18
Ein mulmiges Gefühl beschlich Selma, als sie den Schlüssel im Schloss zu Geros Wohnung umdrehte.
»Du kommst spät«, empfing er sie noch im Flur. Es schien, als hätte er direkt hinter der Tür auf sie gewartet. Längst trug er seinen Frack, wenn auch die Weste noch offen stand und die losen Enden der Fliege ungebunden um den Hals lagen.
»Auf den Straßen war viel los. Stell dir vor, mitten auf dem Kurfürstendamm stand ein von zwei Ochsen gezogenes Fuhrwerk quer und hat den gesamten Verkehr .«
»Spar dir deine Ausflüchte«, unterbrach er sie barsch und klappte seine goldene Taschenuhr auf, warf einen verärgerten Blick darauf. »Um acht müssen wir bei Bernruth in der Bismarckstraße sein.«
Er begleitete diese knappe Ansage mit einem Hochziehen der linken Augenbraue, bevor er den Deckel der Uhr mit einem lauten Klacken wieder zuschnappen ließ. Fehlte nur noch, dass er die Nase rümpfte, als er ihren Aufzug musterte. Sein Urteil über ihr lanvinblaues Frühlingskostüm fiel offenbar vernichtend aus.
»Wie du weißt, kann der Alte Unpünktlichkeit auf den Tod nicht ausstehen.«
Damit wandte er sich ab und machte, die Hände auf dem Rücken verschränkt, einige Schritte von ihr weg.
»Warum fährst du nicht allein zu ihm und erzählst ihm irgendeine Geschichte von wegen ich wäre plötzlich erkrankt oder dergleichen?«, fragte sie. Sie war froh, dass Gero das Personal fortgeschickt hatte. Wenn er diese Laune hatte, mochte sie keine Zeugen um sich wissen. »Wahrscheinlich hat dein alter Sozius eh nur die üblichen Griesgrame um sich versammelt. Bestimmt kommt der Glatzkopf Gersfeld mit seiner schwerhörigen Gattin, Baron von Gütlingen sowieso, und auch die Hammersteins dürften wieder mit von der Partie sein. Oder haben sich die beiden Streithähne endlich scheiden lassen? Welch ein Segen wäre das für die Berliner Gesellschaft, insbesondere für die Juristen und ihre Angehörigen, die sie bei Dinners ertragen müssen. Ich weiß leider nie, was ich mit diesen doppelkinnbewehrten Frauen reden soll, während ihr Männer euch zum Rauchen in die Herrenzimmer zurückzieht. Der Duft der Mottenkugeln, der in ihren Federboas und Pelzkrägen steckt, ist für die Damen wohl das beste Parfum. Weder für Kabarett noch für Kintopp interessieren sie sich, ganz zu schweigen von irgendwelchen Büchern oder Zeitschriften, die sie gelesen haben könnten. Und Mode ist erst recht kein Thema. Poiret und Madame Paquin halten sie für eine Champagnermarke. Das ist wohl alles nicht mehr ihre Zeit. Kein Wunder, wenn man schon beim Thronantritt des Kaisers keinen Walzer mehr getanzt hat, weil einem schon damals die schnellen Drehungen den Atem geraubt haben.«
Sie kicherte. Während sie vor sich hin schwatzte, löste sie unter dem Kinn den Knoten ihres Schals, nahm den Strohhut vom Kopf. Beiläufig äugte sie zu Gero. Halb hatte er sich wieder zu ihr umgedreht. Sie nahm das als Bestätigung, dass ihre Taktik aufging und die harmlose Plauderei seine Stimmung aufbesserte. Im Dämmerlicht des Flurs konnte sie seine Gesichtszüge zwar kaum erkennen, meinte aber, ein erstes Zucken um die weichen Lippen zu entdecken. Bis Gero plötzlich auf sie zuschoss, ihr Handgelenk so fest umklammerte, dass sie vor Schmerz aufschrie. Der Hut glitt zu Boden. Gero versetzte ihm einen achtlosen Tritt, während er sie böse anfuhr: »Rede keinen Unsinn! Du weißt genau, wie wichtig diese Menschen für mich sind. Und letztlich auch für dich. Wie sonst, glaubst du, verdiene ich mein Geld, um dir ein Auto zur Verfügung zu stellen, deine geliebten Poiret-Modelle zu kaufen und dich nahezu täglich zu deinem Amüsement bis in die Morgenstunden auszuführen, bis zur Besinnungslosigkeit mit Champagner abzufüllen und mit Austern vollzustopfen?«
»Du tust mir weh!«, presste sie zwischen den Lippen hervor. Als er nicht lockerließ, flehte sie leise: »Lass mich los. Bitte!«
Vergebens. Er drückte die Finger noch fester um ihr Handgelenk, hob es an und verdrehte ihr den Arm. Sie ging in die Knie, begann sich wie eine gequälte Kreatur vor ihm zu winden. Tränen schossen ihr in die Augen, ob vor Schmerz, Empörung oder Scham, weil sie beide sich auf einmal in einer entwürdigenden Position zueinander befanden, wusste sie kaum so recht zu unterscheiden.
Als sie in sein wutverzerrtes Gesicht sah, zuckte sie vor Schreck zurück. Einen derartigen Ausdruck hatte sie nie zuvor in seinen grünblauen Augen gesehen. Furcht überfiel sie. Plötzlich wünschte sie sich sehnlichst, er hätte Erika und Julia nicht in die Dienstbotenkammer unterm Dach geschickt. Mehr als drei Stockwerke trennte sie von ihnen. Auf ihre Hilfe konnte sie nicht bauen.
»Was hast du eigentlich den ganzen Tag gemacht? Wo hast du wieder gesteckt?« Ein weiteres Mal verstärkte er den Druck seiner Hand. Ihre Knie gaben nach, sie knickte noch tiefer ein. »Hast du dich wieder mit diesem Robert herumgetrieben, hast dich von ihm in zwielichtigen Posen ablichten lassen und dir mit ihm das Maul über die deutsche Verdrießlichkeit zerrissen?«
»Gero, bitte, du weißt nicht .«, versuchte sie abermals, ihn zur Räson zu bringen.
»Ich weiß sehr wohl, meine Liebe!«, brauste er umso lauter auf, um dann wieder die vollen, weichen Lippen zu einem gefährlich dünnen Strich zusammenzuziehen und mehr böse zu zischen, als wirklich deutlich zu artikulieren: »Im Gegensatz zu uns ist der Franzose ja ein wahrer Lebemann und weiß die Annehmlichkeiten des unbeschwerten Daseins ganz besonders hoch zu schätzen. Wie heißt es noch links des Rheins so genüsslich? Savoir-vivre - ja, davon versteht dein lieber Freund wirklich etwas. Nennt sich Künstler, aber was gehört schon groß an Kunst dazu, sich einen optischen Apparat vor die Augen zu halten und im richtigen Moment auf einen simplen Knopf zu drücken? Wovon er dagegen umso mehr versteht, ist, sich auf Kosten anderer das Leben leicht zu machen. Während die einen in ihren Büros fleißig sind und sich die Köpfe darüber zerbrechen, wie sie ihr Geld verdienen, ist unser Herr Fotograf lieber damit beschäftigt, die Frauen der hart arbeitenden Männer mit seinen Torheiten zu unterhalten. Was rede ich harmlos von >unterhalten<? Wir beide sind doch stets offen miteinander. Erwachsen sind wir sowieso. Da kann ich die Dinge also ruhig beim Namen nennen und es dir rundheraus auf den Kopf zusagen: Ins Bett zerrt er dich und vögelt dich, bis dir der Verstand aus den Ohren .«
Patsch! Eine laut schallende Ohrfeige unterbrach seine Boshaftigkeit. Verdutzt gab er ihren Arm frei, legte sich die Hand auf die schmerzende Wange und verstummte.
Sie war nicht weniger verwundert als er. Es war ihr ein Rätsel, wie sie es geschafft hatte, trotz der misslichen Lage, in die er sie gebracht hatte, mit der linken Hand so weit auszuholen, dass sie derart heftig hatte zuschlagen können. Sobald sie sich vom ersten Schreck erholt hatte, überfiel sie Scham, wie sehr sie beide die Kontrolle über sich verloren hatten: Nicht nur, dass er ihr Gewalt angetan hatte - sie hatte darauf mit Gleichem reagiert! Entsetzt schlug sie die Hände vors Gesicht, spürte von neuem Tränen in den Augen aufsteigen.
»Oh Gott, Gero! Liebster! Was ist nur . Verzeih mir, ich weiß nicht . Ach, ich glaube . Nein, ich bin untröstlich! Was ist nur mit uns los? Wie konnten wir uns so gehen lassen? Ich kann es mir nicht erklären. Wahrscheinlich sind wir einfach zu erschöpft. All die vielen Aufregungen der letzten Wochen .«
»Lass gut sein.« Er nahm die Hand von der frisch rasierten Wange. Seine Stimme klang seltsam normal. Fassungslos stierte sie auf den roten Abdruck, den ihre Finger auf seiner Haut hinterlassen hatten. Jeder einzelne war bestens erkennbar, als hätte er sich fest darauf eingebrannt. Am liebsten wäre sie vor Scham im Boden versunken.
»Wir haben wohl beide für einen Moment die Contenance verloren«, erklärte Gero tonlos.
Sie stutzte, gebot sich, geduldig zu sein. Wartete, hoffte, sehnte ein Wort der Entschuldigung auch von seiner Seite herbei, immerhin hatte er den ersten Schritt in die falsche Richtung getan.
Eine halbe Ewigkeit standen sie schweigend voreinander. Ziellos starrte Gero an ihr vorbei ins Leere. Schließlich löste sie sich aus der Starre und wollte sich nach dem Hut bücken, der kaum eine Armlänge von ihr entfernt auf dem Boden lag.
»Selma, Darling, bitte verzeih mir!« Überraschend kam Gero ihr zuvor, nahm den Hut vom Boden auf und kniete vor ihr nieder, um ihn ihr gesenkten Blickes zu reichen. Als sie den Hut aus seinen Händen entgegennahm, schlang er plötzlich die Arme um ihre Taille, presste das Gesicht gegen ihren Schoß und begann hemmungslos in den zarten Stoff ihres Rocks zu schluchzen.
Zunächst war sie völlig überrumpelt, dann peinlich berührt, wurde endlich von einer Welle grenzenlosen Mitleids erfasst. Geros Schultern bebten im Rhythmus seines Weinens. Das Schluchzen ging alsbald in ein jämmerliches Wehklagen über. Zögernd hob sie die Hand, haderte einen Lidschlag lang mit sich, bevor sie sie behutsam auf seinen Kopf legte und durch das lichter werdende blonde Haar strich. Darüber beruhigte er sich, hielt sie allerdings weiterhin fest umklammert.
Eine Weile verharrten sie so voreinander, bis sich sein Atem plötzlich beschleunigte. Wieder drückte er sein Antlitz in ihren Schoß, löste jedoch die Arme um ihre Taille, um seine Hände auf ihren Hintern wandern zu lassen. Sie erstarrte. Behutsam begannen seine Finger über ihr Gesäß zu streichen, sanft kreisend erst, dann immer rascher und nachdrücklicher. Zugleich wurde sein warmer Atem noch schneller. In Selma schwand das Mitleid, machte einer anderen Regung Platz. Ihr Herz schlug ebenfalls...