Schweitzer Fachinformationen
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Ende März, es lag schon erdiger Frühlingsgeruch in der Luft, erhielt Anna die neuen CT-Ergebnisse, und obwohl sie sich tapfer geschlagen und sogar mehrere Genesungswunder vollbracht hatte, sagte sie schlicht und einfach: »Es reicht.«
Anna wusste nicht mehr, dass sie ins Wohnzimmer gegangen war, aber nun lag sie auf dem Sofa, und alle sind sie da, Helen, Ming, Caroline, Molly, ihre ältesten Freundinnen. Wann waren sie gekommen? Wer hatte sie benachrichtigt? Helens tägliche Anrufe waren an die Mailbox weitergeleitet worden. Ach so, eins von ihren Kindern wahrscheinlich. In Wahrheit war es Ming gewesen. Anna hatte Ming das Ganze in allen schrecklichen Einzelheiten erzählt, vom neuerlichen Rückfall bis zur Palliativtherapie. Fragen hatte sie nicht zugelassen. »Sag du's den anderen.«
»Bloß nicht!« Mings Ankündigung - »Ich komme, und die anderen natürlich auch« - hatte Anna Schauder über den Rücken gejagt.
Jetzt waren sie da, ihre Clique aus Kindertagen, und es war schön, sie in ihrem Wohnzimmer unter der Kathedraldecke versammelt zu sehen. Caroline erzählt von ihrer älteren Schwester Elise, die immer in Schwierigkeiten steckt, gibt eine neue Story über Elise zum Besten, witzig wie eh und je, leicht resigniert, aber ohne jeden Sarkasmus. Caroline verfällt niemals in Ironie, bleibt immer taktvoll lustig.
Wie hatten sie es hergeschafft? Mit dem Auto, das war klar - aus Great Barrington, Manhattan, Arlington, Larchmont -, aber die ganze Fahrerei war ihr unbegreiflich. Das Haus zu verlassen war ihr unbegreiflich. Und dann die Interstate Highways, Mauthäuschen, Tankpausen, das Kramen nach dem Geldbeutel in weit geöffneten Handtaschen auf dem Beifahrersitz. Mehr noch als dieser Aufwand selbst erschien ihr die Welt mit ihrer unaufhaltsamen Bewegung wie ein unentwirrbares Durcheinander, wie eine ausgestorbene Sprache, die sie einmal beherrscht hatte.
»Lauter!«, rief Ming. Sie stand in der Küche und kochte Suppe. »Ich will nichts verpassen.«
Anna folgte der Geschichte, zumindest in weiten Teilen. Lachte mit, wenn Helen in ihr schallendes, zuversichtliches Gewieher ausbrach, wenn Molly leise, fast hechelnd gackerte und wie immer feuchte Augen bekam und Caroline in ihrer köstlichen Art ebenso sehr mit den wendigen Augenbrauen gestikulierte wie mit den fuchtelnden Händen.
Die fünf haben schon viel miteinander gelacht. Auch über Dinge, die nicht zum Lachen waren.
Seltsam, dass Anna beim Klang von Mings aus der Küche schallendem dreifach trillerndem Gelächter noch immer das Mädchen vor sich sah, nicht die Erwachsene, den festen Teenager-Körper statt der rundlicheren, untersetzten Figur einer reifen Frau. Und Mings Haar war für sie noch immer der glänzende, bis zur Taille reichende dunkle Vorhang, nicht die grau melierte, alle sechs Wochen vom Friseur nachgeschnittene Stufenfrisur.
»Wird es dir zu viel, Anna?«, fragte Helen, die ihr die Füße und Beine massierte.
Anna blickte an ihrem Körper entlang auf Helens dicke Finger auf ihrer Wade. Kein einziger Muskel mehr an ihren einst so athletischen Beinen. Sie hatte immer scherzhaft behauptet, Helen habe keine Künstler-, sondern Hafenarbeiterhände. Georgia O'Keeffes Hände mit den sich elegant verjüngenden Fingern, das waren Künstlerhände. Aber Helens Hände fühlten sich gut an. Berührt zu werden fühlte sich gut an. Sie hätte nicht gedacht, dass sie berührt werden wollte, aber sie wollte es, und als Helens Bewegungen langsamer wurden, legte sie ihr das andere Bein auf den Schoß und zwängte es unter ihre Hände. Ich werde mich um dich kümmern, sagte Helen lautlos. Helen mit ihrem ständigen Bedürfnis, alles zu verbessern. Helen, die vor mehr als vierzig Jahren versprochen hatte, Annas beste Freundin zu sein, und in diesem Entschluss nie wankend geworden war. Anna streckte ihren Arm nach Helens Hand aus.
Molly saß angespannt da, vorgebeugt, die Ellbogen auf den Knien. Ihre Zuhörhaltung. Mit Muskelkraft. Der ganze Körper aufmerksam. Und jetzt - Anna hatte es gewusst - neigte sie den Kopf und reckte das Kinn mit dem Grübchen Carolines Stimme entgegen.
Anna war seit Tagen nicht mehr im Wohnzimmer gewesen. Es gab hier fast zu viel zu sehen. Die Wände voller Kunstwerke, gekauft oder geschenkt bekommen. Auf dem Tisch ein blaues Glasgefäß mit Hunderten winzigen, auf Point Reyes gesammelten Seesternen. An der Wand die Skulptur aus Metallschrott, in Provincetown erstanden. Auf einem Regalbrett Weckgläser mit Kardinalfedern. Die vielen Stunden des Auswählens und Anordnens. Die vielen hübschen Blickfänge - wie hatte sie das alles zusammentragen können? Diese Emsigkeit, dieser ausgeprägte Schönheitssinn.
Sie schloss die Augen. Lauschte. Der unendlich vertraute Singsang ihrer Freundinnen. Selbst Carolines Sprechpausen, in denen sie nach einer treffenderen Formulierung suchte, waren vertraut. Eine unerklärliche Behaglichkeit. Nie hätte sie das gedacht. Sie musste sich nicht mehr anstrengen; auch deshalb fühlte sie sich so wohl.
Den Namen hatten sie sich am Ende der sechsten Klasse gegeben. Eines Nachmittags scherzhaft dahingesagt, aber es klang gut, endgültig. Die alten Freundinnen. Der Name bedeutete, dass jedes Mädchen, das künftig ihren Lebensweg kreuzte, ob nächstes Jahr in der siebten oder später auf der Highschool, so neu und aufregend sein konnte, wie es wollte, vielleicht sogar eine Freundin fürs Leben werden, niemals aber zu den alten Freundinnen zählen würde. Sie laufen nicht los und schreiben es mit Schablonen auf T-Shirts oder verkünden es jubelnd in der Öffentlichkeit, aber ihnen gefällt, wie es klingt. Wie eine Rockband oder eine Krimi-Reihe. Durch den Namen, darin sind sie sich einig, steht es nun fest und bleibt ihnen für immer.
Einige Tage zuvor war ihr ältester Sohn allein bei ihr im Zimmer gewesen.
»Momma.« Er hielt ihre Hand.
Sie nickte, um ihm zu zeigen, dass sie wach war.
»Mom, ich möchte dir ein Geheimnis verraten.«
Sie lächelte. Ihr Erstgeborener, ein erwachsener Mann. Die vielen unnötigen Sorgen, die sie sich jahrelang um Julian gemacht hatte. Ein Schüchterner, der immer allein am Schulhofrand gespielt hatte, dort, wo das Pflaster ins Gestrüpp überging. Ein Junge, der gern Stecken in die Erde bohrte, ernst und glücklich, ohne sich um die vorbeiflitzenden Kinder zu kümmern. »Hab dich!«, riefen sie, die Hand auf einer Schulter, die nie seine war. Beim Abholen tat es ihr weh, ihn so glücklich in seinem Alleinsein zu sehen. Wäre es nach ihr gegangen, hätte er in der Spielfeldmitte seine Mannschaft zusammengestellt, wäre der gewesen, den die anderen Kapitän nannten.
Jetzt stand ein sanfter, noch immer stiller Mann mit hektischem Jungslachen vor ihr, der sich nach wie vor beim Pilzesuchen im Wald am wohlsten fühlte.
»Mom, ich habe ein Geheimnis«, sagte Julian noch einmal. Sie nickte.
»Kannst du die Augen aufmachen?«
Für ihn hätte sie alles getan. Ihre Lider waren bleischwer, schwerer als die Tagesdosis der verabreichten Medikamente, schwer von etwas Zähem in ihren Knochen und im Blut.
Sie schlug die Augen auf.
So schön. Er hatte das Gesicht seines Vaters, die gleichen dunklen Locken. Das Licht kam von hinten. Sie sah die Spitzengardine und durch die Gardine hindurch die Bäume im Garten. Ihre Spitzengardine, ihr Fenster, ihr an einem Draht hängender Kristall und der Garten, in dem ihre drei Kinder gespielt hatten, die jetzt nur noch ein ganz klein wenig ihre Kinder waren.
»Ja, Baby?«
»Wir bekommen ein Kind«, sagte Julian.
Etwas durchströmte sie. Ein Rest Glück war noch in ihr. Selbst in den zurückliegenden Tagen hatte sie es empfunden, flüchtig, manchmal stechend wie ein Schmerz, aber nie war es so stark gewesen wie jetzt.
»Es soll noch niemand wissen. Nur du.«
Das Kind ihres ersten Kindes. Sie hatte das ungeborene Wesen in sich so sehr geliebt, dass sie gegen Ende der Schwangerschaft auf eine langwierige Entbindung hoffte. Jeder Moment sollte einzigartig sein und ausgekostet werden. Noch Jahre später war in ihrem Freundeskreis darüber gewitzelt worden, dass sie nach achtzehn Stunden Wehen, zusammengekrümmt von unsäglichen Schmerzen, um eine Narkose gefleht hatte. Aber am Ende war dieses Kind mit seinen makellosen Lippen, Händen, Füßen auf die Welt gekommen, und sie hatte sich für immer verändert.
Sie setzte sich im Bett auf und küsste ihren Sohn. »Du wirst bestimmt ein wundervoller Vater«, flüsterte sie. Sie ließ eine Hand auf seiner Schulter liegen und betrachtete ihn, um ein klares, offenes Gesicht bemüht. Das sollte er bekommen - dass seine Mutter den Vater ansah, der er bald sein würde.
Es wehte zum Fenster herein, Frühlingsluft. Ein letztes Geheimnis, das beste.
»Ich sag's keinem«, sagte sie lächelnd.
»Du hast schon besser ausgesehen, alles andere wäre gelogen.« Helen bohrte ihren Daumen in Annas Fußgewölbe. »Aber wir finden auch diesmal Mittel und Wege.« Ihre farbbeklecksten Finger strichen mit Druck über Annas langes, höckeriges Schienbein. Kein Muskel mehr da zum Massieren. Helens weit gespreizte Pummelhändchen ragten über Annas Bein hinaus.
»Diesmal gibt es nur einen einzigen Weg, Heli«, sagte Anna.
»Das stimmt nicht«, entgegnete Helen hastig. »Aber wir haben den ganzen Tag Zeit, eine Lösung zu finden.« Anna war nicht zum ersten Mal bis auf die Knochen abgemagert. Langsame Schritte...
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