Schweitzer Fachinformationen
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Zwei Tage zuvor. Mittwoch, 18. Dezember. Quo vadis?
Über Nürnberg lag Schnee, viel Schnee - weiße Hauben verhüllten parkende Autos, Mülltonnen und Verkehrsschilder; vereiste Gehwege machten jeden Schritt vor die Tür zu einem Abenteuer mit ungewissem Ausgang. In den Notaufnahmen drängelten sich Radiusflexionsfrakturen und Sprunggelenksdistorsionen. Der städtische Winterdienst war noch in den Herbstferien, aber die Rechtsgelehrten der zuständigen Behörde hatten das Problem pfiffig gelöst und sämtliche Treppenstufen im öffentlichen Raum mit rotweißen Absperrbändern vom Verkehrsfluss abgekoppelt. Aufsteller wiesen darauf hin, dass deren Benutzung unter Androhung eines Ordnungsgeldes strikt verboten war.
Kriminalhauptkommissar Kastner vom Dezernat Eins des Polizeipräsidiums Mittelfranken (Verbrechen gegen Leib und Leben) war prinzipiell bereit anzunehmen, dass diese Maßnahme zuvorderst dem Schutz der Bürger und erst in zweiter Linie der Abwehr lästiger Schmerzensgeldprozesse galt, aber er ließ sich ungern gängeln - was war aus dem guten alten Hinweis »Benutzung auf eigene Gefahr« geworden? Als Beamter sah er sich indes genötigt, Recht und Gesetz zu respektieren und der Umleitung zu folgen, was ihn zehn Minuten Lebenszeit und den Anschluss an die Straßenbahnlinie 5 ab Plärrer in Richtung Chris-tuskirche kostete. Kastner wohnte in der Südstadt, in der Wiesenstraße. Er wohnte schon lange dort, daher wusste er: Wer die Fünfer knapp verpasste, konnte die Strecke bis zu seiner Haltestelle genauso gut laufen.
»Schon Feierabend?«, fragte Mirjam aus der Küche.
»Hm«, brummte Kastner und zog im Flur den Mantel und die Winterstiefel aus. »Feierabend und drei Wochen Weihnachtsurlaub. Mein Chef verlangt, dass ich ein paar Überstunden abfeiere, er hat mich regelrecht dazu genötigt.« Sein Blick fiel auf eine gepackte Reisetasche, die neben der Garderobe stand. »Willst du verreisen?«
Mirjam saß am Küchentisch, ein Glas Rotwein in der Hand. Sie wartete, bis er sich ein Kellerbier aus dem Kühlschrank genommen und in einen Glaskrug dekantiert hatte, ehe sie sagte: »Ich fahre übers Wochenende mit Karla und Jutta ins Elbsandsteingebirge. Wir haben darüber geredet, Kastner. Du erinnerst dich?«
»Freilich, Hase!« Kastner küsste seine Lebensgefährtin auf die Wange und dachte fieberhaft nach. Spontan fiel ihm lediglich ein, dass Karla und Jutta Mirjams Arbeitskolleginnen waren, Mitarbeiterinnen beim Service öffentlicher Raum, der, unter anderem, für den städtischen Winter-dienst zuständig war. Alles Weitere fand er, nach einem kräftigen Schluck Bier, in tieferen Schichten seines Gedächtnisses: ein paar Tage Wellness und Digital Detox in einem sächsischen Ressort - Massagen, Sauna, Yoga und die Gelegenheit, soziale und fachliche Defizite abwesender Kolleginnen und Kollegen in Ruhe bei einem Gläschen Prosecco zu erörtern.
»Gib's zu, du hast es vergessen.« Mirjam zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch aus, dann runzelte sie die Stirn. »Dass meine Eltern über Weihnachten kommen, weißt du aber schon noch?«
Kastner, im Geiste damit beschäftigt, einen Einkaufszettel für die Zeit seines Strohwitwerdaseins zu notieren - Presssack, Stadtwurst und Bratwurstgehäck, ein paar Tiefkühlpizzen und vielleicht eine Kiste Bier mehr als üblich -, zuckte zusammen. »Deine Eltern?! Ich dachte . Wollten die Weihnachten nicht auf Madeira sein? Als ich neulich mit deiner Mutter telefoniert hab .«
»Neulich?« Mirjam lachte. »Das war im Juli, Kastner! Und es war nicht Madeira, sondern Malta. Aber egal: Der Reiseveranstalter hat Pleite gemacht, es ist noch nicht mal klar, ob sie ihr Geld zurückkriegen.«
Kastner erinnerte sich dunkel, davon schon gehört zu haben. Sein Handy klingelte. Nach einem Blick auf das Display drückte er den Anruf weg.
»Meine Eltern reisen am dreiundzwanzigsten gegen Mittag an, ich komm aber erst abends zurück«, fuhr Mirjam fort. »Es passt also ganz gut, dass du Urlaub hast. Du könn-test die beiden vom Bahnhof abholen und zuvor schon mal die Hütte putzen und ein bisschen was für die Feiertage einkaufen.«
Kastner nickte ergeben. Er mochte Mirjams Eltern, aber er würde in ihrer Anwesenheit kaum bis mittags schlafen, unrasiert im Bademantel durch die Wohnung schlurfen und mit den Füßen auf dem Couchtisch Ben Hur, Sissi und Quo vadis? schauen können.
Sein Handy klingelte erneut. Er ließ es brummen, bis die Mailbox ansprang.
»Warum gehst du nicht ran?«, erkundigte sich Mirjam. »Ist das deine Geliebte?«
»Sehr witzig, Hase. Sag mal - was gibt's zum Abendessen? Ich war heute Mittag nicht in der Kantine.« Seine
Kollegin Uli Hirschel hatte Geburtstag gefeiert und zu einem Buffet geladen, das im Wesentlichen aus einem Strauß roher Möhren mit Joghurtdip bestanden hatte. Er war kurz davor, sich selbst zu verdauen.
»Es ist noch Linseneintopf von gestern da, den brauchst du bloß aufzuwärmen. Und wenn du schon mal stehst: Vielleicht kannst du gleich ein paar Tomaten für einen Salat schnippeln?«
Kastners Laune hob sich augenblicklich. Eintopf aufwärmen und Tomaten schneiden, damit kam er zurecht . Er wusch die Tomaten und kramte in den Schubladen nach einem Schneidbrettchen und einem halbwegs scharfen Messer, als sich sein Handy zum dritten Mal meldete. Es waren nur knapp eineinhalb Meter vom Herd bis zum Küchentisch, aber Mirjam war schneller. Sie nahm den Anruf an.
»Ach«, sagte sie. »Du bist das . Jaja. Neinnein. Hm. Freilich, er war nur grad - unter der Dusche. Moment, ich reich dich weiter!«
»Danke dafür«, formte Kastner tonlos mit den Lippen.
*
»Und? Was wollte dein Kollege?«
Kastner zuckte die Achseln. Sie saßen im Schein einer Kerze am Küchentisch und aßen Linseneintopf und Tomatensalat. Vor dem Küchenfenster tanzten Schneeflocken durcheinander wie Mais in einer Popcornmaschine, nur leiser.
»Es ist nicht zufällig irgendwer irgendwo über irgendeine Leiche gestolpert?« Mirjams Misstrauen kam nicht von ungefähr: Kastner hatte schon mehr als einmal private Verpflichtungen vernachlässigt, weil das Böse keine Rücksicht auf Sonn- und Feiertage nahm.
Kastner schüttelte den Kopf. Er nahm sich Linsen nach und achtete darauf, genug von dem saftigen Räucherspeck in den Schöpfer zu bekommen.
»Warum dann der Telefonterror?«, beharrte Mirjam auf Auskunft. »Ich meine: Ich weiß, dass Felix Wernreuther etwas speziell ist, aber er ruft doch nicht dreimal in zehn Minuten an und kaut dir dann eine Viertelstunde lang das Ohr ab, nur um dir schöne Weihnachten zu wünschen?«
»Vertrau mir, Hase: Du willst es nicht wissen.«
»Und wenn doch?«
Kastner seufzte. »Es ist so: Felix Wernreuther und sein Kumpel Theo Bahlke haben an einem Kochwettbewerb teilgenommen .«
»Wernreuther hat einen Kumpel?«
»Willst du es jetzt wissen oder nicht?«
Mirjam hob die Hände.
»Die beiden haben sich im Frühjahr bei einem Volkshochschulkurs kennengelernt - Kochen wie die Kelten, oder so ähnlich. Nach dem Kurs hat Wernreuther ein Monatsgehalt in einen schmiedeeisernen Dreifuß und einen Kupferkessel investiert und ist regelmäßig zu Theo nach Mainfranken gefahren, um über offenem Feuer Hirsebrei mit Brennnesselspinat zu schmoren und Jahrgangsweine zu verkosten . Theo ist Winzer, er hat ein Weingut irgendwo bei Dings. Iphofen? Ipsheim? Wie auch immer, falls du dich für seine Marketingstrategie, seine Vertriebswege oder die Farbe seiner Schnürsenkel interessierst: Ich weiß alles darüber.«
»Bist du eifersüchtig?« Mirjam grinste, schob ihren Teller beiseite und zündete sich eine Zigarette an.
Kastner ignorierte den Einwurf. »Offenbar hat Theos Interesse an den trauten Lagerfeuerabenden nach kurzer Zeit merklich nachgelassen. Wernreuther hat die Situation analysiert und den Schluss gezogen, dass die hoffnungsvolle Freundschaft einer neuen Herausforderung bedarf . Ohne das groß abzusprechen, hat er den gemeinsamen Hut in den Ring besagten Kochwettbewerbs geworfen, und der wacke-re Theo hat sich nicht lumpen lassen. Was soll ich sagen? Die beiden haben sich bis ins Finale gekocht.«
»Klingt nach einem Happy End.«
»Tja. Wie es der Teufel will: Letzten Samstag hat sich Theo beim Snowboarden am Ochsenkopf beide Handgelenke gebrochen.«
»Shit happens.« Mirjam schenkte sich großzügig Rotwein nach, ehe sie, etwas ratlos, fragte: »Und was hast du damit zu schaffen?«
»Nichts, Hase. Absolut gar nichts. Wenn man davon absieht, dass Wernreuther mich seither rund um die Uhr bekniet, als Ersatz einzuspringen.«
Mirjam lachte glockenhell. »Wernreuther denkt, du könntest einen Riesling von einem Bordeaux unterscheiden?«
Kastner hatte sich seinem jungen Kollegen gegenüber beinahe wortgleich...
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