Schweitzer Fachinformationen
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Verflucht! So hatte Vera sich das Aussteigen aus dem eleganten BMW ihres Chefs nicht vorgestellt. Mit den neuen Pumps landete sie mitten in einer Pfütze. Eiskaltes Dreckwasser bespritzte ihre Seidenstrümpfe bis hinauf zu den Knien. Was aber hatte sie bei diesem Schmuddelwetter auf einer Baustelle am südwestlichen Stadtrand anderes erwartet?
»Kein Wunder, dass in der Baubranche vor allem Männer arbeiten«, würde ihre Mutter sagen. Das stimmte! Selbst bei feierlichen Anlässen wie diesem Richtfest liefen die nicht groß Gefahr, ihre dunklen Schuhe und Anzüge auf dem unwirtlichen Gelände zu beschmutzen.
Vera warf einen neidischen Blick auf die Füße ihres Kollegen Arthur Brandt. Tatsächlich war seinem Schuhwerk kaum etwas von den Widrigkeiten des provisorisch zum Parkplatz umfunktionierten Ackers anzusehen. Tagelanger Dauerregen hatte den in eine riesige Seenlandschaft verwandelt.
Am liebsten hätte Vera ihre vollgesogenen Schuhe weggeworfen, um auf Strümpfen weiterzulaufen. Daran aber hinderte sie nicht nur ihre gute Erziehung, sondern auch die schlichte Tatsache, dass Arthur ihr galant den Arm bot. Ein wahrer Gentleman. Und ein überaus gut aussehender noch dazu.
Für den Bruchteil einer Sekunde glühten ihre Wangen. Um seine Lippen spielte ein Lächeln, das zwischen Spott, Belustigung und Aufmunterung changierte. Sie reckte das Kinn und hängte sich so gelassen wie möglich an seiner Seite ein, um neben ihm über die Erdkrumen Richtung Rohbau zu stöckeln, in dem das Richtfest für das Altenheim stattfand.
Seiner Eleganz zum Trotz entschloss Arthur sich zu weit ausholenden Siebenmeilenschritten, um dem Matsch so schnell wie möglich zu entkommen. Erstaunlich bei seiner eher durchschnittlichen Körpergröße. Wollte sie im strömenden Regen außer den Schuhen nicht auch noch Hut, Frisur und Kostüm ruinieren, musste sie einigermaßen mitzuhalten versuchen. Zugleich musste sie sich ein wenig ducken. Dank der Absätze an den Schuhen und dem Hut auf dem Kopf war sie einige Fingerbreit größer als er. Nur leicht gebeugt fand sie ausreichend Schutz unter dem Schirm, den er über ihre Köpfe hielt.
Sie gehörten zu den Letzten, die die Festgesellschaft im Dachgeschoss des halbfertigen Verwaltungstrakts erreichten. Als Repräsentanten des ausführenden Architekturbüros mussten sie zu allem Unglück Plätze in den vorderen Reihen einnehmen. Während sie sich durch die dicht stehenden Gäste bis dorthin vorarbeiteten, verursachten sie einigen Aufruhr, was der eine oder andere mit einem pikierten Augenbrauenhochziehen quittierte.
Von den wenigen anwesenden Frauen meinte Vera besonders giftige Blicke im Rücken zu spüren. Die galten gewiss ihrer trotz schmutziger Schuhe und Strümpfe immer noch schicken Erscheinung. Es hatte durchaus seine Vorteile, Tochter einer vor mehr als fünfundzwanzig Jahren sehr erfolgreichen Vorführdame zu sein. Natürlich wusste sie auch in Situationen wie diesen Haltung zu bewahren. Ebenso Arthur. Dass sie an seiner Seite graziös durch die Reihen schritt, ärgerte so manche der Damen. In seinem gut sitzenden Anzug machte der Dreißigjährige eine tadellose Figur.
Was ihn jedoch besonders aus der Reihe der Nullachtfünfzehn-Gesichter heraushob, war der Anflug von Schalk, der in seinen Augen lag. Seit ihrem ersten Arbeitstag im Architekturbüro von Hellmuth Sandrart war Vera in dieses charmante Blitzen verliebt. Das satte Blau der Iris erinnerte an den Sommerhimmel über goldenen Weizenfeldern und lud zum Träumen ein. Nie konnte sie sich daran sattsehen. Kein Wunder, dass die wenigen anderen Frauen an der Seite der überwiegend korpulenten, glatzköpfigen, langweilig wirkenden Herren sie derart böse musterten. Nur zu gern sähen sie sich selbst an ihrer Stelle.
Als Arthur ihren Blick bemerkte, zwinkerte er ihr vergnügt zu. An Selbstbewusstsein mangelte es ihm nicht.
Vera konzentrierte sich auf das Geschehen auf dem kleinen Podest. Hoffentlich dauerte die Prozedur nicht zu lange. Wegen des nasskalten Schmuddelwetters war es in dem offenen Dachstuhl alles andere als gemütlich. Feucht und schwer hingen die bunten Bänder von der Richtkrone. Trostlos tropfte es vom Gebälk, gelegentlich ergänzt durch das Pfeifen des Windes.
Zum Glück verspürten weder die Handwerker noch der Pfarrer oder der Vertreter der Stadt in der zugigen Kulisse sonderlich große Lust, lange Reden auf das nach neuesten Erkenntnissen konstruierte Altenheim zu schwingen. Der Zimmermann leierte den Richtspruch derart lustlos herunter, dass die meisten Gäste erst begriffen, was er gesagt hatte, als er bereits das Glas zu Boden warf, damit es in tausend Scherben zerbrach und somit Glück über Haus und Bewohner brachte. Erleichterter Applaus setzte ein. Sogleich strebten die Ersten der Treppe zu, um im trockenen Erdgeschoss das Büfett zu stürmen.
Arthur und Vera wurden von einer Handvoll würdevoller Anzugträger umringt, die sich für wichtig genug hielten, nicht allzu offensichtlich nach den profanen leiblichen Genüssen zu hasten. Ihre nervösen Blicke durch das sich rasch leerende Dachgeschoss verrieten dennoch, dass es auch sie zu Schnittchen und Getränken zog.
Mehr der Höflichkeit als wirklichem Interesse geschuldet, erkundigte sich ein weitsichtiger Herr mit schwarzer Hornbrille nach ihrem Chef, Hellmuth Sandrart. Die hinter den Gläsern stark vergrößerten Augen schauten ungeduldig zwischen Arthur und Vera hin und her. Offenkundig gehörte er zu den Auftraggebern.
»Wenn er uns schon so einen raffinierten Bau aufs Auge drückt, sollte er auch den Mumm haben, selbst beim Richtfest aufzutauchen«, knurrte er. »Oder hat er Angst vor heftigen Beschwerden?«
Zustimmend nickten die anderen Anzugherren.
Vera genügte ein kurzer Blickkontakt mit Arthur, um sicher zu sein, wie übertrieben auch er den Begriff »raffiniert« für die in ihren Augen doch eher langweilig-konventionell ausgeführte Anlage mit einem dreigeschossigen Giebelhaupthaus und zwei niedrigeren Seitentrakten in Flachbauweise fand. In ihren Augen hatten viel zu viele Kompromisse mit den konservativ denkenden Bauherren geschlossen werden müssen, was den ursprünglichen Charakter des Entwurfs, der in der Tat einmal eine gewisse Raffinesse besessen hatte, stark verwischt hatte.
»Darf ich Ihnen meine neue Architektenkollegin Vera Cohn vorstellen?«, wich Arthur der versteckten Kritik an Sandrart geschickt aus. »Die Anwesenheit einer so bezaubernden jungen Dame wird Sie sicher angemessen für das Fehlen unseres Chefs entschädigen.«
Seine Worte lösten Befremden aus, wie die erstaunten bis missbilligenden Mienen der Herren verrieten. Vera ahnte, dass sie sowohl über ihren jüdischen Namen wie auch über die Tatsache stolperten, dass sie nicht einfach nur Arthurs weibliche Begleitung, sondern tatsächlich seine Kollegin war. Hatte Sandrart die Herren nicht über ihre Mitarbeit informiert? Immerhin unterstützte sie ihn seit einem Monat bei dem Projekt, auch wenn sie bislang noch nicht nach außen in Erscheinung getreten war. Das aber war nur noch eine Frage von wenigen Tagen, wie das Fortschreiten der Arbeiten zeigte.
»Ich wusste gar nicht, wie schwierig die Lage auf dem Arbeitsmarkt immer noch ist«, erklärte einer der Herren, dessen kahler Schädel im grellen Licht einer nackten Glühbirne glänzte. »Richten Sie Sandrart aus, dass er sich beim nächsten Mal, wenn er wen sucht, gleich bei mir melden soll. Ich habe noch eine lange Liste mit zuverlässigen Kameraden zur Hand, wenn Sie verstehen, was ich meine. Sandrart weiß Bescheid.«
»Danke für Ihr Angebot, aber ich denke, er kommt bei der Suche nach ausgezeichneten Mitarbeitern bestens klar, wie man sieht«, gab Arthur mit leicht gequälter Miene zurück.
Der Glatzkopf stutzte, dann empfahl er sich nach einem letzten abschätzigen Blick auf Vera. Die anderen folgten ihm.
»Ein früherer Anhänger der Heimatschutzarchitektur. Seine Kenntnisse über die Moderne enden bei Hitlers Lieblingsarchitekten Trost und Speer. Solche wie ihn gibt es leider zuhauf, gerade hier in München. Nehmen Sie's bitte nicht persönlich«, beeilte Arthur sich, Vera zu erklären.
»Keine Sorge, ich kenn die Münchner. Ich stamme selbst von hier«, erwiderte sie und zwang sich zu einem Lächeln.
Ihre betont ruhige Reaktion kostete sie mehr Kraft, als sie sich eingestehen wollte. In ihrem Innern begehrte alles gegen die Unverschämtheit des Glatzkopfes auf. Zugleich wusste sie, wie sinnlos es war, jemandem wie ihm offen zu widersprechen. Ihre Meinung interessierte niemanden, seine Haltung dagegen teilten viele. Trotzdem würde sie nicht klein beigeben. Sie dachte an ihre Großeltern, an Großmama Rebeccas Skizzenbuch mit den liebevollen Zeichnungen von ihren Lieblingsorten in ihrer Heimatstadt München. Die meisten davon waren im Krieg in Schutt und Asche gelegt worden. Leuten wie diesem Unbelehrbaren würde sie es am besten zeigen, indem gerade sie, die aus dem Exil zurückgekehrte Tochter eines Juden, als Architektin daran mitwirkte, die aufgerissenen Löcher und sichtbaren Lücken in der Stadt wieder zu schließen und den heimatlos gewordenen Menschen ein Obdach zu verschaffen. Und das so schnell und so schlicht wie möglich, um keinen neuen, grauenhaften Allmachtsfantasien in bedeutungsüberfrachteten Baustilen mehr Raum zu geben, wie Hitler und seine Schergen sie sich in ihrem verblendeten Größenwahn für die »Hauptstadt der Bewegung« einst ausgedacht hatten.
»Brandt, Sie alter Schwerenöter«, begrüßte der nächste ältere Herr Arthur in jovialem Ton. Der stiernackige Mann mit stark gerötetem Gesicht präsentierte seinen Wohlstandsbauch mit sichtlichem Stolz unter einem viel zu eng sitzenden Jackett. Umständlich...
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