1
Schon nach dem ersten Blick in die Küche ahnte Selma in der Regel, welche Laune die Mutter beim Mittagstisch haben würde. Zwar gab Fina stets ihr Bestes, aus den kargen Beständen etwas zu zaubern, das zumindest annähernd die Bezeichnung »Sonntagsessen« verdiente, dennoch tat Hedda auch im dritten Jahr der Seeblockade gern so, als trüge die altgediente Köchin die alleinige Schuld an den ewigen Ersatzgerichten. Selma wäre es am liebsten gewesen, die Mutter verzichtete angesichts der schlechten Versorgungslage ganz darauf, sie und Alma einmal im Monat zum ausgiebigen Sonntagsessen einzuladen. Davon aber wollte Hedda nichts wissen. »Dann sehen wir dich und die Kleine bald gar nicht mehr«, jammerte sie los, sobald Selma das Gespräch darauf brachte. Also fügte sich Selma und putzte Alma seit ihrer Rückkehr aus dem Engadin im vergangenen Oktober jeden letzten Sonntag im Monat so fein wie möglich für den Besuch bei den Großeltern in Friedenau heraus. Dabei fuhren sie zudem mindestens einmal in der Woche nachmittags in die Wielandstraße zum Tee, und Hedda tauchte jeden zweiten Tag in der Wohnung am Charlottenburger Savignyplatz auf. »Damit dir als tapfere Leutnantsgattin nicht die Decke auf den Kopf fällt, während dein Mann seine Pflicht an der Westfront tut«, begründete sie die Besuche jedes Mal aufs Neue, obwohl sie eigentlich nur Alma sehen und so gut, wie es die Zeit zuließ, verwöhnen wollte.
An diesem letzten Junisonntag kurz vor Ende des vierten Kriegsjahres roch es jedoch nicht nach den üblichen Verlegenheitslösungen wie Grießsuppe oder Bücklinge. Stattdessen hing der lang vermisste Geruch nach Butter, Schmalz und Braten in der Luft. Selma meinte zunächst, sich das nur einzubilden, doch der stolze Blick, mit dem Fina am Herd stand und die dampfenden Töpfe beaufsichtigte, sprach Bände. An diesem Sonntag war etwas ganz entscheidend anders als sonst. Noch wusste Selma nicht, ob das gut oder schlecht war.
»Heute gibt es eine Überraschung«, posaunte Dienstmädchen Käthe in ihrem rheinischen Singsang freudestrahlend heraus, um sich sogleich einen mahnenden Schlag mit dem Küchentuch von Fina einzufangen.
»Ist Grischa wiederaufgetaucht? Sag schon, was ist mit ihm?« Selma klammerte sich mit den Fingern an der Stuhllehne fest, ihr Herz raste. Kaum wagte sie, Käthe anzuschauen, zu sehr fürchtete sie, in deren Miene die falsche Antwort zu lesen.
»Hättest du doch nur deinen Mund gehalten!«, raunzte Fina Käthe vom Herd her an. »Jetzt macht sich das arme Ding falsche Hoffnungen.«
»Warum soll ich immerzu den Mund halten? Selma erfährt es so oder so.«
»Eben drum«, beharrte Fina knapp und bückte sich nach dem Ofen, öffnete die gusseiserne Klappe einen Spaltbreit und sah mit kritischem Blick in dessen Inneres, bevor sie sich wieder aufrichtete und Selma mit tränenfeuchten Augen erklärte: »Von deinem Bruder gibt es jedenfalls nichts Neues. Leider.«
»Das heißt zum Glück aber auch, dass es nichts Schlimmes gibt«, beeilte sich Käthe hinzuzufügen. »Die Todesnachrichten verschicken sie nämlich immer noch sehr zuverlässig und schnell, auch wenn für die andere Post mal wieder eine Sperre gilt.«
»Hoffentlich hast du recht«, erwiderte Selma und legte ihr zärtlich den Arm um die Schultern. Das ältliche Mädchen wie auch die Köchin waren seit Urzeiten bei den Rosenbaums in Diensten, deshalb stand sie auf vertrautem Fuß mit den beiden.
»Die Hoffnung stirbt zuletzt«, winkte Käthe ab, entwand sich Selmas Arm und begann, am Tisch die für das Mittagessen bereitliegenden Damastservietten zusammenzurollen. Ordentlich steckte sie sie anschließend in die silbernen Serviettenringe.
»Also schon wieder eine Woche ohne Lebenszeichen von Grischa«, stellte Selma fest, schluckte die aufsteigenden Tränen hinunter und schlenderte zum Herd. Gerade wollte sie über Finas Schulter in die Töpfe spähen, da vertrieb die Köchin sie mit einem sanften Schubser. »Kindchen, du wirst auch nie erwachsen!«
»Nenn mir einen guten Grund, warum ich das tun sollte«, gab Selma zurück und setzte sich auf einen der weiß lackierten Stühle an dem Tisch in der Mitte der Küche. »Wenn ich mir die Welt der Erwachsenen anschaue, wünsche ich mir nichts sehnlicher, als wieder so klein und unschuldig zu sein wie meine süße Alma. Da müsste ich wenigstens keine Angst mehr um meinen Mann und meinen Bruder haben.«
»Ewig Kind bleiben geht nun mal nicht«, stellte Fina lakonisch fest und rührte emsig Mehl in die Kasserolle.
»Mach dir mal nicht immer so viele Sorgen«, erklärte Käthe unterdessen und legte Selma tröstend die Hand an die Wange. »Wirst schon sehen: Bald spazieren beide quietschvergnügt zur Tür herein und haben einfach nur keine Zeit gehabt zum Schreiben. Wenn die an der Westfront jetzt wieder so eifrig die Franzosen angreifen, kommen sie einfach nicht dazu, was nach Hause zu schicken.«
»Käthe hat recht«, stimmte Fina zu. »Die haben alle Hände voll damit zu tun, doch noch den Sieg für den Kaiser zu erringen. Das kann man jetzt jeden Tag in der Zeitung lesen.«
»Wenn also von Grischa nichts kam, was gibt es dann als freudige Überraschung?«, kam Selma auf den Beginn ihres Gesprächs zurück und versuchte, alle anderen Gedanken an Gero und Grischa tatsächlich für eine Weile aus ihrem Kopf zu verbannen.
»Ach, Kindchen, wir wollen deinem Vater nicht die kleine Freude verderben. So viel bleibt ihm ja nicht mehr«, winkte Fina von neuem ab. »Nur eines kann ich dir verraten: Zur Feier des Tages gibt es etwas Ordentliches zu essen.«
»So?« Auf einmal fühlte Selma sich müde. Die Aussicht auf ein »ordentliches Essen«, wie Fina es nannte, weckte weder Freude noch Appetit bei ihr. Es gelang ihr einfach nicht, die quälenden Sorgen zu vergessen, nicht einmal für kurze Zeit. Seit fast zwei Wochen waren Geros Karten überfällig. Auch wenn er nur mehr knappe Nachrichten schrieb, so meldete er sich seit seiner Rückkehr an die Front im letzten September doch wenigstens regelmäßig. Grischa war da anders, aber der war auch weder Ehemann noch Familienvater und als Flieger ohnehin in einer weitaus besseren Position, zumindest behauptete er das selbst bei jeder Gelegenheit.
»Nun zieh mal nicht immerzu so ein trauriges Gesicht«, mahnte Fina, legte den Kochlöffel beiseite und kam, sich die geröteten, feuchten Hände an der Schürze abwischend, zum Tisch herüber. »Du hast wenigstens von deinem Gero ein süßes kleines Töchterchen, das dir jeden Tag aufs Neue Sonnenschein ins Haus bringt. Schon allein für die Kleine musst du mehr lachen, und erst recht für deine Eltern, denn die haben gerade wirklich nicht viel, woran sie sich noch freuen können.«
»Irgendetwas aber müssen sie doch gerade haben, wenn sie dich hier etwas Besonderes kochen lassen«, versuchte Selma erneut, ihr endlich das Geheimnis zu entlocken.
»Ach, so besonders ist das eigentlich nicht«, winkte Fina ab. »Vor dem Krieg hätte man da kein großes Aufheben von gemacht. Es sind einfach nur Kartoffeln mit Butter und ein Stück Fleisch, das man mit viel Nachsicht als Gulasch bezeichnen kann. Was hätte ich gern mal wieder einen richtig schönen Sauerbraten mit Rosinen und Klößen im Topf, aber daran ist die nächsten Jahre wohl nicht mehr zu denken.«
»Sosehr ich deinen Sauerbraten liebe, aber bei dir schmeckt selbst eine Brennsuppe wie ein Festmahl!« Selma fiel der grauhaarigen Köchin um den Hals und drückte ihr einen dicken Kuss auf die faltige Wange. Verschämt wischte sich Fina mit dem Zipfel des Handtuchs darüber, das beim Kochen immer an ihrer Schürze steckte.
»Ihr beide seid einfach wunderbar! Immer wenn ich bei euch in der Küche sitze, geht es mir besser.« Selma umarmte auch Käthe. Wie bei Fina so spürte sie auch bei ihr, wie stark sie in den letzten Jahren abgemagert war. Beide Frauen waren ursprünglich einmal recht füllig gewesen. In den letzten Jahren aber war ihnen nicht nur das Haar unter der Dienstmädchenhaube schütter geworden, auch der Speck auf den Rippen war wie bei fast allen anderen im Land nur so dahingeschmolzen. Ihren liebevoll-mütterlichen Wesen taten die hagereren Gestalten und eingefallenen Wangen keinerlei Abbruch. Sie hatten einfach immer die richtigen Worte parat, um Selma über den größten Kummer hinwegzutrösten.
»Wo steckt überhaupt dein Kindchen?«, erkundigte sich Fina und putzte sich übertrieben eifrig die Brillengläser, was, wie Selma wusste, eine reine Verlegenheitsgeste war, um ihre Rührung zu überspielen.
»Mama hat sie gleich an der Haustür in Beschlag genommen«, erwiderte Selma. »Sie wollte ihr mein altes Puppenhaus zeigen.«
»Wenn es nach deinem Vater gegangen wäre, hätte sie das erst zu Weihnachten bekommen.« Nach einem lauten Schneuzen steckte die Köchin das Taschentuch unter ihre weiße Spitzenschürze. »Das hätte ich auch richtig gefunden.«
Sie kehrte zu dem großen gusseisernen Herd zurück, der zwischen den beiden Fenstern unter einer riesigen Esse stand, und hob abermals die Deckel auf den Töpfen an, kontrollierte aufmerksam, damit keine der kostbaren Speisen anbrannte.
Das Essen war wie immer längst fertig. Einzig Heddas Befehl zum Auftragen stand noch aus. Der würde erst erfolgen, sobald Meta eingetroffen war. Die aber ließ gern auf sich warten, schon allein um die Geduld ihrer Tochter auf die Probe zu stellen und ihr die eigene Unangepasstheit an die preußische Genauigkeit zu demonstrieren. Als gebürtige Wiesbadenerin, die seit bald vierzig Jahren an der Spree lebte, betonte sie nach wie vor gern diesen kleinen, aber feinen Unterschied, noch dazu, wo sie sich als Künstlerin sah. »Seit wann halten sich Künstler an Termine?«, lautete einer ihrer Lieblingssprüche.
»Weihnachten wäre auch...