmelte etwas Unverständliches. Dann fiel die Tür hinter ihm ins Schloss.
Eineinhalb Stunden später fuhren er und Gruppeninspektorin Mara Grünbrecht in Sterns grauem Audi A6 auf der S10 in Richtung Freistadt, oder besser gesagt: sie krochen in Richtung der als Kultur- und Braustadt bekannten Mühlviertler Provinzmetropole. Sterns Fahrgeschwindigkeit glich nach Grünbrechts Dünken einer Schnecke beim Mittagsschlaf. Sie selbst liebte es, ein wenig rasanter durchs Leben zu fahren.
»Wenn Sie nicht ein bisschen aufs Gas steigen, fängt die Leiche noch an zu verwesen, bevor wir dort sind«, stichelte sie schon nach zehn Minuten Fahrzeit.
»Wieso haben Sie es denn so eilig?«, fragte Stern. Beim Autofahren gab es nichts, was ihn aus der Ruhe brachte. Außer Dominik Weber, dem Gerichtsmediziner, der aus jeder Fahrt zu einem Tatort ein Wettrennen veranstaltete. Aber selbst das war Stern heute egal. Er wollte die Fahrt ins Mühlviertel zumindest genießen, wenn er sie schon nicht hatte verhindern können.
»Von Eile kann ja wohl kaum die Rede sein«, antwortete Grünbrecht und blickte sehnsüchtig auf die Wagen, die links an ihnen vorüberzogen. Stern gewann den Eindruck, als wenn sie sogar in den Beifahrersitz sänke, um nicht von einem der vorbeirasenden Lenker erkannt zu werden.
»Dafür kommen wir sicher an unserem Ziel an«, rechtfertigte er sein Tempo und dachte, dass diese jungen Dinger es doch immer so eilig hatten. Mara Grünbrecht war gerade mal 36 Jahre alt. In diesem Alter war man noch ungestüm und wild, und das war auch gut so. Er hingegen war 59 und hatte die Sturm-und-Drang-Zeit längst hinter sich. »Und so schnell fängt eine Leiche nun auch wieder nicht zu verwesen an.«
Recht viel hatte der Dienststellenleiter Stern wegen des provinziellen Mordes nicht gesagt, außer, dass die Spurensicherung bereits zum Tatort unterwegs sei und er sich sputen müsse. Natürlich kannte auch der Dienststellenleiter Sterns Fahrweise, aber der eigentliche Grund, warum er ihn gedrängt hatte, war der hiesige Bestatter, der die Leiche so schnell wie möglich vor den Augen der Neugierigen verschwinden lassen wollte. Irgendetwas von mysteriös und diabolisch hatte er noch gemeint, dann aber gesagt, Stern solle sich am besten selber ein Bild machen.
In Freistadt fuhren sie von der S10 ab und nahmen die Böhmerwald Straße Richtung Sandl. Nach einer Dreiviertelstunde verließen sie die selbige in Schönberg nahe der Grenze zu Niederösterreich und bogen einem Schild folgend auf eine schmale Seitenstraße ab. »Liebenau, 9 Kilometer«, stand auf dem Wegweiser. Die Harrachstaler Bezirksstraße führte die Inspektoren durchs hügelige Mühlviertel. Sattgrün und sanft breiteten sich Wiesen, Felder und jede Menge Wald neben der Straße aus. Stern war von dem Anblick fasziniert, und seine Laune besserte sich von Kilometer zu Kilometer, den sie zurücklegten. Auch wenn er Linz mit allem, was dazugehörte, liebte, die Linzer Landstraße mit ihren unzähligen Geschäften, die Altstadt und ihre Lokalitäten, so wirkte der Anblick der hügeligen Landschaft auf eine bestimmte Art befreiend auf ihn.
»Kaum zu glauben, dass es bei uns so schön ist und alle immer nur im Süden Urlaub machen wollen«, kam auch Grünbrecht zu dem gleichen Ergebnis.
»Ich mach keinen Urlaub im Süden«, erwiderte Stern.
»Sie machen überhaupt keinen Urlaub, Chef. Weder im Süden noch im Norden und schon gar nicht im Westen oder im Osten.«
»Ich hab bald nur noch Urlaub, Grünbrecht.«
»Das nennt man Ruhestand, Chef.«
»Ist doch irgendwie dasselbe.«
»Spüre ich da etwa so etwas Ähnliches wie eine vorzeitige Altersdepression?«, fragte die Gruppeninspektorin.
Stern verdrehte die Augen. »Altersdepression? Wo haben Sie das denn her?«
»Ich meine ja nur«, verteidigte sich Grünbrecht, da sie keinen fundierten Beweis für ihre Behauptung vorweisen konnte. Aber gelesen hatte sie mal etwas darüber.
Stern, dem das Gespräch über seine Altersdepression unangenehm war - ob er nun eine hatte oder nicht -, sah endlich ein Ortsschild in Sichtweite rücken. Er blinzelte und kniff die Augen zusammen, um lesen zu können, was darauf geschrieben stand. Das war auch so eine Sache. Mit zunehmendem Alter wurde seine Sehkraft schwächer. In die Ferne und in der Nähe. Er würde sich eine Brille zulegen müssen. Wahrscheinlich, wenn er im Ruhestand war. Auf gar keinen Fall früher.
»Wir sind da«, offenbarte Grünbrecht ihrem Vorgesetzten. Jetzt war klar, was auf dem Schild stand, also brauchte er gar keine Brille.
»Liebenau«, brummte er zur Bestätigung. Seiner und Grünbrechts.
Rechts am Ortsbeginn stand ein Dreiseithof, der die Ankömmlinge willkommen zu heißen schien. Gerade wurden Rinder auf einen Viehtransporter verladen, und Stern bekam sofort Appetit auf einen saftigen Rinderbraten samt Kartoffeln und Semmelknödel. So ein deftiges Mahl wäre für ihn eine kleine Entschädigung für die Reise hierher ins hügelige Nirgendwo. Es war ja längst Nachmittag, und Stern hatte seit dem Frühstück nur eine Leberkässemmel gegessen. Wie es aussah, würde es aber noch eine Weile dauern, bis er etwas zwischen die Zähne bekam, denn da war ja noch die Leiche. Die stand zwischen ihm und einer deftigen Mahlzeit. Und Grünbrecht, die, ihrer Figur nach zu urteilen, keine Zeit mit Essen vergeudete. Wahrscheinlich aß sie pro Tag nicht mehr als ein paar Salatblätter und eine Tomate.
Stern kramte in der Mittelkonsole nach einer Packung Pfefferminzbonbons und sah gerade noch aus den Augenwinkeln, wie eine schwarze Katze von links aus der Wiese gelaufen kam, die Straße querte und unter dem Wagen verschwand. Erschrocken blickte er in den Rückspiegel.
»Hab ich sie erwischt?«
»Nein«, antwortete Grünbrecht sichtlich gelangweilt. »Dafür fahren Sie nicht schnell genug. Ich hab gesehen, wie die Katze auf der rechten Seite in die Wiese gesprungen ist und sich dort gemütlich ins Gras gelegt hat.«
Erleichtert atmete Stern auf. Nach altem Volksglauben brachte es Unglück,...
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