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Johannes Corbis stellte den Scheibenwischer auf die nächsthöhere Stufe. Aber das nützte auch nicht viel, denn sein alter Audi fiel langsam auseinander. Das Gummi hatte sich von den Scheibenwischern gelöst und somit verband sich der Staub mit den Regentropfen und hinterließ nichts als schlammige Streifen auf der Windschutzscheibe. Er schlug wütend mit der flachen Hand auf das Lenkrad. So ein Mist.
Das passte wunderbar zu diesem beschissenen Tag, diesem furchtbaren Abend, der genauso endete, wie er heute Morgen befürchtet hatte. Johannes schaute auf die nasse Straße, die nur mühsam von den altersschwachen Scheinwerfern aufgehellt wurde. Straßenbeleuchtung in dieser entlegenen Gegend? Fehlanzeige.
Flaches Land, Knüste, Niemandsland: hoch im Norden.
Der angekündigte Sturm war unübersehbar im Anzug, die mächtigen Wolken fegten mit großer Geschwindigkeit über den dunklen Abendhimmel. Er konnte die schweren Tropfen auf das Dach des Autos fallen hören. Sommergewitter. Hatte er nie gemocht, schon als Kind nicht. Regen, Donner und am nächsten Tag alles unter Wasser und verschlammt. Hier auf dem Gut hatten sie erst die Straßen geteert, nachdem er ausgezogen war. Ausgezogen? Quatsch. Geflüchtet!
Müde wischte er sich über die Augen, schaute kurz in den Rückspiegel und stöhnte frustriert auf, als er das zerrüttete Gesicht sah, das ihm entgegenblickte. Er konnte sich und der Welt nichts mehr vormachen. Seine besten Jahre waren eindeutig vorbei und das jahrelange Gesaufe und die zwei Schachteln Zigaretten, die er sich täglich durch die Lungen zog, hatten ihre Spuren hinterlassen.
Dicke Tränensäcke unter den Augen und heruterhängende Lefzen wie bei einem alten Jagdhund blickten ihm deprimiert aus seinem müden Gesicht entgegen. Tiefe Falten auf der Stirn und die dünner werdenden Haare, von grauen Strähnen durchzogen. Unumkehrbar, außer, er würde sich liften lassen. Am besten ein Ganzkörperlifting, damit der nicht zu übersehende Speckwanst auch gleich mit beseitigt werden konnte.
Alles Quatsch. Er wusste, dass das nicht die Lösung war. Solange er jeden Tag eine halbe Flasche Wodka trank und Kette rauchte, sah er nach einem Jahr genauso aus wie jetzt. Haribo und der täglich in sich reingestopfte Sahnekuchen taten ihr Übriges. Vor ein paar Jahren hatte er fünfzehn Kilo abgespeckt. Hatte sich besser gefühlt, aber die Dämonen in seiner Seele saßen tief, fest verankert. Der Ruf nach Wodka war stärker als seine Disziplin, irgendeine Ausrede fand er immer! Ehrlichkeit ist ein einsames Wort.
Er sah die Schachtel mit den Zigaretten, die auf dem Beifahrersitz lag. Leer. Johannes stöhnte leise auf und griff umständlich hinter sich, um seine Tasche vom Rücksitz nach vorne zu holen. Ein stechender Schmerz durchzuckte seinen rechten Arm. Wie immer dachte er sofort an einen Herzinfarkt, der ihn früher oder später zwei Meter tiefer legen würde. Am besten früher als später, dachte er und hustete laut.
In diesem Moment zuckte ein Blitz auf und keine zwei Sekunden später hallte ein unglaubliches Grollen durch die nasse Abendluft. Beinahe hätte er die Abbiegung verpasst. Johannes bremste automatisch und hielt den Wagen an. Ein Scheideweg. Genau das war es. Es musste sich was ändern. Er musste sich ändern! Er spürte es. Aber er wusste auch, dass ihm die Kraft dazu fehlte, der Antrieb, ein Grund!
Er nahm eine neue Packung aus der Tasche, riss die Plastikverpackung ungeduldig auf, hustete wieder und zündete sich dann mit leicht zitternder Hand eine Zigarette an. Inhalierte tief. Der Motor lief weiter und ein neuer Blitz erhellte die dunkle Landschaft. Vor ihm die leere Kreuzung, ein matschiger Feldweg. Dahinter die dunklen Felder, auf denen im Frühjahr der Spargel wuchs. Rechts ab ging es Richtung Hamburg, links nach Bremervörde. Wie oft hatte er schon hier gestanden, früher mit seinem Fahrrad, heute mit der altersschwachen Blechkiste, die nur noch der Rost zusammenhielt. Damals wie heute hatte er sich nur weg gewünscht. Weg aus dieser norddeutschen Tiefebene mit ihren Wiesen und Schafen, den Maisfeldern, den Kühen, weg von den einfältigen Bauern, die nur die Ernte, Schweine, Spargel und das Saufen im Kopf hatten. Weg von Dorfbewohnern und ihren neuen Eigenheimen, die so eng nebeneinander gebaut wurden, dass man dem Nachbarn in die Suppe spucken konnte.
Weg von dem Getratsche, dem monotonen Leben, das sang- und klanglos gelebt wurde. Die Zukunft schon früh im Leben aufgebraucht.
Genervt verzog Johannes den Mund.
Er wusste was Landleben bedeutet. Es hatte nichts mit der Vorstellung zu tun, die Redakteure von neumodischen Hochglanzmagazinen den drangsalierten Städtern verkauften. Raus aufs Land. Ruhe abseits des hektischen Stadtlebens. Gemütlichkeit. Alles Quatsch. Aufgewachsen auf dem großen Viehhof seines Vaters, Entschuldigung, dem Gut, wie Konrad es nannte, den Johannes in seinem Kopf und auch in Gesprächen mit Freunden und der Presse nur als Erzeuger und gerne auch als Arschloch bezeichnete. Konrad, sein Übervater, dieser selbstgefällige alte Besserwisser, der ihn nie unterstützt hatte, nur an seinem Hof und seinem Ruf als erfolgreichster Landwirt der ganzen Stader Region interessiert war.
Behütete Kindheit auf dem Land gab es nicht für Johannes und seine Geschwister. Da hieß es nur zackig raus, Kühe melken, Heu einholen, Stall ausmisten, Klappe halten oder man hatte sich gleich wieder eine Ohrfeige eingefangen. Seine Mutter war gestorben, als er gerade zwölf war. Konrad wurde unausstehlich, noch fremder als zuvor, trank zu viel und Familienleben fand nicht statt. Johannes hielt die Klappe und zählte die Stunden bis zu seinem achtzehnten Geburtstag, an dem er endlich gehen konnte. Andrea, die neue Frau an Konrads Seite, tat ihr Übriges, um ihm das Leben schwer zu machen. Eine dumme, einfältige Pute, die nur das nachschnatterte, was Konrad ihr in den hohlen Kopf gesetzt hatte. Aber der Betrieb lief gut, die dümmsten Bauern haben die dicksten Kartoffeln, und in Konrads Fall die besten Rinder, die meiste Milch. Hochgelobt, erfolgreich, geschätzt und gefürchtet. Das war der alte Sack im Landkreis, dazu ehrenamtlich tätig.
Aber Johannes durchschaute das ganze scheinheilige Getue und die geschickten Manipulationen seines Vaters, der andere ohne Ehrgefühl und Anstand über den Tisch zog. Immer mehr Land kaufte, mehr Hormone in sein Vieh spritzte, bessere Preise für das Fleisch und die Milch erzielte. Auch jetzt noch, obwohl Konrad bereits Mitte siebzig war. Der hatte so viel Dreck am Stecken, dessen war sich Johannes sicher. Es war nicht alles koscher auf dem Gut Kahl, das sein Vater vor einem halben Jahrhundert irgendjemandem abgequatscht hatte, für'n Appel und ein Ei.
Jetzt war seine Leber im Arsch, das lag in der Familie, sie tranken alle viel, aber ansonsten war er fit, das alte Schlachtross. Klopfte sich ständig stolz auf die immer noch muskulöse Brust und posaunte zu allen Gelegenheiten, dass er ein Leben lang draußen gearbeitet hatte: Hart, ehrlich, unerbittlich. Kein Warmduscher und Weichei wie sein Sohn, dieser Schmierenkomödiant, diese Memme, die es zu nichts gebracht hatte. Der sich vom Hof gemacht hatte, als er dringend gebraucht wurde. Johannes wusste, was sein Vater von ihm hielt, er zeigte ihm seine Verachtung jedes Mal unverhohlen, wenn sie sich notgedrungen begegneten. Da nützte auch der Grimme Preis nichts, die Goldene Kamera oder der Deutsche Fernsehpreis, den er vor zehn Jahren für die Darstellung eines Kommissars in einem erfolgreichen Film bekommen hatte. Johannes verzog schmerzerfüllt das Gesicht, die ganze Schulter und sein Nacken waren verspannt, aber es war mehr die Missachtung Konrads, die wehtat. Immer noch und jedes Mal, seit Kindertagen tief verankert in seiner schutzlosen Jungenseele.
Egal, was er gemacht hatte.
Mit 18 von zuhause weg und mit 21 Jahren bereits am deutschen Schauspielhaus. Mit 25 im Fernsehen, der erste Film, bekannt in ganz Deutschland. Bambi als größte neue Hoffnung, Rubrik Schauspieler. Talent, ja das hatte er, keine Frage. Aber er war auch hungrig nach dem Leben, gierig nach Anerkennung, kaschierte seine Unsicherheit geschickt.
Ein Überflieger, grandios, aber auch als eingebildeter Fatzke angesehen. Das brach ihm schnell das Genick und kostete ihn den Ruf. Nicht nur bei den Kollegen, die ihn durchschauten. Auch bei den Castingagenten, den Regisseuren. Die Branche war klein, das Gerede groß. Talent allein reichte nicht aus in diesem Job. Und mit jedem schlafen konnte er auch nicht. Vorprogrammierter Absturz. Drogen, Alkohol, Nutten. Nach einem Skandal richtete die Bildzeitung ihn öffentlich und ohne Skrupel hin. Es ging um Sex mit einer Minderjährigen. Himmel, das Mädchen war fünfzehn, sah aus wie Mitte zwanzig und hatte es faustdick hinter den Ohren, woher sollte er denn alles wissen? Zur Tatzeit zugedröhnt, nicht aufnahmefähig, sein Gehirn auf den Schwanz reduziert.
Fuck. Erneut schlug Johannes auf das Lenkrad. Seitdem hatte er den Absprung nicht mehr geschafft. Hier mal eine...
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