KAPITEL 1
DER TODESSTERN
Das Objekt mutete auf eine gewisse Art und Weise wie ein kleiner Planet an.
Von nichts als Dunkelheit, Trauer und Verzweiflung umgeben, gefangen an diesem einen Ort, löste der Anblick des kleinen Planeten unweigerlich ein Gefühl der Beklemmung aus. Und das sollte nicht so sein. - Dieser Ort war zweifellos eines Planeten unwürdig.
Man könnte sogar beinahe wütend auf die Umgebung des Planeten werden, immerhin waren anfänglich ja alle Chancen zu prosperieren da. Doch nun war es zu spät. Der langsame, aber unaufhaltsame Zerfall wurde bereits vor Jahrzehnten eingeleitet, ein Abbruch oder gar eine Umkehr dieser destruktiven Sequenz war ausgeschlossen.
Inmitten einer wüsten und rauen Einöde befand sich unser kleiner Planet mittlerweile. Das war bei weitem nicht immer so. Aber jetzt war er - wie auch seine karge, stinkig-faulende Umgebung - über kurz oder lang dem Tode geweiht. Eher kurz als lang. Vielleicht auch sehr kurz. Schwierig zu sagen.
Planet sollte doch eigentlich als ein Synonym für Leben positive Assoziationen wecken. Doch allein schon der Gedanke, dass unser kleiner Planet je wieder die Kraft besitzen würde, um dies zu tun, war völlig utopisch. Unser kleiner Planet würde nie wieder Vitalität ausstrahlen oder Hoffnungen wecken.
Das Objekt mochte äußerlich wie ein Planet anmuten, doch wie nahe kam es einem echten Planeten? Laut der Internationalen Astronomischen Union ist ein Planet definitionsgemäß ein Himmelskörper, der sich (A) auf einer Umlaufbahn um die Sonne bewegt, dessen Masse (B) groß genug war, um sich in einem hydrostatischen Gleichgewicht zu befinden, was zu einer annähernd kugeligen Gestalt führt, und der (C) das dominierende Objekt seiner Umlaufbahn darstellt.
(A) schied aus und am Himmel befand sich unser kleiner Planet auch nicht.
(B) traf auf eine gewisse Art und Weise zu.
(C) könnte man zwar auf der einen Seite als erfüllt ansehen, auf der anderen Seite würde man dabei aber das abscheuliche Monster unmittelbar über ihm außer Acht lassen: ein weiteres annähernd kugelförmiges Objekt, von der Ausdehnung zwanzigfach so groß und ungleich schwerer als unser kleiner Planet. Das Monster war der eigentliche Grund für das Verrotten unseres kleinen Planeten. Unser kleiner Planet wurde erbarmungslos von ihm dominiert.
Früher waren er und das Monster voller Energie und lebten in einer symbiotischen Gemeinschaft. Damals ging es dem kleinen Planeten noch gut. Und das Monster war zu jener Zeit noch kein Monster.
Doch nun, nach all den Jahren, war unser kleiner Planet in großer Gefahr. Es stand schlecht um den kleinen Planeten. Sehr schlecht.
Man konnte mit Fug und Recht behaupten, dass er früher eine echte Schönheit gewesen ist, wobei letztere ja auch immer im Auge des Betrachters lag: zwei große Hügel, welche sich annähernd gegenüberlagen, prägten einst die äußere Gestalt. Beide Hügel hatten die Form von leicht in die Länge gezogenen und etwas abgeflachten Kanonenkugeln. Majestätisch und dominant ragten sie empor und sorgten für Stabilität, ihre Oberfläche als sanftes Gegenstück mutete hingegen leicht gewellt und von der Beschaffenheit weich-elastisch an. Zwischen den beiden planetaren Stützpfeilern klaffte ein tiefes Tal, welches eine Verbindung der voneinander getrennten Hügel herstellte und den makellosen Anblick einer idyllischen Landschaft weiter abrundete. Ein einzelner Störfaktor dieser vollendeten Ästhetik war der Tatsache geschuldet, dass einer der beiden Hügel minimal größer war als der andere, wenn auch nur für den kritischen Betrachter nach langer und sehr gründlicher Inspektion ersichtlich. Bildeten die beiden Hügel das Fundament, beziehungsweise den Planetenkern, so formte die dünne Schicht auf der Planetenoberfläche ebenso maßgeblich die Gestalt unseres kleinen Planeten. Sie war nicht so starr und unbeweglich wie die zwei sturen, sanften Riesen, sondern immer in Bewegung. Ihre Oberfläche schlug kleine Wellen, man konnte geradezu in ihr versinken und zugleich - wenn die äußeren Bedingungen es erforderten - konnte sie sich straffen und ein Schutzschild für den kostbaren Planetenkern bilden. Sie unterlag einem ständigen Prozess von Erneuerung und Untergang, wie alles Lebendige der Natur. Unter ihr verliefen mächtige Ströme, welche die Nährstoffe für diese stetige Metamorphose lieferten. Die weiche, verschiebliche Planetenhülle wurde auf der äußersten Oberfläche von unzähligen rankenartigen Gewächsen durchbrochen, welche schier aus purem Vergnügen ineinander verschlungen waren und verspielt um sich selbst kreisend in die Höhe ragten. Das Leben in all seiner Vielfalt war überall zugegen. Alles befand sich in friedvoller Eintracht.
Doch dies war der Status quo bevor das Monster geboren wurde. Seitdem das Monster erwacht ist, geriet das zuvor so stabile ökologische Gleichgewicht zunehmend außer Kontrolle. Das Monster war wie ein Eitergeschwür, das sich tief in das Herz unseres Planetenkerns gefressen hatte und nun alles um sich herum vergiftete.
Eine Transformation hatte eingesetzt. Unser kleiner Planet war mittlerweile von der Ausdehnung her zehnmal so groß wie zuvor. Dies war jedoch kein Ausdruck von gesundem Wachstum. Ganz im Gegenteil. Unser kleiner Planet war abartig aufgebläht und stand kurz vor dem Platzen. Ähnlich den Vorgängen bei einem toten Tier, in dessen Innerem Fäulnisbakterien langsam das abgestorbene Fleisch zersetzten und so mit giftigen Verdauungsgasen das Körpervolumen um ein Vielfaches ausdehnten, befand sich unser kleiner Planet in einem fortgeschrittenen Stadium des inneren Zerfalls.
Unsere majestätischen Hügelkuppen: verschwunden. Es gab auch keine Täler mehr. Der Planet präsentierte sich nun kugelrund.
Die ehemals weich-elastische, schützende Oberfläche war nur noch eine hauchdünne, straffe Bedeckung dieser kolossalen Kugel und sie war zum Zerreißen gespannt. Tatsächlich war die Oberfläche an mehreren Stellen bereits eingerissen. Rötlich-livide Schichten kamen in diesen Arealen zum Vorschein und es quoll Flüssigkeit hervor, welche sich über den restlichen Planeten ergoss. Ein ätzender, flüssiger Bote des Todes, der wie die Lava eines Vulkans durch den hohen inneren Druck hervorbrach und alles unter sich begrub.
Die zahllosen Gewächse - verschollen. Sie waren schon längst abgestorben und würden auch nicht wiederkehren.
Seit Kurzem wurde unser kleiner Planet zu allem Überfluss regelmäßig von einer grün-bräunlichen, zähflüssigen Substanz umspült und so die Planetenoberfläche weiter arrodiert. Diese ekelerregende Masse war kein Produkt des kleinen Planeten selbst, sondern eine Kreation des Monsters. Pest und Verwesung gingen mit diesen Fluten einher, zusätzlich begleitet von einem unerträglichen Gestank. Je größer und stärker das Monster wurde, desto öfter suchte auch diese klebrige, alles erstickende Materie unseren kleinen Planeten heim.
Auch der dringend benötigte, lebensspendende Nährstoffzustrom war versiegt - alle Zuflüsse waren verstopft. Der Abfluss aller abführenden Ströme war durch den hohen Druck behindert, toxische Stoffe sammelten sich an.
Nein, es stand wahrlich nicht gut um unseren kleinen Planeten.
»Hier isss irgendwie alles nass«, lallte eine tiefe Stimme irgendwo aus der Ferne.
Wer hatte das gesagt? Kurz blickte er auf und wurde so aus seiner Lethargie gerissen, doch währte dies nur einen kleinen Moment. Schon bald senkte sich sein Blick wieder und er starrte weiter vor sich hin ins Leere.
»POLIZEEEEEIIII!«
Auch wenn der erneute Aufschrei noch lauter war, hörte er tatsächlich kaum hin. Gedankenversunken wartete er einfach weiter ab, solange, bis die Stimme schließlich wieder komplett verstummt war.
Das waren eindeutig die Worte des Monsters. Das Monster hatte die Worte zwar nicht direkt ausgesprochen, aber den Verstand des Überbringers vergiftet. Das Monster war, wie bereits erwähnt, nicht immer ein Monster. Es wurde dazu gezwungen, ein Monster zu werden. Wann genau war jedoch schwierig zu sagen. Fest stand nur eins: es wurde nicht als Monster geboren.
Und während er weiter auf einen der voluminösesten Hodensäcke starrte, den er je gesehen hatte, begann er langsam sich aus seinen um Hoden-Planeten und Monsterbäuche kreisenden Gedanken zu lösen. Schönheit lag im Auge des Betrachters. Was hatte man hier vor sich? Gar nichts war hier schön. Für jeden Betrachter.
Dieser Patient war erst vierunddreißig Jahre alt, wahrscheinlich ein trauriges Produkt seiner elterlichen Erziehung und seines Umfeldes, hineingeboren in die Chancenlosigkeit. Er hatte auf eine gewisse Art aufrichtiges Mitleid mit diesem Menschen.
Johnny hieß der Mann vor ihm. Einer dieser Namen, genau wie Kevin, Justin oder Jaqueline, auf denen oft kein Segen lag.
Er selbst wollte als Kind immer Kevin heißen, nach der gleichnamigen Hauptfigur in der Kevin Allein zu Haus-Filmreihe. Gott sei Dank hatten seine Eltern ihn nicht Kevin genannt.
Der...