Einführende Bemerkungen und
Erklärungen
DEM DURCHSCHNITTSLESER wird es schwerfallen, sich durch die Vielfalt der russischen Organisationen - politische Gruppen, Komitees, Zentralkomitees, Sowjets, Dumas und Verbände durchzufinden. Deshalb möchte ich hier einige kurze Definitionen und Erklärungen dazu geben.
Politische Parteien
Bei den Wahlen zur Konstituierenden Versammlung gab es in Petrograd siebzehn Listen und in einigen Provinzstädten bis zu vierzig; die folgende Übersicht über die Ziele und die Zusammensetzung einiger politischer Parteien und Gruppen beschränkt sich jedoch auf die in diesem Buch erwähnten. Ich kann hier über ihr Programm und den allgemeinen Charakter ihrer Anhänger nur das Wesentlichste sagen ...
1. Monarchisten verschiedener Schattierungen, Oktobristen usw. Diese ehemals so mächtigen Gruppen bestanden als legale Parteien nicht mehr; sie arbeiteten entweder illegal, oder ihre Mitglieder schlossen sich den Kadetten an, die dem politischen Programm der Monarchisten immer näher kamen. Ihre in diesem Buch genannten Vertreter sind Rodsjanko und Schulgin.
2. Kadetten. Diese Bezeichnung leitet sich von den Anfangsbuchstaben des Namens »Konstitutionelle Demokraten« ab. Ihr offizieller Name lautet »Partei der Volksfreiheit«. Unter dem Zaren eine Partei der Liberalen aus den Reihen der besitzenden Klassen, traten die Kadetten damals als die große Partei der politischen Reformen auf und entsprachen damit mehr oder weniger der Fortschrittspartei in Amerika. Als im März 1917 die Revolution ausbrach, bildeten die Kadetten die erste Provisorische Regierung. Das Kabinett der Kadetten wurde im April gestürzt, weil es sich für die imperialistischen Ziele der Alliierten aussprach, einschließlich der imperialistischen Ziele der Zarenregierung. Je mehr die Revolution einen sozialen und ökonomischen Charakter annahm, desto konservativer wurden die Kadetten. Ihre Vertreter in diesem Buch sind Miljukow, Winawer, Schazki.
2a. Bund von Männern der Öffentlichkeit. Nachdem die Kadetten durch ihre Verbindung zur Konterrevolution Kornilows jede Popularität verloren hatten, wurde in Moskau der »Bund von Männern der Öffentlichkeit gebildet. Delegierte dieser Gruppe erhielten Ministerposten im letzten Kabinett Kerenskis. Die Gruppe gab sich als überparteilich aus, aber ihre intellektuellen Führer waren Männer wie Rodsjanko und Schulgin. Dieser Gruppe gehörten die »modernen« Bankiers, Kaufleute und Fabrikanten an, die klug genug waren, um einzusehen, dass man die Sowjets mit ihren eigenen Waffen bekämpfen musste - mit der wirtschaftlichen Organisation. Typisch für diese Gruppe sind Lianosow und Konowalow.
3. Volkssozialisten oder Trudowiki (Gruppe der Arbeit). Zahlenmäßig eine kleine Partei. Zu ihren Mitgliedern gehörten gemäßigte Intellektuelle, die Führer der Genossenschaften und konservativen Bauern. Obwohl sie vorgaben, Sozialisten zu sein, unterstützten die Volkssozialisten in Wirklichkeit die Interessen des Kleinbürgertums - der Beamten, Gewerbetreibenden usw. Sie übernahmen als direktes Erbe die kompromisslerischen Traditionen der »Gruppe der Arbeit« in der zaristischen Duma, der vor allem Bauernvertreter angehört hatten. Kerenski war der Führer der Trudowiki in der zaristischen Duma, als die Märzrevolution 1917 ausbrach. Die Volkssozialisten sind eine Nationalistische Partei. Ihre Vertreter in diesem Buch sind Pschechonow und Tschaikowski.
4. Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands. Ursprünglich eine marxistische Partei. Auf ihrem Parteitag von 1903 spaltete sie sich über Fragen der Taktik in zwei Gruppen - die Mehrheit (Bolschinstwo) und die Minderheit (Menschinstwo). Daraus ergaben sich die Bezeichnungen »Bolschewiki« und »Menschewiki« - »Angehörige der Mehrheit« und »Angehörige der Minderheit«. Diese beiden Flügel entwickelten sich zu voneinander unabhängigen Parteien, die sich aber beide »Sozialdemokratische Arbeiterpartei Russlands« nannten und beide für sich in Anspruch nahmen, marxistisch zu sein. Seit der Revolution waren die Bolschewiki zahlenmäßig in der Minderheit und wurden erst im September 1917 wieder die Mehrheit.
a) Menschewiki. Dieser Partei gehören Sozialisten aller Schattierungen an, die der Meinung sind, die Gesellschaft müsse durch eine natürliche Evolution zum Sozialismus gelangen und die Arbeiterklasse müsse zunächst die politische Macht erobern. Auch sie ist eine nationalistische Partei. Von jeher war sie die Partei der sozialistischen Intellektuellen, die sich, unter dem Bildungsmonopol der besitzenden Klassen erzogen, diesem Einfluss nicht entziehen konnten und sich letzten Endes auf ihre Seite stellten. Zu ihren Vertretern in diesem Buch gehören Dan, Liber, Zereteli.
b) Menschewiki - Internationalisten. Der radikale Flügel der Menschewiki, Internationalisten und Gegner jeder Koalition mit den besitzenden Klassen. Trotzdem waren sie nicht bereit, sich völlig von den konservativen Menschewiki zu lösen. Sie sind Gegner der von den Bolschewiki vertretenen Diktatur des Proletariats. Trotzki war lange Mitglied dieser Gruppe. Zu ihren Führern gehören Martow und Martynow.
c) Bolschewiki. Heute nennen sie sich »Kommunistische Partei«, um ihre völlige Loslösung von der Tradition des »gemäßigten« oder »parlamentarischen« Sozialismus zu dokumentieren, der bei den Menschewiki und den sogenannten Mehrheitssozialisten aller Länder vorherrscht. Die Bolschewiki forderten den sofortigen proletarischen Aufstand, die Machtergreifung, um durch die gewaltsame Übernahme der Industrie, des Bodens, der Naturschätze und Finanzinstitutionen die Herbeiführung des Sozialismus zu beschleunigen. Diese Partei vertritt in der Hauptsache den Willen der Industriearbeiter, aber auch großer Teile der armen Bauern. Der Name »Bolschewiki« darf keinesfalls mit »Maximalisten« übersetzt werden. Die Maximalisten sin eine besondere Gruppe (Siehe Absatz 5b). Zu den Führern der Bolschewiki gehören Lenin, Trotzki, Lunatscharski.
d) Vereinigte Sozialdemokraten - Internationalisten, auch als Gruppe »Nowaja Shisn« (Neues Leben) nach ihrer sehr einflussreichen Zeitung bekannt. Eine kleine Gruppe von Intellektuellen. Außer den persönlichen Anhängern Gorkis, des Führers dieser Gruppe, gehören ihr kaum Arbeiter an. Die Gruppe vertritt fast das gleiche Programm wie die Menschewiki - Internationalisten, unterscheidet sich aber von ihnen dadurch, dass sie sich weder den Bolschewiki noch den Menschewiki anschlossen.
e) Jedinstwo. Eine sehr kleine, im Verschwinden begriffene Gruppe, der fast nur die persönlichen Anhänger Plechanows angehören Plechanow war einer der Pioniere der russischen sozialdemokratischen Bewegung in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts und ihr größter Theoretiker. Als alter Mann nahm Plechanow eine extrem patriotische Haltung ein und war sogar den Menschewiki zu konservativ. Nach dem bolschewistischen Aufstand löste sich die Gruppe Jedinstwo auf.
f) Sozialrevolutionäre Partei. Ihren Anfangsbuchstaben nach nannte man sie »SR«. Ursprünglich war sie die revolutionäre Partei der Bauern, die Partei der »Kampforganisationen« - der Terroristen. Nach der Märzrevolution strömten ihr viele Mitglieder zu, die niemals Sozialisten waren. Nunmehr traten sie dafür ein, dass lediglich das Privateigentum an Grund und Boden abgeschafft werden solle. Die Eigentümer sollten irgendwie entschädigt werden. Schließlich zwang die immer revolutionärer werdende Stimmung unter den Bauern die Sozialrevolutionäre, ihre »Entschädigungsklausel« fallenzulassen. Daraufhin verliessen im Herbst 1917 die jüngeren und stürmischeren Intellektuellen die Partei und schlossen sich zur »linken sozialrevolutionären Partei« zusammen. Die alte Partei, die später von den radikalen Gruppen immer die »rechte sozialrevolutionäre Partei« genannt wurde, verfolgte die gleiche Politik wie die Menschewiki und arbeitete mit ihnen zusammen. Schließlich wurden die rechten Sozialrevolutionäre zu Vertretern der wohlhabenden Bauern, der Intellektuellen und der politisch ungeschulten Bevölkerung entlegener ländlicher Gebiete. Es gab unter ihnen jedoch eine größere Vielfalt politischer und ökonomische Schattierungen als unter den Menschewiki. Zu ihren in diesem Buch erwähnten Führern zählten: Awxentjew, Goz, Kerenski, Tschernow, »Babuschka« Breschowskaja.
g) Linke Sozialrevolutionäre. Obwohl sie theoretisch dem bolschewistischen Programm der Diktatur des Proletariats zustimmten, zögerten sie anfangs, sich der rücksichtslosen Taktik der Bolschewiki anzuschließen. Die linken Sozialrevolutionäre blieben jedoch in der Sowjetregierung und übernahmen Posten im Kabinett, insbesondere das Volkskommissariat für Landwirtschaft. Sie verließen die Regierung mehrere Male, kehrten aber immer wieder zurück. Die Bauern, die in immer größerer Zahl die rechten...