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Was für ein famoser Nachmittag! Beseelt von den Erlebnissen bei der Filmvorführung im Emelka-Haus, tanzte Elsa die Treppe zu ihrer Wohnung hinauf, übersprang zwei Stufen, drehte auf dem nächsten Absatz schwungvoll eine Pirouette und summte fröhlich vor sich hin. Vielleicht war sie auch ein wenig beschwipst. Sie kicherte. Der eisgekühlte Champagner zeigte Wirkung. Wunderbar hatte er in der Kehle geprickelt, was an einem so schwülwarmen, föhnigen Herbsttag wie diesem äußerst guttat. Sie dachte an Karl und seine Kopfschmerzen. Der Ärmste! Mitten im Film hatte er nach Hause gehen müssen. Und dabei hatte er sich so auf die Vorführung gefreut.
Vor einigen Wochen hatte er dem talentierten englischen Regisseur Alfred Hitchcock bei den Dreharbeiten des Bergadlers über die Schulter gesehen. Die Studioaufnahmen waren im großen Glashaus der Emelka im Geiselgasteig gemacht worden. Bestimmt brannte Karl jetzt auf ihren Bericht, wie sie das fertige Werk fand. Sie würde ihn enttäuschen müssen. Der Film war grauenhaft geworden. Kein Vergleich etwa zum Heiligen Berg, in dem sie letzte Woche um das Leben der beiden Helden in Gestalt von Luis Trenker und Ernst Petersen gezittert hatte. Auch darin ging es um eine Frau, die von zwei Männern gleichzeitig geliebt wurde, um rasende Eifersucht und hehre Freundschaftsgefühle, ebenfalls vor wildromantischer Alpenkulisse in Szene gesetzt. Anders als Der Bergadler aber riss einen Der heilige Berg von der ersten Minute an mit, erst wegen der aufreizenden Tänze der jungen Leni Riefenstahl im glühenden Abendrot, dann wegen der halsbrecherischen Kletterszenen der beiden männlichen Darsteller im zerklüfteten Bergmassiv. Elsa hatte sich regelrecht die Nägel abgekaut, so hatte sie es mitgenommen, wie aussichtslos Luis Trenker am Abgrund hing. Allein bei der Erinnerung spürte sie von Neuem ein aufgeregtes Kribbeln im Bauch.
So wie ihr war es auch den anderen Zuschauern ergangen, die den Heiligen Berg im Elvira-Palast, dem größten der mittlerweile fünf Donaubauer Lichtspiele, gesehen hatten. Sobald das Licht erlosch und sich der Vorhang vor der gigantischen Leinwand öffnete, lag absolute Stille über dem Saal. Ganz gleich, ob akademisch gebildeter Anwalt oder schlicht gestrickte Witwe, braver Angestellter oder pfiffige Tippmamsell, alle zeigten sich von der ersten Einstellung an völlig gefangen vom Geschehen. Menschen jeden Alters und jeder Herkunft stürmten die Kinos, um den Streifen zu sehen. Zwei Wochen länger als geplant zeigten die Donaubauer Lichtspiele ihn inzwischen - und das nacheinander in allen fünf Filmtheatern! Nur weil bereits der nächste große Schlager auf seine Vorführung wartete und sie die Verleihfrist nicht hatten verlängern können, mussten sie ihn in der Folgewoche schweren Herzens absetzen.
Versonnen lächelte Elsa. Wenn sie in solchen Erlebnissen schwelgte, wusste sie wieder, wie richtig ihre Entscheidung für ein Leben an Karls Seite in der Kinobranche gewesen war. Längst galten sie beide als das Traumpaar des Münchner Films, wobei es richtigerweise heißen musste: der Münchner Filmtheater. Die Schauspielerei hatte sie mit ihrer Hochzeit kurz vor Ausbruch des Großen Krieges an den Nagel gehängt. Zusammen mit Karl und dessen Mutter Zenzi leitete sie seither die Donaubauer Lichtspiele. Nach Kriegsende war noch ihr Schwager Heinrich, der Gatte von Karls Schwester Ulla, hinzugekommen. Jedes Jahr freuten sie sich über größere Erfolge beim Münchner Publikum. Vor allem Karl und Elsa wurden bewundert und gefeiert, als sorgten sie höchstpersönlich für die herzerschütternden Geschichten auf der Leinwand oder wären gar selbst Teil dieser romantisch verklärten Zauberwelt.
Umso wichtiger war es Elsa, ihren Kinogästen nur die besten Werke zu präsentieren. Hitchcocks Film Der Bergadler erzählte zwar wie Der heilige Berg eine aufwühlende Liebesgeschichte, doch mangelte es ihr im direkten Vergleich eindeutig an Tragik. Man bangte schlichtweg nicht mit, wie sich wer für wen entschied oder ob am Ende eine höhere Gewalt doch noch für die ganz große Katastrophe sorgte. Wenigstens bewies Hitchcock Talent und baute geschickt einige ungewöhnliche Aufnahmen der Darsteller sowie der monströsen Berglandschaft ein. Auch solche Ansätze zu erkennen und auf eine vielversprechende Zukunft des Regisseurs mit anderen Werken zu setzen, machte für Elsa die Faszination des Kinogeschäfts aus.
Im Weiterlaufen zupfte sie sich die dünnen Handschuhe von den Fingern, lockerte den Seidenschal und knöpfte den leichten Mantel auf. Bei aller Sympathie für Hitchcock musste sie Karl und Zenzi unbedingt die Idee ausreden, von der Emelka die Münchner Erstaufführungsrechte für den Bergadler zu erwerben. Der passte einfach nicht ins Konzept, das sie für ihren neuen Lichtspielpalast entworfen hatten. Sie wollten ihr Publikum einen Abend lang mitreißen, verzaubern, die Gegenwart vergessen lassen. Dazu aber musste die Geschichte perfekt sein. Mit Leichtigkeit ließe sich etwas Besseres für die nächste Premiere im Elvira finden. Gute Filme gab es zuhauf. Derzeit liefen die Kameras in den Ateliers in Geiselgasteig und Babelsberg heiß. Nahezu rund um die Uhr wurde für das kinosüchtige Publikum gedreht. Längst hatten die Lichtspieltheater den Biergärten und Wirtshäusern den Rang als Vergnügungsstätten abgelaufen, nur zu gern versank man in den schönsten Illusionen.
Auch die Donaubauers hatten den Aufstieg geschafft. Um Atem zu schöpfen, blieb Elsa im Zwischengeschoss vor dem Fenster zur Flussseite stehen und sah auf die in der Abendsonne glitzernde Isar hinaus. Fünf Kinos besaßen sie inzwischen: zwei sehr bescheidene, aber bei den »kleinen Leuten« äußerst beliebte Ladenkinos in den Vorstädten aus Zenzis Anfangsjahren vor dem Großen Krieg, ein weiteres schlichtes in Ingolstadt, zudem die vornehmeren Kaiser-Lichtspiele in Schwabing sowie seit ein paar Wochen den luxuriösen Elvira-Palast nahe dem Stachus. Mit dem brachen sie alle Rekorde, was Technik, Ausstattung und Komfort betraf. Und das nicht nur in München, sondern in der ganzen Republik, ja, sogar in ganz Europa!
Abermals musste Elsa kichern, dieses Mal jedoch vor Stolz. Die Lichtspiele wurden edel. Und nicht nur die Lichtspiele. Auch ihr Publikum, wie man an der Garderobe sah, die abends bei den Vorführungen im Elvira zu bewundern war. Und doch ging es den meisten nach wie vor in erster Linie darum, sich von den auf Zelluloid gebannten Schatten ein, zwei Stunden in andere Hemisphären entführen zu lassen. Die Filme wurden immer anspruchsvoller. Inzwischen fanden sich die Besprechungen sogar in den Feuilletons der großen Zeitungen. Film wie Kino waren gesellschaftsfähig geworden. Wer hätte das vor einigen Jahren gedacht?
Ihre Eltern in Wien kamen Elsa in den Sinn, die entsetzten Blicke, als sie ihnen kurz vor Ausbruch des Großen Krieges den Filmtheaterbesitzer Karl als künftigen Schwiegersohn präsentiert hatte. In der Gosse hatten der frühere K.-u.-k.-Hofrat Ferdinand Horwitz und seine Gattin, die Generalstochter Eleonore von Trull, ihr einziges Kind landen sehen, die einstige Hoffnung des seinerzeit noch kaiserlichen Hofburgtheaters elendig besudelt vom billigen Charme der Kinobranche und der verhängnisvollen Liebe zu einem windigen Hasardeur.
Vor drei, vier Jahren hatte es tatsächlich einmal so ausgesehen, als lägen sie mit ihren Befürchtungen richtig. Nach dem blutigen Ende der Räterepublik schmolz die Kinosucht in München ebenso schnell dahin wie die Hoffnung auf eine bessere Zukunft in Friedenszeiten. Die Lichtspielhäuser kratzten haarscharf am Ruin. Elsa wurde schummrig, wenn sie an die Zeiten dachte, in denen sie kaum mehr gewusst hatten, wie sie den Strom für die Vorführapparate oder die Leihgebühr für die Filme bezahlen sollten. Vor nahezu leeren Bänken hatten sie die Streifen abgespult. Niemand interessierte sich mehr für wilde Abenteuer auf hoher See oder ergreifende Liebeleien in Märchenschlössern. Dramatik hatte jeder mehr als genug im eigenen Leben. Deshalb pilgerten die Menschen lieber in die Bierkeller, wo ihnen am Rednerpult statt auf der Leinwand die neuen Helden, die in Wahrheit nichts anderes waren als feige Hetzer, den politischen Aufstand gegen das »verhasste« Berlin und die noch »verhassteren jüdischen Profiteure« von »System« und Inflation einpeitschten.
Karl und Elsa hatten die Hoffnung jedoch nicht aufgegeben, dass ihr Publikum eines Tages wieder zur Besinnung kommen und die Verlogenheit der Aufwiegler erkennen würde. Und sie behielten recht. Die Revolte gegen die ungeliebte Republik wie auch die Geldentwertung erledigten sich nach dem gescheiterten Hitler-Putsch fast auf einen Schlag. Von einem auf den anderen Tag gab es wieder feste Arbeit und genug zu essen für alle. Statt sich in rauchigen, überfüllten Bierhöllen weiter den dumpfen Hasstiraden braun gefärbter Schreihälse hinzugeben, berauschten sich die Münchner bald wieder im Kino an den Drachenkämpfen tapferer Recken wie den Nibelungen, zitterten bei mysteriösen, nervenzehrenden Dramen wie dem des verrückten Doktor Caligari mit oder erlebten die Herausforderungen der gefährlichen Naturgewalten wie im Berg des Schicksals. Die Inszenierungen wurden immer aufwendiger, um die Zuschauer in neue Dimensionen zu entführen.
Gleich fiel Elsa wieder Der Bergadler und sein Regisseur ein. Zweifelsohne verfügte der zur Korpulenz neigende Brite über Talent. Und auch über Witz. Packend hatte Alfred Hitchcock ihr von dem überraschenden Wintereinbruch bei den Dreharbeiten in den Ötztaler Alpen berichtet - und das in fließendem Deutsch, das er dank mehrerer Aufenthalte bei der UFA...
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