Einen Faden wieder aufnehmen
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Alle in den acht Monaten vorher von diesem Strippenzieher im Himmel gezogenen Fäden hatten Elise nicht von ihrem Weg abgebracht, auch nicht dieser Knaller. Statt wie beabsichtigt mit einem schnellen Zwischenstopp überzähligen Hausrat und Gigi in Bonn abzuliefern und nach Afrika weiterzureisen, kostete sie der Umweg mehrere Monate Krankenhaus.
Um ein Organ erleichtert glaubte sie, das Schlimmste hinter sich zu haben, doch wurde ihr erst im Zug richtig bewusst, was sie an Liebgewordenem zurückließ. Während das Rheintal mit seinen Burgen vorüberzog, vergrößerte sich mit jedem Kilometer allein im Abteil die Traurigkeit. Wie nützlich selbst eine fehlende Niere noch sein kann, sah sie nicht ansatzweise voraus.
Angeschlagen, ausgepumpt, leergelaufen kam sie in Marseille mit dem bisschen Handgepäck an, darunter der Hutschachtel mit ihrem viktorianischen Nähkasten. Das Schiff sollte erst spät am Abend ablegen. In fittem Zustand hätte Elise sich die Hafenstadt angesehen, denn die Temperatur erlaubte, sich dem Müßiggang vor einem Café hinzugeben und die Passanten an sich vorbeiziehen zu lassen. Ihre Mattigkeit zog sie aber unwiderstehlich in die Waagerechte. Sich einfach irgendwo im Schatten einer Mauer auf den Boden zu lümmeln und ein Schläfchen in der Öffentlichkeit zu riskieren war undenkbar, selbst wenn ihr eine der Flower-Power-Studentinnen, die mit ihren Rucksäcken durch die Weltgeschichte gondelten, eine Liegematte abgetreten hätte.
Halb in Trance, betrat sie den schmiedeeisernen Jugendstilkiosk, in dem die Touristeninformation untergebracht war, und fragte am Tresen: "Wo kann ich bis zur Abfahrt meines Schiffes ungestört ausruhen?"
"Gehen Sie ins 'Esplanade'. Das ist nur zwei Straßen weit von hier und günstig", riet ihr ein etwa gleichaltriger Angestellter.
Bis zwölf Uhr mittags ruhte sie dort, dann schreckte sie anhaltendes Klopfen aus traumloser Bewusstlosigkeit. "Sie haben das Zimmer für eine Nacht gemietet. Die zählt immer von zwölf Uhr bis zwölf Uhr Mittag. Sie müssten eine zweite Nacht bezahlen, wenn Sie länger bleiben wollen. Ansonsten gehen Sie bitte!"
Apathisch verließ Elise das Hotel und stolperte ziellos durch den immer noch warmen Spätsommermittag, unschlüssig, was sie bis zum Abend anfangen sollte. Zufällig lief ihr der Mann vom Touristenbüro wieder über den Weg. "Das tut mir leid", sagte er mitfühlend, "dafür muss ich Sie entschädigen. Welche Meinung sollen Sie sonst von uns haben! Ich habe noch Zeit, wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen etwas von Marseille."
Die Erleichterung, unter die Fittiche genommen worden zu sein, hatte sich kaum breitgemacht, da bremste sein Auto in einem menschenleeren Park mit großen alten Bäumen auf weiten Grasflächen und innerhalb von Sekundenbruchteilen hing seine Hose unter den Knien.
Wie reagiert man auf eine so unmissverständliche Offerte, ohne den Zudringlichen in Wut zu versetzen? Schreiend aus dem Auto springen? Ich habe keine Ahnung, wo ich bin und wie weit die nächsten Häuser entfernt sind. Einen Dauerlauf halte ich nicht durch, schon gar nicht, wenn ein Fahrzeug die Verfolgung aufnimmt. Ich muss ihn ablenken.
"Das ist ja schön und gut, was Sie mir da, also dankenswerterweise bieten wollen. Nur Ihr Angebot ..., äh ..., wie könnte ich das nutzen?", stotterte sie mit leichtem Krampf im Unterkiefer.
"Lass disch einfach gehen, mon bijou, isch zeig dir schon wo's langgeht", kündigte der Franzose an.
"Das weiß ich zu schätzen, Monsieur. Ganz bestimmt. Nur bin ich derzeit nicht in der richtigen Verfassung für Eskapaden."
"Du wirst sehen", erwiderte der Mann, "du kommst sofort in Stimmung."
Er begann, Elises Rock hochzuschieben und am Schlüpfer zu fingern. "Zuerst bläst du mir einen, du wirst die Ange, wie sagt man, die Engel singen hören. Crois moi, deine Erinnerung an die Stadt wird überwältigend sein, Schätzchen." Um seinem Mundgeruch auszuweichen, der, zehn Zentimeter von ihren Riechzellen entfernt, einen Querschnitt durch die mediterrane Küche säuerlich in sich vereinigte, wäre sie gerne mit der Rückenlehne verschmolzen.
"Schau ihn dir an, er freut sich auf disch." Er fasste nach ihrer Hand und presste sie gegen seinen überdimensionalen Auswuchs, der, blaurot geschwollen, aus dem Hoseneingriff zuckte.
Der Adrenalinschub mobilisierte alle Reserven. "Monsieur, ich bin frisch operiert." Sie zog ihre Bluse aus dem Bund, um ihm den Verband zu zeigen. "Sie werden sauer sein, wenn die Narbe wieder aufgeht und mein Blut Ihren schönen Citroën ..." Mit einer fließenden Handbewegung strich sie über die Sitze.
Missmutig schnaubte der Chauffeur vor sich hin und fixierte seinen Fahrgast mit glasigem Blick, wobei er nun selbst Hand an sich legte. Keine zehn Minuten später saß Elise in Hafennähe an einem Bistrotischchen und fragte sich, welcher Schutzengel gerade noch mal die Kurve gekriegt hatte. Die Trägheit durch die Nebenwirkung ihrer Medikamente lag wie ein Wattepanzer um ihr Bewusstsein und pufferte jegliche Bewertung der Gefahr.
Bei glutrotem Sonnenuntergang überquerte sie die Gangway der "MS Aurora" mit Ziel Madagaskar. Obwohl die Hitze des Tages das Deck nicht mehr in voller Stärke aufheizte, saß der Bordoffizier mit seiner Passagierliste an einem kleinen Tisch im Schatten eines Sonnensegels. Er begrüßte Elise an Bord und rief nach einem Matrosen für ihr Gepäck. Während sie beide auf ihn warteten, musterte er verstohlen die kleine Madame im zerknitterten weißen Glockenrock und kurzärmeliger Matrosenbluse, die Sonnenbrille über der Stirn auffallend forsch ins schulterlange Haar gerammt.
"Ich habe Sie mit Amanda in eine Kabine gelegt", der fragende Tonfall bat um Zustimmung, "eine Engländerin, die auch bis Addis Abeba will." Hoffentlich keine Quasselstrippe, wünschte sich Elise, sie war hundemüde und das Ziehen im Rücken war unerträglich.
Sie stolperte dem o-beinigen Seemann unter Deck über mehrere Treppen und schmale Gänge bis zu ihrer Kabine nach, in der sie auf die Liege sank.
"Ihre Kabinengenossin macht das Schiff unsicher." Wenn Elise seine Miene richtig deutete, meinte er einen Vamp auf Männerfang, und der zerflatterte Kondensstreifen aus Parfüm unterstrich seine Spekulation.
Sie schloss die Augen, als sie allein war. Sofort standen die Pinien vor ihr, deren Zapfen im leichten Seewind raschelten, sie roch den harzigen Duft der Nadelbäume und hörte die schrill sägenden Zikaden, als der Franzose sich stöhnend erleichtert hatte. Was für ein Teufel hatte sie geritten, sein Angebot anzunehmen, wo sie sonst eher einen Fluchtreflex unterdrücken musste?
Wenn mich nicht die Heulerei die ganze Nacht wachgehalten hätte, wäre ich kein so leichtes Opfer gewesen. Was habe ich für einen vertrottelten Eindruck gemacht? Der hat mich für eine Landpomeranze gehalten, in der man schadlos den Schniedel kühlen kann.
Eine ganze Weile döste sie benommen in der Kabine, dann sah sie Amandas Reiselektüre auf dem Bett liegen und griff neugierig danach. Es war ein Roman von Evelyn Waugh: Remote People. Sie blätterte und keine fünf Minuten später hatte sie sich festgelesen.
Als Amanda atemlos hereinwirbelte, eine halbe Portion mit kurzem strähnigen Haar und ständig in Bewegung, deutete diese auf ihr Buch. "Lustig geschrieben, die Krönungsfeierlichkeiten des Kaisers von Äthiopien, unsere Mitreisenden sind glatt dem Buch entstiegen."
Augenblicklich schämte sich Elise ihrer Ahnungslosigkeit. Warum verstummten die Freunde durch die Bank, wenn die Rede auf ihr Land kam? Was für eine Familie erwartet mich? Ob die Angehörigen sich mit mehr als dem nackten Überleben beschäftigen? Das ganze Afrika ein dunkles Loch, in dem ich einfach untergehen werde?
Amanda setzte sich ungefragt auf die Bettkante und schwatzte drauflos: "Ich besuche zum zweiten Mal Verwandte in Äthiopien, und Sie?"
"Mein Mann ist der erste einheimische Architekt des Landes und ist vorausgeflogen, um Arbeit und eine Wohnung zu suchen. Ich wäre längst dort, wenn nicht ein Stein meine Niere gesprengt hätte. Bin noch reichlich angeschlagen." Sie goss sich aus der mitgebrachten Mineralwasserflasche ein Glas ein, stürzte es hinunter und kniff die Nasenflügel zusammen, als die Kohlensäure entweichen wollte.
"Solche Dramen überschläft man am besten. Wir haben noch genug Zeit zum Reden. Ich muss an Deck, hier ist es zu eng für meine Ballettübungen."
Meine Güte, die muss aus betuchtem Stall sein, schlussfolgerte Elise.
Das Gluckern der See vor dem offenen Bullauge schläferte sie ein, sie lehnte sich zurück. Dann sprossen die Häuser ihres Mannes aus einem Stadtpanorama wie Pilze aus einem weitverzweigten Myzel, ein Wolkenkratzer hier, ein Wohnblock da, Parkhäuser, Triumphbögen, Stadien und Brücken bis zum Horizont und mittendrin kreischende Kinder in einem englischen Garten. Ein kleiner Mann mit goldener Krone drehte sich in einer halbfertigen Jacke.
Für die Gewissheit, um sie herum sei freier Raum, nahm Elise gerne in Kauf, dass die Anreise mit Schiff länger dauerte als mit jedem anderen Verkehrsmittel, bei weitem die entspannteste Fortbewegungsart.
Viele Seemeilen weiter im Osten und Tage, in denen Elise nur erwachte, um ihre Tabletten zu schlucken, bedauerte ihre Reisegefährtin: "Die Delphine haben Sie verpasst. Kommen Sie an Deck, wir haben den Suezkanal erreicht und müssen den Gegenverkehr...