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Längst war das elektrische Licht im Festsaal eingeschaltet, ein unverhoffter Luxus angesichts der sonst herrschenden Einschränkungen. Vor dem dunklen, trägen Band des Rheins und den schattigen Hügeln des Siebengebirges verwandelten sich die Glasscheiben der doppelflügeligen Fenster in bodentiefe Spiegel. Im Näherkommen betrachtete Selma die sich darin abzeichnende eigene Gestalt mit Neugier. Der kriegsbedingte Mangel an Nahrung wie auch die veränderte Mode taten ihr gut, wie sie zynisch feststellte. Ersteres sorgte naturgemäß für eine schlankere Figur und Letzteres für völlig neue Möglichkeiten, die hervorzuheben. Das champagnerfarbene Kleid aus Seide stammte noch aus Vorkriegsbeständen. Die Schneiderin hatte den Ballen des inzwischen in Deutschland verpönten Stoffes aus ihrem Lager gezaubert. Sie war sich mit Selma einig gewesen, nur daraus eine angemessene Festgarderobe für Josephs sechzigsten Geburtstag nähen zu können. Bis zu den Oberschenkeln war das Kleid schmal geschnitten, um danach in vier tief angesetzten Kellerfalten aufzuspringen. Der einfach gefasste V-Ausschnitt wie auch die eng gehaltenen, sich ab dem Ellbogen nach unten trichterförmig öffnenden Ärmel betonten die Schlichtheit, die den Reiz des Ensembles ausmachte. Eine lange, locker fallende Perlenkette sowie helle, farblich exakt auf das Kleid abgestimmte Schuhe, die ebenfalls noch aus besseren Zeiten übrig waren, unterstrichen das. Je näher Selma den Fenstern kam, desto deutlicher erkannte sie in den spiegelnden Glasscheiben auch ihr Gesicht. Dank der zu einer weichen Nackenrolle aufgesteckten Haare wirkte ihr Hals lang, die Haut elfenbeinfarben, was dem harten Licht im Raum zuzurechnen war. Die dunkel umrandeten hellblauen Augen hoben sich umso deutlicher aus dem schmal gewordenen Antlitz hervor.
»Lass uns nach oben gehen, Liebster, ich bin müde«, raunte sie Gero ins Ohr, legte ihm den Arm um die Hüfte und lehnte ihre Wange gegen seine Schulter.
Seinen Blick suchend, schaute sie ins Fenster. Er trug Zivil. In dem Smoking, den er sich im Frühjahr 1914 passgenau auf den Leib hatte schneidern lassen, wirkte er verloren. Seither hatte er wertvolle Pfunde verloren. Selbst der Kragen war ihm zwei Fingerbreit zu weit. Die Wangen waren eingefallen, die weichen, hellen Lippen blutleer, und das blonde Haar wirkte trotz Brillantine stumpf.
Ihre Blicke trafen sich. In seinen Augen lag ein verstörender Ausdruck. Nicht einmal an jenem Maiabend vor bald drei Jahren, als sie nach wochenlanger Entfremdung wieder zueinandergefunden hatten, hatte er derart apathisch ausgesehen. Oder sollte sie besser sagen: ausgebrannt? Ja, das traf es auf den Punkt. Sein Blick schien erloschen wie der Draht einer Glühbirne, der man den Strom abgedreht hatte. Dabei hatte er einmal vor Energie und Tatendrang nur so geglüht. Allzu lange war das noch nicht her. Kurz flackerte die Erinnerung an jenen letzten Sommer in Baden-Baden in ihr auf, in dem er den schmierigen Freiburger Doktor Schlüter im Tennis besiegt und anschließend einige berauschende Nächte lang im Bett ausgekostet hatte.
So bitter es für sie war, glaubte sie mittlerweile zu wissen, dass er solche Fluchten in die verbotene Welt der Männerliebe brauchte. Schließlich war er nach der Affäre mit Schlüter ebenso wie nach der mit Ansgar Grün wieder zu ihr zurückgekehrt, leidenschaftlicher und sinnlicher denn je, vor Lebens- wie vor Liebeslust gleichermaßen strotzend.
Was aber war in den knapp anderthalb Jahren danach mit ihm geschehen? Natürlich war es kein lustiges Abenteuer, als Soldat an der Westfront zu stehen. In seinem zweitägigen Fronturlaub im letzten Herbst hatte er so manches Üble angedeutet. Grausamkeiten hatte er zuvor schon von der Ostfront berichtet. Derart erschüttert wie in diesem Januar war er allerdings noch nie gewesen. Er musste inzwischen Unfassbares erlebt haben, anders war sein Verhalten nicht zu erklären. Sie fasste nach seinen Händen. Sie waren eiskalt.
»Lass uns tanzen«, wisperte sie ihm ins Ohr und zog ihn vom Fenster weg. Widerstrebend folgte er ihr. Ihre Finger umschlossen seine Hand fester, als fürchtete sie, er würde sich doch noch losreißen. Zielstrebig steuerte sie die hintere Ecke des Saales an, in der das Grammophon auf seinen Einsatz wartete. Ein Diener im schwarzen Frack erwartete ihren Musikwunsch. Eigentlich lag ihr der Tango schon auf der Zunge, dann aber entschied sie sich für einen Walzer aus der Csárdásfürstin.
»Erinnerst du dich an deinen letzten Fronturlaub?« Sie zwinkerte Gero zu. »Wie haben wir die Aufführung im Theater am Schiffbauerdamm genossen! Die ganze Nacht hast du die Melodien nachgepfiffen, und wir haben im Salon getanzt, bis uns die Füße schmerzten.«
Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, hoffte, das würde ihn aus seiner Lethargie reißen. Immerhin hatten sie in jener Nacht noch einiges mehr miteinander getan, als nur in den neuesten Operettenmelodien zu schwelgen. Entschlossen umfasste sie seine Taille, hob den Arm und wollte den ersten Walzerschritt setzen, da ließ sie ein munterer Ausruf herumfahren.
»Mama, Papa! Liebstes Schwesterherz!« Grischa stürmte in den Saal, warf einem Diener achtlos seine Fliegermütze zu, drückte einem zweiten den schweren Uniformmantel in die Hand. Die Arme weit ausgebreitet, stürzte er sich auf die am Tisch sitzende Hedda und fiel ihr um den Hals, wandte sich dann an den Vater und gratulierte ihm mit Handschlag und einer tiefen Verbeugung. Im Aufrichten fixierte er Selma, die mit Gero an der Hand dastand und ihn musterte. Fröhlich lief er zu ihr und drückte sie ebenfalls an seine Brust.
»Du bist ja eiskalt, mein Kleiner«, stellte sie fest und befreite sich aus seinen Armen. Neugierig betrachtete sie ihn aus der Nähe. Obwohl er schon vier Jahre lang Flieger war, erst als Aufklärer, dann als Jagdflieger, seit einigen Monaten sogar in der heldenhaften Jagdstaffel flog, hatte er seine jungenhafte Schlaksigkeit behalten. Es rührte sie, in ihm noch immer den drei Jahre Jüngeren zu erkennen, der ihr als großer Schwester blindlings bei allen Schandtaten ergeben war. Einzig die Erfrierungsnarben im Gesicht zeugten davon, wie weit die Zeiten kindlicher Unschuld auch für ihn zurücklagen.
»Deiner Nase wird man wohl auf ewig ansehen, welch unwirtlichen Bedingungen sie oben in der Luft ausgesetzt ist«, stellte sie bedauernd fest.
»Dabei war der Winter erst richtig mild. Anfang des Jahres haben an der Bergstraße schon die Mandelbäume geblüht«, erwiderte er. »Ich hatte Hoffnung, die alten Narben würden darüber verblassen. Seit einigen Tagen aber sieht es danach aus, als wollte dieser Januar hier im Westen ähnlich arktisch werden wie 1915 an der Ostfront. Was meinst du, lieber Schwager?«
Zustimmung heischend klopfte er Gero auf die Schulter. Der drehte sich ostentativ ab, um ein silbernes Zigarettenetui aus der Seitentasche zu ziehen und sich eine Zigarette zwischen die Lippen zu stecken. Sofort eilte der Diener vom Grammophon herbei und reichte ihm Feuer. Den ersten Zug übertrieben in die Länge ziehend, betrachtete Gero Grischa. Trotz der Leutnantabzeichen an seinen Schulterstücken wirkte Grischa gegen ihn wieder wie der einfältige kleine Abiturient, genau wie im Sommer 1914.
»Hast du noch eine?«, fragte Grischa. Wortlos reichte Gero ihm das Etui und ging zum Fenster zurück. Die linke Hand locker in der Hosentasche, zwischen den Fingern der rechten die Zigarette stellte er sich wieder ebenso breitbeinig vor die Scheiben wie vorhin. Als gäbe es nichts Wichtigeres als die Betrachtung des dunkel schimmernden Rheins, verharrte er dort schweigend.
Selma fragte sich, was er dort draußen im Dunkeln eigentlich sah. Schiffe fuhren nur noch wenige. Seit der Blockade gab es kaum noch Warentransporte, außerdem behinderte das zunehmende Treibeis den letzten Rest des Schiffsverkehrs. Würde Gero nicht gelegentlich den Arm heben, um an der Zigarette zu ziehen, konnte man denken, er wäre ebenfalls zu Eis erstarrt.
»Wie schön, dass du es doch noch hierher geschafft hast, mein Junge.« Joseph kam zu den Geschwistern und legte ihnen die Hände auf die Schultern. Hektisch zog Grischa noch zwei-, dreimal an der Zigarette, dann warf er sie achtlos in einen Aschenbecher und schaute seinen Vater stolz an.
»Der sechzigste Geburtstag meines alten Herrn hat meinen Hauptmann davon überzeugt, mir zwei Tage Sonderurlaub zu gewähren. Nachdem Richthofen vor zehn Tagen der Pour le Mérite ans Revers geheftet wurde, sind wir Flieger in Feierlaune. Was sagt ihr zu dem tollkühnen Burschen? Ein wahrer Teufelskerl! Der Franzmann sollte sich warm anziehen, wenn er uns noch lange die Stirn bieten will.«
Vergnügt rieb er sich die Hände, schaute sie alle der Reihe nach an, bevor er scheinbar unbeschwert weiterplapperte: »Unseren roten Baron neiden uns alle. Nach Immelmanns und Boelckes Tod war die Stimmung unter uns Fliegern am Boden, Richthofen aber hat uns wieder aufgebaut. Dank ihm wissen wir wieder, was wir draufhaben. Boelcke hat uns gelehrt, wie stark wir in unseren Formationen sind, und Richthofen zeigt uns, wie wir die Entente mit unserer Kühnheit das Fürchten lehren. So ein Luftkampf ist eben doch etwas anderes als das grausige Scharmützel am Boden. Wenn die Franzosen und Engländer unsere bunt gestrichenen Maschinen am Himmel entdecken, wissen sie, was die Stunde geschlagen hat. Wir holen uns einen Sieg nach dem anderen. Ihr kennt die langen Listen unserer Erfolge. Täglich werden es mehr. Unter uns ist ein regelrechter Wettkampf ausgebrochen. Jeder will ganz oben auf der Liste mit den meisten Abschüssen rangieren. Richthofen aber hat die Latte ziemlich hoch gelegt.«
Er lachte, fuhr mit den Händen in die...