Schweitzer Fachinformationen
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Eine Art Prolog
Yosh hatte gedacht, es würde ihn mehr stören. Das mit dem Geruch.
Bei menschlichen Ausdünstungen war er empfindlich. Der Hamburger Sommer war immer eine Herausforderung für ihn gewesen. Eine vollbesetzte Bahn zur Rushhour, diese ganz spezielle Mischung aus Schweiß und Pheromonen, mit Deodorant, Parfum und Rasierwasser mehr schlecht als recht überdeckt. Jede Station, jedes Öffnen der Türen entließ ein wenig davon, doch schon stiegen neue Menschen ein, trugen neue Gerüche, neue Duftprofile herein, sie kumulierten zu einem Brei aus Molekülen, der sich immer zäher und klebriger anfühlte. Auch wenn Yosh nur kurze Strecken zurücklegte, verließ er die Bahn jedes Mal mit trockner Kehle und einem Gefühl leichter Übelkeit.
Das Fahrrad war keine Alternative, denn dann fing er selbst an zu schwitzen, und in diesem Punkt verhielten sich Körpergerüche wie Geburtstagspartys: Die eigenen waren immer die Schlimmsten. Es war für Yosh undenkbar, eine Aureole aus Schweiß in die Musikschule zu tragen und später dann in die Philharmonie, selbst wenn er nur für eine kurze Orchesterprobe hereinschaute.
Man redete. Das war in der Branche so. Natürlich redete man auch über Yosh.
Der Maibach, wisst ihr, der spinnt.
Ein bisschen.
Hat es nicht so mit Menschen.
Redet zu leise und nur das Nötigste.
Sein Humor ist komisch.
Ich glaube, er hat keinen.
Habt ihr schon gehört? Der Maibach heiratet. Ja, ja, diese Schauspielerin.
Echt? Was will die denn mit dem?
Kommt schon! Wo die Liebe eben hinfällt.
Vieles war Quatsch, das meiste stimmte, und Yosh ignorierte beides gekonnt. Aber auf sein Verständnis von Hygiene legte er Wert.
Der Maibach, wisst ihr, der hält nichts vom Duschen.
So weit würde er es nie kommen lassen. So weit war es auch nie gekommen.
Im Grunde blieb dann nur Taxifahren, klimatisiert und ein in sich geschlossener Raum. Yosh mochte Taxis nicht, sie bedienten zu viele seiner Neurosen und sie erzeugten zu viel CO2.
Der Hamburger Sommer war ein Dilemma, jedes Jahr aufs Neue.
Die Toten änderten alles. Inzwischen wusste Yosh kaum noch, wie sich eine Dusche anfühlte. Wie es war, richtig sauber zu sein. Oder wenigstens warm.
Laut Camp-Kalender war es inzwischen März. Die Zählung hatte einen Toleranzbereich, lag vielleicht knapp eine Woche daneben, in die eine oder andere Richtung, doch gefühltes Datum und gefühltes Wetter stimmten einigermaßen überein. Am Tag zeigte sich eine blasshelle Sonne hinter einem Schleier aus Wolken. Der Boden war morgens gefrorener Schlamm, mit einer harten Schicht überzogen, hauchfein wie Eierschale und genauso zerbrechlich. Darunter lag eisiger Matsch, in dem man mit etwas Pech bis zur Wade einsank. Eisschlamm lief über die Ränder von Schuhen, und ab und zu musste ein Kleinkind befreit werden, weil es im Dreck steckengeblieben war. Danach wurde das verlorene Stiefelchen geborgen. Es dauerte Tage, bis es wieder trocknete.
Das Lager war übervoll, die Menschen rückten zusammen, in Zelten, Baracken, auf engstem Raum, und wahrscheinlich hatte diese Enge nicht wenigen hier das Leben gerettet. Körper drängten sich aneinander und, nun ja, manchmal auch ineinander. Eine Menge Beziehungen ergaben sich auf diese Weise. Manche dauerten bloß eine Nacht lang, manche hielten den kompletten Winter. Yosh war schon gespannt, wie viele das Frühjahr überstehen würden. Vero und er hatten sogar gewettet. Vero rechnete mit einer Trennungswelle, spätestens Mitte April. Yosh hielt dagegen.
Vero hatte geseufzt. »Schön, wenn man noch an die Liebe glaubt.«
Ihr Lächeln hatte Yosh traurig gemacht. Vero war zu jung, um so zynisch zu sein. Außerdem hatte sie einen Freund. Sie und Faruk waren ein süßes Paar, eigentlich. Sie sollten Händchen halten, spazieren gehen, sich gemeinsam betrinken, sich für irgendetwas begeistern. Aber das war es eben, was die Apokalypse aus den Menschen machte: Sie verloren die Zukunft, die Lebendigkeit, den Glauben daran, dass alles schon irgendwie gut werden würde.
Und zuallererst verloren sie jeglichen Anspruch an hygienische Standards.
Das Lager stank. Da war nichts zu machen.
Yosh wollte nicht wissen, wie die Hamburger Innenstadt inzwischen roch und ob er es überhaupt wahrnehmen würde. Eine Zombieapokalypse relativierte die Dinge, und in gewisser Weise war Schweißgeruch etwas Gutes. Wer schwitzte, der lebte noch, und wer noch am Leben war, ging einem nicht an die Kehle, wenigstens nicht sofort. Es gab eine gewisse Chance auf eine friedliche Nachbarschaft. Natürlich ohne Gewähr, aber wo bekam man die heutzutage noch? Von den Zombies einmal abgesehen. Deren Mordlust betrug hundert Prozent.
Fenja wand sich auf dem Schlafsack und stieß zitternd den Atem aus. Yosh hatte ihr die Finger unter den Hosenbund geschoben. Sie hielt sein Handgelenk, führte ihn gelegentlich. Sie hatte noch nie Scheu gehabt, ihm zu zeigen, was sie wollte. Das hatte Yosh immer an ihr gefallen.
Ihr Männerhemd war in die Höhe gerutscht, Yosh erahnte ihren Rippenbogen. Die Hüftknochen zeichneten sich deutlicher ab als früher.
»Unglaublich«, hatte sie einmal gesagt. »Dass ich früher freiwillig gehungert habe. Obsttage, Fastentage, der ganze Schwachsinn.«
»Für eine Rolle?«, hatte er gefragt.
»Nein, weil ich dachte, das macht man so. Als Frau. Als Schauspielerin. Bescheuerte Welt, bescheuertes System!«
»Ja«, hatte Yosh gesagt. Er war ein Mann, was immer das heißen mochte, vielleicht war ihm deshalb nicht Besseres eingefallen.
Yosh hatte selbst lange nicht mehr in den Spiegel geschaut, in Checkpoint 12 gab es keinen, doch der Anblick von Fenjas schmalem Leib vermittelte ihm eine gewisse Idee.
»Keine Sorge«, hatte Fenja gesagt. »Dir steht der asketische Look. Kein großer Unterschied zu früher.«
»Na dann.« Auch hier hatte Yosh es dabei belassen.
Fenjas Atem ging schneller, ihre Bauchmuskeln zogen sich in immer schnelleren Abständen zusammen, sie hielt seine Hand fester, verstärkte den Druck auf seine Finger, dann ließ sie los, was wohl bedeutete, dass er etwas richtig machte. Sie hatte ihn auf den Weg gebracht, jetzt kam es nur noch darauf an, Richtung und Rhythmus beizubehalten. Fenja drückte ihr Gesicht an seines, küsste ihn gierig, griff ihm in die Haare.
Es war diese Geste, die Yosh erstarren ließ. Kleine Hände in seinen Haaren, dunkle Augen, ein Puppengesicht mit Stupsnase, wie Fenja es niemals besessen hatte.
»Nicht aufhören.« Fenja keuchte. »Ich bin gleich so weit .«
Yosh schloss die Augen, fand den Rhythmus wieder. Im Grunde war Sex nichts anderes als ein Musikstück, man spielte es ab, allein, zu zweit oder in beliebiger Anzahl, und je nachdem, mit wem man es spielte, bekam es einen ganz eigenen Klang.
Fenja schnappte nach Luft, fasste noch einmal zu, diesmal so fest, dass es weh tat. Sie atmete heftig gegen seinen Hals, dann entspannte sie sich, so vollständig wie ein Katzenjunges. Er sah sie im Dunkeln lächeln. Sie küsste ihn. Zweimal kurz, einmal lang. Applaus für die Performance. Als Interpret war Yosh immer gut gewesen.
Fenja atmete ruhiger, hob den Kopf, küsste ihn noch einmal, biss ihn dann fordernd in die Unterlippe. Ihre Hand löste seine Gürtelschnalle. Er hatte vor kurzem zwei neue Löcher ins Leder gestanzt.
Drei wären besser gewesen.
Fenja tastete sich weiter vor. Yosh schloss die Augen.
Das Puppengesicht im Schatten lachte leise.
Fenja sah zu ihm auf. »Was ist los?«
»Nichts.« Yosh rückte ein Stück von ihr ab.
»Okay.« Fenja zog das Wort in die Länge und behielt ihn weiter aufmerksam im Blick.
»Tut mir leid.«
»Muss es nicht.«
Der Schmuckstein an ihrem Ohr war verschwunden. Daran hatte er sich immer noch nicht gewöhnt. Dort, wo der Stein hätte sein sollen, war eine winzige Kuhle, die nur sichtbar war, wenn das Licht in einem ganz bestimmten Winkel darauf fiel. Manchmal spürte er sie mit der Zungenspitze.
Fenja kicherte, als er ihr seinen Atem ins Ohr blies, es geschah unabsichtlich, ein verirrtes Versehen, das falsche Hoffnungen weckte. »Sicher, dass du nicht willst?«
»Ja, mir geht´s gut.«
Sie fragte nicht noch einmal. »Dann schlaf schön.«
»Du auch.«
Bald atmete sie ruhig und regelmäßig. Sie hatte die Gabe, schnell einzuschlafen. Immer schon.
»Na sowas.« Es zwitscherte sachte an seinem Ohr. »Bei mir hast du dich nie so angestellt.«
Yosh schloss die Augen. Es war ein Reflex. Helfen würde es nicht.
»Willst du nicht?«, bohrte das Stimmchen weiter. »Oder kannst du nicht?«
Er warf sich auf die Seite, drehte der Erscheinung den Rücken zu. Wenn er sie ignorierte, dann verschwand sie, früher oder später.
Ein süßer Geruch waberte ihm in die Nase. Kiyomi kündigte sich immer durch Erdbeerduft an. Als wäre der Kaugummi mit dem künstlichen Aroma, den sie schon als Kind gekaut hatte, nach und nach in ihren Körper eingedrungen, und dann durch sämtliche Poren wieder ausgeströmt. Sie hatte immer geduftet. Auch ungewaschen.
Kiyomi trat dicht ans Bett heran und beugte sich über Fenja. Sie schnüffelte an ihren Haaren, ihrem Hals, witterte wie ein kleiner Hund.
Yosh wollte etwas tun. Er wollte sagen »Lass das!«
Doch er konnte nur stumm zusehen, vor Widerwillen...
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