Schweitzer Fachinformationen
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Es fällt mir nicht leicht, diese Geschichte zu erzählen. Ich widme sie dem Andenken meiner Schwester, die vor nur zehn Monaten, im Frühling letzten Jahres, an einem trägen Tag, an dem die Eichelhäher heiser schrien und die Sonne warm und sanft vom Himmel schien, tot in ihrer Wohnung in Davis aufgefunden wurde, während draußen die knospenden Bäume ihre ersten Blüten öffneten. Es war ein herrlicher Tag, die Art von Frühlingstag, die eine Verheißung von reiner Unschuld und Neubeginn bereithält - einer der Tage, an denen der Sonnenschein die Stadt erstrahlen läßt. Aber während draußen der Frühling seinen Einstand gab, lag drinnen in der Wohnung meine liebe Schwester, Klebeband über dem Mund und um die nackten Hand- und Fußgelenke gewickelt. Sie war brutal mißhandelt und gequält worden, und ihre Leiche verrottete - zwei Wochen lang unbemerkt - in der Hitze eines Raumes, in dem das Heizungsthermostat auf zweiundzwanzig Grad eingestellt war. Dies ist ihre Geschichte und die Geschichte von Michael M., einem Musikprofessor an der Universität, der immer noch in Davis lebt und den ich für ihren Mörder halte.
Mein Name ist Nora Tibbs, und meine Schwester Frances war vierundzwanzig, als sie starb. Wir sind beide in Davis aufgewachsen, einer kleinen Universitätsstadt, fünfundzwanzig Kilometer westlich von Sacramento. Der Tod ist für mich nichts Neues. Ich hatte einen jüngeren Bruder, Billy, der im Alter von nur zwölf Jahren bei einem Wanderausflug tödlich verunglückte. Es war eine schwierige Zeit für uns alle. Billys Abwesenheit war so schmerzhaft, die Erinnerung an ihn noch in jedem Raum des Hauses lebendig. Meine Eltern sehnten sich nach einer Veränderung. Schließlich zogen sie mit Franny nach Montana. Ich war zehn Jahre älter als meine Schwester, und da ich gerade eine neue Stelle als Journalistin angetreten hatte, blieb ich zurück und zog nach Sacramento, an meinen Arbeitsort. Ein Jahr später waren meine Eltern tot. Sie waren bei einem Autounfall ums Leben gekommen, und Franny, damals erst vierzehn, kam nach Sacramento, um bei mir zu leben.
Wir waren einander überhaupt nicht ähnlich. Ich bin wie mein Vater groß und athletisch gebaut und trete recht bestimmt auf, wenn die Situation es verlangt. Franny dagegen war weich und rundlich und blaß. Ihr Haut war zart wie die eines Babys, und sie hatte etwas Gemütliches, Zerknautschtes an sich: Ihre Klamotten waren immer groß und weit, ihre langen braunen Haare ein Wirrwarr aus Locken. Sie war ungewöhnlich schüchtern und daher leicht zu übersehen. Ihre Stimme wurde immer leiser, wenn ihr jemand zu aufmerksam zuhörte, und auf Partys - den wenigen, zu denen ich sie mitschleppen konnte - neigte sie dazu, sich wie ein Chamäleon dem Hintergrund anzupassen, indem sie einfach mit der Einrichtung verschmolz. Wenn jemand versuchte, sie ein wenig aus der Reserve zu locken, und ihr dabei zu nahe kam, wurde sie plötzlich spröde und ausweichend, als hätte sie ihr ganzes Leben damit verbracht, nervös auf den Moment hinzuzittern, in dem ein Lehrer sie herauspicken und nach etwas fragen würde, das sie nicht beantworten konnte: In solchen Momenten trat ein Ausdruck des Unbehagens in ihre Augen, sie wandte den Blick ab und zog den Kopf ein; sie verschränkte die Arme über der Brust, als wolle sie sich selbst umarmen, und zog sich in ihr Inneres zurück.
Franny arbeitete in Sacramento als Dialyseschwester, was bedeutete, daß sie die meisten Arbeitstage mit Leuten verbrachte, die Nierenprobleme hatten. Sie schloß sie an Maschinen an, die sie am Leben erhielten, indem sie das Gift aus ihrem Blut herausfilterten. Es war kein Zufall, daß Franny Dialyseschwester wurde. Sechs Monate vor seinem Unfall erkrankte unser Bruder an Glomerulonephritis, einer Nierenentzündung, die bei ihm zu Nierenversagen führte. Er mußte zur Dialyse und kam auf eine Warteliste für eine Spenderniere. Nach Billys Tod faßte Franny den Entschluß, Dialyseschwester zu werden. Ich verstand ihre Motivation - sie und Billy waren nur ein Jahr auseinander gewesen und hatten einander sehr nahegestanden -, aber ihre Entschlossenheit wirkte fast schon besessen, als würde sie mehr von Schuld als von Liebe getrieben.
Trotzdem schien ihr die Arbeit zu liegen. Sie erwies sich - und das überraschte mich - als sehr kompetent. Jede Schüchternheit und Unsicherheit fiel von ihr ab. Sie huschte geschäftig im Büro herum, gab Medikamente aus, schloß einen Patienten an die Maschine an, maß bei einem anderen den Blutdruck, tröstete nebenbei einen dritten. Sie hatte alles unter Kontrolle. Wer Franny kannte, wußte, daß das kein Wort war, das die Leute normalerweise auf sie angewendet hätten. Aber ein paar Stunden später, sobald sie das Gefühl hatte, daß die Dinge sie zu überwältigen drohten, zog sie sich wie eine Schildkröte in ihren Panzer zurück.
Inzwischen war sie wieder nach Davis gezogen. Sacramento machte ihr angst - sie gewöhnte sich nie an die vielbefahrenen Freeways (die eigentlich gar nicht so hektisch sind, verglichen mit dem Verkehr in Los Angeles oder San Francisco), die Zeitungsberichte über Gewalttaten, Schießereien, gelegentliche Messerstechereien, Morde unter Bandenmitgliedern. Franny pendelte lieber zur Arbeit. Davis war ruhig, und abgesehen von ein, zwei Fahrraddiebstählen, gab es dort kaum Kriminalität. Sie mochte den Markt am Samstagvormittag im Central Park. Sie genoß es, mit ihrem Rad durch das Arboretum, die Baumschule auf dem Unigelände, zu fahren und am Putah Creek die Enten zu füttern. Bei dieser Gelegenheit lernte sie Michael M. kennen.
Meine Schwester führte auf ihrem Macintosh-Computer ein bruchstückhaftes Tagebuch, das sie »Franny's File« nannte. Als ich es las, entdeckte ich, daß ich sie überhaupt nicht gekannt hatte. Sie schrieb über ihre Leidenschaften, über ihre Sehnsüchte und Sorgen. Sie schrieb über Michael M., über die Dinge, die er ihr antat, ihre Erniedrigung und Verzweiflung. Seine subtile, unterschwellige Schwärze sickert zwischen ihren Worten hindurch; trotzdem wirkt der Ton ihrer Tagebucheinträge naiv und unschuldig. Sie scheint nicht in der Lage gewesen zu sein, zwischen ihren eigenen Zeilen zu lesen und zu erkennen, wie krank M.s Phantasie war. Wie ein metastasenbildender Krebs manövrierte er sich in ihr Leben und machte sich daran, sie zu zerstören.
Die Polizei hat ihren Mörder noch nicht gefaßt, und obwohl die ermittelnden Beamten ihr Tagebuch gelesen haben, hat man M. laufenlassen. Aus Mangel an Beweisen, hieß es. Er habe kein Motiv, nichts, was ihn mit dem Verbrechen in Verbindung bringe. Das einzige, was das Tagebuch beweise, sagte ein Beamter nicht gerade taktvoll zu mir, sei, »daß Ihre Schwester in punkto Männer keine besondere Menschenkenntnis besaß«. Sie sind in eine Sackgasse geraten, aber ich habe vor, ihnen die Beweise zu liefern, die sie brauchen. Daß M. nicht angeklagt worden ist, heißt noch lange nicht, daß er die Tat nicht begangen hat. Jeder, der Frannys Tagebuch gelesen hätte - der gelesen hätte, was er ihr angetan hat -, würde verstehen, wieso er schuldig ist und wieso ich ihn nicht davonkommen lassen werde - nicht davonkommen lassen kann.
Ich habe immer geglaubt, daß die Menschen grundsätzlich gut sind, daß sie in einem Zustand der Gnade geboren werden, an dem nur ein unglückliches Umfeld etwas ändern kann. Ich habe immer geglaubt, daß das Böse - das ererbte, angeborene Böse - nicht existiert. Inzwischen bin ich mir nicht mehr so sicher. Ich bin Journalistin, schreibe wissenschaftliche Artikel für den Sacramento Bee, und im Lauf der Jahre habe ich dabei folgendes gelernt: In der Debatte »Erbe versus Erziehung« erweist sich das Erbgut letztendlich als Sieger. Die Gehirnforschung gelangt zunehmend zu der Erkenntnis, daß die Gene eine viel größere Rolle für das menschliche Verhalten spielen, als bisher angenommen. Die Wissenschaftler spekulieren sogar, daß Gewalttätigkeit erblich ist und daß der männliche Teil unserer Spezies ein Gen in sich trägt, das ihn dazu drängt, sich aggressiv zu verhalten und eher den Krieg zu suchen als den Frieden. Männer benehmen sich einfach anders als Frauen, und nach Meinung verschiedener Wissenschaftler haben diese Verhaltensunterschiede biologische Wurzeln. An diesem Punkt sollte ich - nur, um Mißverständnisse zu vermeiden - vielleicht klarstellen, daß ich Männer mag, schon immer gemocht habe. Die Männer schlechtzumachen ist nicht mein Metier, und mein Ziel besteht nicht darin, aus einem höchst persönlichen Motiv heraus das gesamte männliche Geschlecht als bösartig darzustellen. Ich habe durchaus gute Beziehungen mit Männern gehabt.
Aber wenn es stimmt, daß Männer aufgrund ihrer Gene zu Gewalt und Aggression neigen, ist dann auch Bösartigkeit eine Frage der Biologie? Existiert das Böse als eine Art Normabweichung - vielleicht als Genmutation, als Folge eines schiefgegangenen Vererbungsprozesses? Existiert es in manchen Männern so ausgeprägt, daß es ein fester Bestandteil ihres Wesens ist? Die Antworten auf diese Fragen weiß ich nicht. Ich weiß nur, daß manche Männer, sei es durch ihre Erbanlagen, sei es durch ihre Erziehung, tatsächlich böse sind, und diese Geschichte, Frannys Geschichte, handelt von dem Leid, das ein solcher Mann verursacht hat.
Böse Menschen sind nicht an ihrer schwarzen Kleidung zu erkennen, und sie werfen auch keinen Halbschatten unheilvollen Dämmerlichts. Sie sind von den Leuten im Nebenhaus nicht zu unterscheiden. M. lehrt immer noch an der UCD, der University of California in Davis. Ich sehe ihn in Begleitung anderer Frauen, junger und alter. Er sagt etwas, und sie lächeln oder lachen. Er sieht harmlos aus, nicht wie ein Mensch, der eines Mordes fähig wäre....
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