1 Prolog:
Der Kapitalismus am Ende seiner Zeit
Der Kapitalismus, wie wir ihn heute erleben, ist nicht das Versprechen, das er einst war, und erst recht nicht die Notwendigkeit, als die er sich selbst immer noch ausgibt. Ursprünglich als Reaktion auf die Starrheit feudaler Ordnungen und die Arbitrarität absolutistischer Machtverhältnisse entstanden, stellte er zunächst tatsächlich eine historisch progressive Kraft dar: Er ermöglichte Eigentum jenseits von Geburt, verknüpfte individuelle Anstrengung mit sozialem Aufstieg, schuf durch Märkte eine Dynamik, die Innovationen freisetzte, und ließ durch die Entfesselung von Produktion erstmals in der Menschheitsgeschichte die Möglichkeit entstehen, dass Überfluss nicht nur eine Ausnahme, sondern ein systemischer Zustand sein könnte (Polanyi, 1944/2001; Landes, 1998). Die Entstehung des modernen Bürgertums im 18. und 19. Jahrhundert, das Aufkommen freiheitlich-demokratischer Ideen in Zusammenhang mit Eigentumsrechten und die damit verbundene Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft wären ohne kapitalistische Ökonomien ebenso wenig denkbar wie das Industriezeitalter selbst (Weber, 1905/2001).
Doch was damals als historische Befreiung empfunden wurde, hatte seinen Preis - einen Preis, der sich über Generationen kumulierte und heute, im Spätstadium kapitalistischer Logik, zur systemischen Hypothek geworden ist. Schon im 19. Jahrhundert beschrieben Denker wie Karl Marx oder John Stuart Mill die strukturelle Tendenz zur Ungleichverteilung von Kapital, zur Akkumulation von Eigentum in den Händen weniger und zur Entwertung menschlicher Arbeit durch die Mechanismen des Marktes (Marx, 1867/2005; Mill, 1848/2004). Die Industrialisierung brachte nicht nur Fortschritt, sondern auch Ausbeutung, nicht nur Maschinen, sondern Massenelend, nicht nur Fabriken, sondern Fabrikbrände. Die Entstehung der Arbeiterbewegung war kein Zufall, sondern eine historisch notwendige Korrektur auf ein System, das Wachstum nicht an soziale Verträglichkeit koppelte, sondern ausschließlich an Rentabilität.
Im 20. Jahrhundert, unter dem Eindruck zweier Weltkriege und der weltweiten Depression von 1929, entstanden sozialstaatliche Gegenmodelle: Die New-Deal-Politik in den USA, der Wohlfahrtsstaat in Westeuropa, das System der sozialen Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland. Doch diese Korrekturen waren nicht systemüberwindend - sie waren systemstabilisierend. Sie erkauften Frieden durch Konsum, Integration durch Kredit, Zugehörigkeit durch Beschäftigung. Und solange Wirtschaftswachstum und Ressourcenexpansion Hand in Hand gingen, funktionierte dieses Modell erstaunlich gut - zumindest für die industrialisierten Nationen des globalen Nordens (Esping-Andersen, 1990; Streeck, 2014).
Doch seit den 1970er Jahren ist ein schleichender, inzwischen dramatischer Strukturwandel zu beobachten. Die Finanzialisierung der Ökonomie, also die Ablösung realwirtschaftlicher Produktion durch spekulative Kapitalströme, die
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zunehmende Entkopplung von Lohn und Produktivität (Mishel & Bivens, 2021), die globale Deregulierung von Arbeits- und Finanzmärkten sowie die Schwächung organisierter Arbeiterschaft durch Gewerkschaftszerschlagung - etwa unter Reagan in den USA oder Thatcher in Großbritannien - haben dazu geführt, dass der Kapitalismus heute nicht mehr das Versprechen auf Beteiligung erfüllt, sondern sich zunehmend als Instrument sozialer Segmentierung und politischer Entdemokratisierung erweist (Harvey, 2005; Crouch, 2011). Während technologische Entwicklungen wie die Digitalisierung theoretisch den Zugang zu Bildung, Kommunikation und kultureller Teilhabe für alle Menschen erleichtern könnten, hat sich faktisch eine neue Klasse von Plattformkapitalisten etabliert, deren Akkumulationsdynamiken sich jeder nationalstaatlichen Kontrolle entziehen (Srnicek, 2017).
Gleichzeitig geraten fundamentale Lebensbereiche - Gesundheit, Pflege, Wohnen, Energie, Bildung - unter die Logik marktwirtschaftlicher Effizienz. Dabei zeigt sich in der Praxis: Was betriebswirtschaftlich optimiert wird, funktioniert gesellschaftlich oft schlechter. Die Privatisierung der Altersvorsorge hat Altersarmut nicht verhindert. Die Auslagerung von Pflege in prekarisierte Subsysteme hat weder Menschlichkeit noch Nachhaltigkeit befördert. Und der Wohnungsmarkt, längst zur Spekulationsfläche degradiert, produziert keine Wohnungen für Menschen, sondern Assets für Portfolios (Aalbers, 2016).
Was wir erleben, ist keine funktionale Krise, sondern ein zivilisatorischer Erschöpfungszustand. Die massive Zunahme psychischer Erkrankungen, insbesondere bei jungen Menschen (OECD, 2021), der Vertrauensverlust in demokratische Institutionen, die Radikalisierung politischer Ränder - all das sind keine "Nebenwirkungen", sondern systemimmanente Folgen einer Wirtschaftsform, die Menschen zunehmend als Kostenfaktor, Märkte als Naturgesetz und Gewinn als anthropologische Konstante begreift.
Die Frage lautet also nicht mehr: Wie retten wir den Kapitalismus? Sondern: Was kommt danach - und wann beginnen wir, es zu denken?
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2 Eine kurze Geschichte des Geldes: Von Muscheln zur
Datenbank
Geld ist kein Naturphänomen - es wächst nicht auf Bäumen, folgt keinen Naturgesetzen und ist nicht "einfach da". Vielmehr ist es eine soziale Technologie, die von Menschen geschaffen wurde, um komplexe Beziehungen zu strukturieren: zur Organisation von Vertrauen, zur Erleichterung von Tausch und zur Verwaltung von Schuld (Graeber, 2011, S. 21). Diese Funktionen waren niemals neutral, sondern tief eingebettet in kulturelle, politische und moralische Ordnungen. Geld entscheidet darüber, wer zählt, wer bekommt, wer schuldet - und damit, wer Macht hat.
Anders als es der populäre Mythos vom Tauschhandel suggeriert - dem zufolge Geld aus der Unpraktikabilität direkter Tauschgeschäfte entstanden sei -, zeigen anthropologische und historische Studien: Geld war von Anfang an ein Instrument sozialer Kontrolle und symbolischer Macht (Innes, 1913; Hudson, 2004). Es diente lange vor dem Markt der Absicherung religiöser oder staatlicher Machtansprüche, etwa durch Tempel- oder Palastwirtschaften, die Einheiten von Arbeit und Schuld in symbolischen Werten abrechneten. Damit ist Geld nicht einfach "Tauschmittel" - es ist ein politisch aufgeladener Vertrauensspeicher, der materielle und symbolische Ressourcen gleichermaßen ordnet.
2.1 Vom Tausch zur Repräsentation
Der weitverbreitete Glaube, Geld sei aus einem vormodernen Tauschhandel hervorgegangen - etwa: "Ich gebe dir ein Schaf für drei Tonkrüge" - ist historisch kaum haltbar. Die anthropologische und wirtschaftshistorische Forschung zeigt deutlich: Ein solcher direkter Warentausch ist in keiner archäologisch belegten Gesellschaft als dominantes Wirtschaftsmodell nachgewiesen worden (Graeber, 2011). Vielmehr funktionierten Frühgesellschaften überwiegend über Beziehungsökonomien: soziale Bindungssysteme, in denen Gabe, Gegengabe und symbolisches Prestigedenken zentral waren. Hierbei ging es weniger um Äquivalenz als um Vertrauen, Verpflichtung und soziale Stabilität (Mauss, 1925/2002).
Geld entstand in diesem Kontext nicht primär als neutrales Tauschmedium, sondern als Verwaltungsform von Schuld - oftmals kontrolliert durch religiöse, militärische oder staatliche Institutionen. Schon in Mesopotamien war Geld in Form von Silbergewichten eng an die Verwaltung von Schuld, Tribut und Strafe gekoppelt (Innes, 1913; Hudson, 2004). In diesem Sinne ist Geld kein ökonomisches Naturphänomen, sondern eine soziale Technologie, die politische Macht, religiöse Autorität und ökonomische Koordination miteinander verknüpft (Graeber, 2011).
2.2 Metall, Macht und Vertrauen
Mit der Antike etablierte sich das Münzgeld - jedoch nicht primär aus praktischen Erwägungen, sondern als Ausdruck politischer Kontrolle. Die Prägung von Münzen war eine symbolische wie materielle Machtdemonstration: Nicht das Edelmetall an sich garantierte den Wert, sondern die Autorität des Herrschers. Die Münze wurde so zum Träger politischer Legitimation - ein Versprechen staatlicher Ordnung in metallischer Form (Keynes, 1930).
In der Neuzeit wurde dieses Vertrauen durch materielle Deckung weiter formalisiert: Gold- und Silberstandards galten als Garant für Stabilität, berechenbare Außenhandelsbeziehungen und solide Staatsfinanzen. Doch auch diese Systeme waren keineswegs neutral, sondern tief eingebettet in imperiale Machtverhältnisse. Kolonien wurden ausgebeutet, um die Metalle für diese Standards zu sichern - sei es durch erzwungene Minenarbeit, Rohstofftransfers oder asymmetrische Handelsverträge (Landes, 1998; Rodney, 1972). Die Stabilität der Währung war oft direkt abhängig von kolonialer Ausbeutung und militärischer Expansion - und diente nicht zuletzt dazu, imperiale Dominanz auf globaler Ebene durchzusetzen.
2.3 Papier, Kredit, Algorithmus
Mit der Entstehung moderner Zentralbanken und Bankensysteme im 17. bis 19. Jahrhundert wandelte sich das Verständnis von Geld erneut: vom materiellen Objekt zur abstrakten Forderung. Banknoten ersetzten das Edelmetall als Zahlungsmittel, Buchgeld - also rein rechnerische Ansprüche - dominierte zunehmend den Zahlungsverkehr. Der Bruch mit dem Goldstandard im 20. Jahrhundert markierte schließlich den vollständigen Übergang zu einem kreditbasierten, staatlich garantierten Geldsystem. Fiat-Geld, das keine materielle Deckung mehr aufweist, sondern rein...