Schweitzer Fachinformationen
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Isländische Sonne
Das Wartezimmer roch nach Trauer. Über den engen Sitzreihen hing eine Wolke aus Atemdunst und Körpergerüchen, in der die schmerzverzerrten Gesichter der Wartenden vor seinen Augen verschwammen. Manuel trat erneut hinaus auf den Flur, wo ihm der Mann hinter dem Empfangsschalter durch ein Nicken zu verstehen gab, er möge drinnen warten. Trotzdem blieb er stehen. Nah genug am Ausgang, um zumindest ein bisschen frische Luft zu atmen, lehnte er sich an die Wand.
Bei seiner Ankunft hatte der Himmel über Lugo hinter einer Wolkendecke gelegen, die an trübes Wasser erinnert hatte. Es war ein unterkühlter Empfang gewesen, nicht zuletzt aufgrund der knapp zwanzig Grad, die ihm, verglichen mit der drückenden Hitze und dem gleißenden Licht der ersten Madrider Septembertage, fast inszeniert vorgekommen waren - wie ein literarischer Kunstgriff, um eine beklemmende, deprimierende Stimmung zu erzeugen.
In Lugo gab es keinen Flughafen. Manuel hatte kurz in Erwägung gezogen, nach Santiago de Compostela zu fliegen und sich dort einen Mietwagen zu nehmen, aber irgendetwas in ihm, das er noch immer nicht benennen konnte, hatte ihn davon abgehalten. Er hätte die zwei Stunden bis zum nächsten Flug nicht ertragen.
Den Kleiderschrank zu öffnen, zwischen seinen und Álvaros Anzügen die kleine Reisetasche hervorzuholen und alles Nötige zu verstauen, war am schwierigsten gewesen. Später sollte er feststellen, dass er bei seinem fluchtartigen Aufbruch völlig nutzlose Kleidungsstücke eingepackt und alles Wichtige vergessen hatte. Das Gefühl, geflüchtet zu sein, verstärkte sich, sobald er an seine letzten Minuten in der Wohnung zurückdachte. Wie er überstürzt Flüge gecheckt und die Tasche gepackt hatte; dann der krampfhafte Versuch, an dem Foto von ihnen beiden vorbeizusehen, das auf der Kommode stand und ihm jetzt nicht mehr aus dem Kopf gehen wollte. Ein gemeinsamer Freund hatte es im vergangenen Sommer bei einem Ausflug aufgenommen: Manuel, der gedankenverloren auf das silbern glitzernde Meer blickte, und Álvaro - jünger, schlank, das braune Haar von der Sonne gebleicht -, der ihn versonnen anlächelte. Álvaro hatte das Foto rahmen lassen, dabei konnte Manuel es nicht ausstehen. Wann immer sein Blick darauf fiel, hatte er wie so oft das Gefühl, einen kostbaren Moment verpasst zu haben, der jetzt erst recht unwiederbringlich vorüber war. Jener kurze Augenblick, den die Kamera eingefangen hatte, war zur Bestätigung geworden, dass er in seinem eigenen Leben nie ganz bei der Sache war. Inzwischen kam es einem Urteil gleich.
Dass er jetzt warten musste, kam ihm vor wie eine Vollbremsung. Als hätte eine Minute mehr oder weniger Álvaros Tod abwenden können, war er über die Autobahn hierhergerast. Zuvor war er wie in Trance durch die Wohnung gelaufen und hatte noch einen kurzen Blick in jedes Zimmer geworfen, als wollte er sich vergewissern, dass Álvaros Besitztümer da waren: seine Fotobände, die Skizzenhefte auf dem Tisch, der alte Pullover, der über der Stuhllehne hing. Den Pullover hatte er immer zu Hause angehabt und sich geweigert, ihn wegzuwerfen, obwohl er längst verwaschen und an den Ärmeln verschlissen war. Manuel hatte all diese Dinge fast erstaunt betrachtet, als müssten sie jetzt, da Álvaro tot war, aufhören zu existieren. Er hatte noch einen flüchtigen Blick auf seinen Schreibtisch geworfen und Brieftasche, Handy und Ladekabel zusammengeklaubt. Am erstaunlichsten war vielleicht, dass er seine Arbeit, von der er am Morgen noch geglaubt hatte, sie ginge ihm gut von der Hand, nicht einmal abspeicherte. Dann der furchtbare Moment, als er den Namen der unseligen Stadt ins Navi eingab. Fast fünfhundert Kilometer, knapp viereinhalb Stunden, die Stille nur unterbrochen von Meis wiederholten Anrufen, die Manuel nicht entgegennahm. Er war sich nicht einmal mehr sicher, ob er überall das Licht ausgemacht hatte.
Er warf einen Blick ins Wartezimmer. Ein Mann schmiegte sein Gesicht an den Hals einer Frau. Manuel betrachtete die müde Geste, mit der sie ihm übers Haar strich, dann die anderen Wartenden, die mit zusammengepressten Lippen dasaßen und stoßweise atmeten wie Kinder, die sich das Weinen verkniffen.
Er selbst hatte nicht geweint. Er hatte keine Ahnung, ob das normal war oder nicht. Als die Polizisten gegangen waren, war er kurz davor gewesen; vor seinen Augen waren sämtliche Konturen verschwommen. Aber es war Wärme notwendig, um weinen zu können, oder zumindest irgendeine Art von Empfindung. Doch in der arktischen Kälte, die in ihrer Wohnung geherrscht hatte, war sein Herz zu Eis gefroren. Er hätte sich gewünscht, es wäre vollends erstarrt, und die unwirkliche Kälte hätte die Fasern dieses nutzlosen Muskels samt und sonders zerstört.
Zwei Männer in gut geschnittenen Anzügen steuerten den Empfangsschalter an. Einer blieb ein paar Schritte zurück, während der andere dem Beamten so leise etwas zuflüsterte, dass der sich vorbeugen musste, um ihn zu verstehen. Dann nickte der Beamte, deutete auf Manuel und sah den Besuchern neugierig nach.
»Manuel Ortigosa?«
Manuel nickte. Die beiden waren definitiv zu gut gekleidet, um Polizisten oder Pathologen zu sein.
Einer der Männer gab ihm die Hand.
»Adolfo Griñán«, stellte er sich vor, »und das hier ist mein Mitarbeiter Eugenio Doval. Können wir Sie kurz sprechen?«
Die Namen sagten ihm nichts, trotzdem sah er sich in seiner Vermutung bestätigt, dass die beiden keine Mediziner waren. Manuel machte eine vage Geste in Richtung Wartezimmer.
Die neugierigen Blicke der übrigen Wartenden schienen Griñán ebenso wenig zu stören wie die Dunstwolke. Dann blieb sein Blick an einem rundherum nachgedunkelten gelblichen Fleck an der Zimmerdecke hängen.
»Du liebe Güte, nein, nicht hier. Entschuldigen Sie vielmals, dass wir nicht früher da waren. Sind Sie in Begleitung hier?«, fragte er dann, obwohl er mit einem Blick auf die traurige Gesellschaft vom Gegenteil auszugehen schien.
Manuel schüttelte den Kopf, und Griñán sah erneut hoch zur Decke.
»Gehen wir.«
»Aber ich soll hier warten«, wandte Manuel ein.
»Wir bleiben in der Nähe«, beruhigte ihn Doval. »Es gibt da ein paar Dinge, die Sie wissen sollten.«
Und Manuel wollte ein paar Dinge wissen. Schweigend liefen sie am Empfang vorbei; der Beamte sah ihnen nach, bis sie das Ende des Flurs erreichten, wo in einer kleinen Nische ein Getränkeautomat stand.
»Möchten Sie etwas trinken?«, erkundigte sich Doval.
Manuel schüttelte den Kopf und warf einen beunruhigten Blick zurück zum Warteraum.
»Ich bin Anwalt«, ergriff Griñán wieder das Wort, »Eugenio Doval ist mein Sekretär. Ich habe mich um die rechtlichen Belange Ihres Mannes gekümmert und bin auch sein Testamentsvollstrecker.« Er sah Manuel an, als hätte er soeben seine militärischen Auszeichnungen aufgezählt.
Manuel stand die Verwirrung ins Gesicht geschrieben. Er wandte sich zu Doval um, weil er bei ihm eine Antwort zu finden hoffte - oder zumindest den Hauch eines Lächelns, das ihm verriet, dass er gerade einem Scherz aufsaß.
»Ich weiß, das kommt alles überraschend«, räumte Griñán ein, »aber als Don Álvaros Vermögensverwalter bin ich über die Umstände Ihrer Beziehung auf dem Laufenden.«
»Was soll das heißen?«, fragte Manuel misstrauisch.
Griñán ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.
»Mir ist bekannt, dass Sie seit einigen Jahren verheiratet sind und schon lange zusammenleben, aber ich bin mir sicher, dass alles, was ich Ihnen gleich erzähle, neu für Sie sein wird .«
Manuel verschränkte die Arme. Das letzte bisschen Geduld, das ihm seit der Nachricht von Álvaros Tod geblieben war, hatte er eingebüßt, als er mit Mei telefoniert hatte. Trotzdem war er bereit, vorläufig Frieden mit jedem zu schließen, der ihm erklären konnte, weshalb sein Ehemann auf einem Stahltisch im Leichenschauhaus irgendwo am Ende der Welt lag.
»Können Sie mir sagen, was Álvaro hier zu suchen hatte? Was wollte er mitten in der Nacht auf dieser Landstraße?«
Griñán warf Doval einen schnellen Blick zu, worauf der eher zögerlich einen Schritt nach vorne trat und das Wort ergriff.
»Álvaro ist hier in Galicien zur Welt gekommen. Ich weiß nicht, wo er hinwollte, als er den Unfall hatte, aber wie die Polizei Ihnen vermutlich schon mitgeteilt hat, scheint kein anderes Fahrzeug beteiligt gewesen zu sein. Es sieht alles danach aus, als sei er am Steuer eingenickt. Es ist ein Jammer - mit vierundvierzig! Er hatte das Leben noch vor sich. Er war ein feiner Kerl, ich habe ihn sehr geschätzt.«
Manuel erinnerte sich vage daran, in Álvaros Personalausweis mal dessen Geburtsort gelesen zu haben - ein Ort, zu dem er keine Verbindung mehr gehabt zu haben schien. Er konnte sich auch nicht entsinnen, dass Álvaro ihn je erwähnt hätte. Warum auch? Als sie sich begegnet waren, hatte er erzählt, dass er mit seiner sexuellen Veranlagung bei seiner Familie nicht eben auf Akzeptanz gestoßen war. Mit seinem Umzug nach Madrid hatte er mit seiner Vergangenheit abgeschlossen.
»Aber er hätte in Barcelona sein sollen. Was hat er hier gemacht? Soweit ich weiß, hatte er seit Jahren keinen Kontakt mehr zu seiner Familie.«
»Tja, soweit Sie wissen .«, murmelte Griñán.
»Was soll das heißen?«, fragte er scharf.
»Schauen Sie, Manuel - darf ich Sie Manuel nennen? Ich rate meinen Mandanten immer, ehrlich zu sein, insbesondere zu ihren Partnern. Schließlich teilen sie ihr Leben mit ihnen, und sie sind es auch, die mit ihrem Tod zurechtkommen müssen. Álvaro war da keine Ausnahme, aber es steht mir nicht zu, über die Gründe zu urteilen, warum er es Ihnen verschwiegen hat. Ich bin lediglich der Überbringer der Botschaft. Was ich Ihnen mitteilen...
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