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Selma fühlte sich reichlich erschöpft, als sie den roten Audi in die Einfahrt zum Bellevue lenkte. Constanze hatte sie bereits eingangs der Lichtentaler Allee beim Angleterre abgesetzt. Sie war der Kleinen dankbar, dass sie während der Rückfahrt geschwiegen hatte. Zu sehr waren sie beide in Gedanken mit Roberts Abschied beschäftigt gewesen. Wahrscheinlich hatte er doch kalte Füße bekommen, weil er sie beide sehr anziehend fand. Männer! Gegen ihren Willen musste sie lachen. Letztlich waren sie doch alle gleich, ganz egal, ob aus Deutschland oder Frankreich, aus einem Kaff wie Belfort oder einem ostpreußischen Nest.
Unwillkürlich schüttelte sie den Kopf und beschloss, Robert vorerst aus ihrer Erinnerung zu verbannen. Stattdessen würde sie sich einzig der unbekümmerten Zeit mit dem Küken widmen. Wieder einmal pries sie den Zufall, der ihr die Autopanne und damit die Freundschaft mit Constanze beschert hatte.
Die Sonne war inzwischen ganz hinter der Bergkette im Westen verschwunden. Über das Oostal legte sich abendlicher Frieden, Natur und Mensch bereiteten sich auf die Nacht vor. Die herrschaftliche Fassade des Hotels schimmerte elfenbeinfarben in der Dämmerung, die üppige Blumeninsel inmitten der Auffahrt leuchtete im Licht der aufgestellten Laternen von Gelb über Weiß, Rot, Blau bis hin zu vornehmem Violett weitaus kräftiger als bei Tag. Selbst die jahrhundertealte Eiche nahe dem Nordflügel war von mehreren Lampen angestrahlt, als fürchtete man, sie könne im Dunkel der Nacht ihr legendär langes Leben aushauchen.
Selma ließ den Wagen ausrollen. Exakt in Höhe des Portikus kam er zum Stehen. Beflissen eilte einer der livrierten Hoteldiener herbei, öffnete den Schlag, reichte ihr unter einer tiefen Verbeugung die Hand, um ihr hinauszuhelfen und den Audi anschließend in die reservierte Garage zu fahren. Lässig steckte sie dem Mann eine Münze in die Tasche seiner Uniform.
»Sie werden im Gartenpavillon erwartet, gnädiges Fräulein«, teilte ihr der Empfangschef mit, als sie den Schlüssel zu ihrem Zimmer entgegennahm. Fragend zog sie die Augenbrauen hoch. Er fühlte sich bemüßigt, hinzuzufügen: »Ich fürchte, es ist dringend, Fräulein Rosenbaum.«
Sie seufzte. Jede einzelne Faser ihres Körpers lechzte nach einem ausgiebigen Schaumbad in der Wanne des komfortablen Privatbads, das den besonderen Reiz ihres Zimmers im ersten Stock ausmachte. Ein anstrengender Tag lag hinter ihr. Sie wollte die letzten Stunden mit den Freunden in Ruhe verdauen, noch ein wenig dem Erlebten wie auch dem Noch-nicht-Erlebten hinterherträumen.
»Fräulein Rosenbaum?« Die Stimme des Portiers riss sie aus ihren Gedanken.
»Danke, ich habe verstanden«, beeilte sie sich zu versichern. Statt sich einem duftigen Bad hinzugeben, musste sie wohl oder übel in den sauren Apfel beißen und sich, verschwitzt und erschöpft, wie sie war, Heddas Vorwürfen aussetzen. Bestimmt trug die Mutter ihr nach, so viel mit dem Auto herumzufahren, statt ihre Zeit an der Seite der Eltern zu verbringen. Gerade weil Vater Joseph und Grischa früher als geplant nach Berlin abgereist waren, dürstete die Mutter nach Aufmerksamkeit. Nicht sonderlich wohlgestimmt, eilte Selma, den schweren Schlüssel in der rechten Hand wiegend, in der linken den Strohhut und den Seidenschal knetend, quer durchs Foyer in den Westflügel und von dort in den Garten.
Die zierlichen Empiremöbel im Damensalon wirkten jungfräulich verlassen. Matt klackten die Absätze ihrer hellen Schuhe über den schwarz-weiß gefliesten Boden. Beim Anblick des leeren Vogelkäfigs nahe der Terrassentür fühlte sie einen Stich in der Brust. Sie zwang sich, nicht weiter über die unbedarfte Tat und ihre furchtbare Auswirkung gleich zu Beginn der Ferien nachzudenken. Als schlechtes Omen durfte sie das keinesfalls deuten.
Noch auf den Stufen der Terrasse erspähte sie bereits die Runde, die sich nahe dem Pavillon auf den weißen Gartenmöbeln im Schein einer Lichterkette eingefunden hatte. Neben Meta und Hedda saßen dort zwei elegant gekleidete Herren, die langen Beine lässig übereinandergeschlagen, die Zigarette in der Hand, angeregt in ein Gespräch vertieft. Jeden von den beiden hätte sie selbst aus größter Entfernung von hinten erkannt, so vertraut war sie mit ihnen. Ihr Herz machte einen freudigen Hüpfer. Die Müdigkeit war wie weggeblasen.
»Gero! Papa!« Ausgelassen wie ein junger Backfisch stürmte sie zu der kleinen Gruppe hinüber. Die übrigen Gäste warfen ihr teils erstaunte, teils missbilligende Blicke zu. Ein weißer Malteser kläffte aufgeregt, bis sich seine Herrin, die Generalswitwe von Heimsheim, zu ihm herunterbeugte und ihn unter beruhigenden Worten auf den Arm nahm. Freifrau von Heimsheim kniff die schmalen Lippen zusammen und schritt, das Bündel Hund auf dem linken Arm balancierend, hoch erhobenen Hauptes von dannen.
»Jetzt weiß ich, was ich vermisst habe. Es kam mir die ganze Zeit so schrecklich ruhig vor«, konstatierte Meta trocken und sah ihr kopfschüttelnd nach.
»Mit der Ruhe ist es jetzt ein für alle Mal vorbei. Unser geliebter Wirbelwind ist endlich da!« Gero erhob sich von seinem Platz und trat zu Selma, schaute dabei kurz zu Hedda und Joseph Rosenbaum, um sich ihres Einverständnisses zu versichern. Gut erzogen, wie er war, würde er den Eltern natürlich jederzeit den Vortritt bei der Begrüßung der Tochter lassen. Selma indes kümmerte sich wenig um die richtige Reihenfolge. Beglückt warf sie sich dem Geliebten entgegen. Nur einen Moment erschreckte sie über ihren Wankelmut, waren doch noch keine drei Stunden vergangen, seit sie mit Constanze und Robert auf der Wiese nahe Sessenheim gelegen hatte. In Geros Armen aber fand sie die einzig mögliche Zukunft.
»Welch wundervolle Überraschung!« Ehe er Luft schnappen konnte, überschüttete sie ihn mit Küssen und Zärtlichkeiten. Nicht einmal der herbe Tabakgeruch, der in seinem Rock hing, störte sie in diesem Moment. Gero versuchte, sich gegen ihr Ungestüm zu wehren, was es für sie nur noch reizvoller machte. Jeder Kuss entfernte sie ein Stück mehr von den beiden anderen, die in den letzten Tagen ihr Herz in Beschlag genommen und den Verlobten vorübergehend daraus verdrängt hatten.
»Selma, bitte!«, hörte sie Heddas mahnende Stimme. »Denk daran, wo du dich befindest.«
»Lass der Kleinen die Freude.« Wie immer regte sich Metas Widerstand gegenüber der Tochter. »Seit Wochen haben die beiden sich nicht gesehen. Da ist das durchaus erlaubt. Oder hast du schon vergessen, wie wundervoll die Liebe ist?«
»Mama!«, protestierte Hedda.
Gero nutzte ein kurzes Luftholen Selmas, um sie behutsam, aber bestimmt von sich wegzuschieben. »Wie schön, dass du dich so über meine Ankunft freust, Darling.«
»Sollte ich das etwa nicht?« Einen Atemzug lang befürchtete sie, Gero könnte ihr das schlechte Gewissen anmerken. Dann aber entdeckte sie das begehrliche Glitzern in seinen Augen, das sie allzu gut kannte, und sie wusste wieder, wie sehr es auch ihn nach ihr verlangte. Mit ihm würde sich für sie in der folgenden Nacht erfüllen, was mit den beiden anderen für sie nur bloße Sehnsucht war. Sie sonnte sich in dem anerkennenden Schmunzeln, das seine blassen Lippen umspielte, betrachtete ihn mit Genugtuung. Da er sie um knapp einen Kopf überragte, musste sie dazu leicht den Blick heben.
Natürlich wirkte er blasser und schmaler als Robert, weitaus weniger sportlich trainiert. Ein nicht zu leugnender Tribut an seine Arbeit als Rechtsanwalt, das Leben in der Großstadt. Damit einher ging bei ihm eine selbstverständliche Weltläufigkeit, die die Blässe wie eine Grundbedingung voraussetzte und ihm das gewisse Etwas verlieh. Sein Haupt war barhäuptig, der helle Strohhut mit dem obligatorischen schwarzen Band lag abseits auf einem der Stühle. Sein blondes Haar trug er straff zurückgekämmt, was die leicht abstehenden Ohren und die markanten Wangenknochen betonte. Die Herzform seines Gesichts war unverkennbar. Aus den grün-braunen Augen blitzte der Schalk. Trotz der vielen Arbeit, die ihn angeblich seit Wochen daran hinderte, sich ihrer Sommerfrische anzuschließen, musste er in letzter Zeit einige Stunden in der Sonne verbracht haben. Das verrieten die ausgebleichten Augenbrauen, ebenso zeigte sein heller Teint vor allem im Nacken erste Anflüge von ungesunder Röte. Der gestreifte, leichte Anzug in hellen Grautönen saß wie stets akkurat an seinem schlanken Leib. Das weiße Einstecktuch in der Brusttasche war exakt gefaltet. Ebenso verrieten die nach unten enger werdenden Hosen und die tadellosen weißen Lederschuhe, dass er sich vermutlich erst vor kurzem umgezogen hatte. Noch mangelte jede Falte, die sich nach dem Sitzen selbst auf den bequemsten Stühlen früher oder später in den Kniekehlen einstellte. Ebenso zierte kein Staubkorn die Kappen der Schnürschuhe.
»Willst du deinen alten Vater nicht auch endlich begrüßen?«, meldete sich die dunkle Stimme des Vaters. Schweren Herzens wandte sie sich von Gero ab, der die Geste mit einem verheißungsvollen Augenzwinkern begleitete.
»Aber natürlich, allerliebster Vater dieser Welt!«, rief sie betont munter und fiel Joseph etwas weniger stürmisch um den Hals als vorhin Gero, küsste ihn schmatzend rechts und links auf die Wangen. Sein struppiger Bart verhinderte übertriebene Zärtlichkeiten. Gleich räusperte er sich verlegen, woraufhin Selma ihn wieder freigab.
»Du wirst dich daran gewöhnen, nicht mehr den ersten Platz im Herzen deiner Tochter einzunehmen«, verkündete Hedda und warf dem Schwiegersohn in spe einen bewundernden Blick zu.
»Seit wann seid ihr da?«, überging Selma die Bemerkung. »Warum habt ihr nicht angerufen und uns rechtzeitig von eurer Ankunft informiert? Hätte...