Präludium
Präludium
Er hatte die Landstraße gewählt, extra die Landstraße, hatte den Umweg mit Kurven und Ortsdurchfahrten in Kauf genommen, sich heute also der Autobahn versagt und den beschaulichen Weg der schnelleren Route vorgezogen. Er war eingeladen. Keinem Termin, nein, einem freundschaftlichen Treffen fuhr er entgegen. - Wir haben uns so lange nicht mehr gesehen. Komm doch mal wieder zu uns, am nächsten Sonntag vielleicht, war ihm vorgeschlagen.
Die Fahrt wollte er auskosten; diese Autostunde durch den sonntäglichen Augustmorgen sollte Präludium zu seinem alltagsentzogenen Treffen werden.
Das Radio kündigte Mozart an. - Elfjährig sei der Komponist gewesen, als diese Sinfonie entstand. - Elfjährig, dachte er, elfjährig, und Kinder fielen ihm ein, die er kannte. Dann griffen die Töne nach ihm. Flüchtig fädelte sich sein Staunen in die Musik. - Elf Jahre. Ein Kind. Längst verstorben, wirkt noch immer. Gerade jetzt. Der Gedanke verlor sich in Melodien.
Sein Wagen summte dahin; Mozart tippte an das Gefühl. Der späte August blätterte seine Bilder auf: Wolkenschatten zogen über besonnte Weideflächen mit Baumgruppen, Wegen und schilfgesäumten Gräben. Die Dinge schwangen mit der Musik, flogen im Takt durch die Empfindungen des Fahrers: grasende Kühe; schwarzweißes Wuchteln von Kiebitzflügeln, die gaukelnde Weihe, auffliegende Lachmöwen und schwarz das Gesprenkel der Saatkrähen im Grasland. Wahrnehmungen von Sekunden leuchteten auf, er loschen, wiederholten sich wie übereinandergeschichtete Variationen einer Fuge.
Töne und Bilder flossen ihm zu. Er spiegelte sie zurück, verquickte sie zu einer kaleidoskopischen Welt, deren Mitte er selbst war, als Schöpfer und Betrachter in einem.
Einige hundert Meter voraus bemerkte er auf der Straße einen Trecker. Sein Wagen kam schnell auf. Zügig wollte er überholen. Im Heranfahren erfasste er die mannshohen Hinterräder, die Breite des Gefährts, das bizarre Kupplungsgestänge; sah den bulligen Rücken des Fahrers, sah auch das Mädchen, das auf dem linken Kotflügel des Treckers saß und dem aufkommenden Personenwagen entgegenblickte.
Er schaltete einen Gang zurück, brachte den Motor auf Touren, setzte zum Überholen an. Als er aber mit nach links geneigtem Kopf an dem Trecker vorbeisehen konnte, musste er seine Absicht zurückstellen, denn vor den beiden Fahrzeugen krümmte sich die Straße zu einer langen unübersichtlichen Kurve. Er bremste also den Wagen ab, unwirsch; Ärger über diese Störung flog in ihm hoch. Fast gewohnheitsmäßig wurde er ungeduldig, als verzögere das Hindernis einen eiligen Auftrag.
Aber nichts anderes blieb ihm, als mit einigem Abstand hinter dem Trecker herzufahren und abzuwarten. Er nahm also Gas weg, der Motor brummte behäbiger. - Was treibst du eigentlich?, ging es ihm durch den Kopf, du bist doch extra Landstraße gefahren! - Ja, er ging sogar ein wenig mit sich ins Gericht: Wie tief ist man schon in die Gewohnheiten des Alltags eingestrickt! Regst dich hier über einen harmlosen Trecker auf! Dabei habe ich Zeit wie selten. -
Er stellte dem aufkeimenden Ärger die Vorstellung an sein zwangloses Treffen entgegen und zerstreute seinen Unmut damit erfolgreich.
Nach dieser Leistung fühlte er sich wie der Coach einer Mannschaft, die soeben gewonnen hat und kam sich sehr souverän vor. Fast hätte er vor lauter Gelassenheit den Ellbogen aus dem Fenster geschoben, was ihm schließlich aber zu albern vorkam. Das Fenster blieb also geschlossen. Mozart wurde wieder hörbar. Die Musik - wo war sie soeben gewesen? - schien etwas Feierliches an sich zu haben.
Seine Konzentration hatte sich von der engen Absicht des Überholens gelöst. Er öffnete sich wieder der Umgebung, den vorbeihuschenden Straßenbäumen und Markierungspfählen, auch für den Trecker vor ihm, dessen rollende Hinterräder seinen Blick einen Moment festhielten und ihn an die rastlose Geschäftigkeit von Ameisen erinnerten. Ein aufkommendes Staunen über diese sonderbare Assoziation verwehte sofort wieder wie dünner Rauch im Wind. Er hob den Blick und bemerkte eben noch, wie das Mädchen über dem Treckerrad rasch den Kopf wegdrehte und geradeaus schaute, so als kümmere sie das hinter ihr fahrende Auto nicht.
Dies Beobachtung amüsierte ihn, denn ihm wurde bewusst, dass sie ihn schon die ganze Zeit angeschaut hatte. Es war ihm nicht entgangen, aber sein Verstand, auf Überholen konzentriert, hatte diese Erscheinung als belanglos ausgeklammert.
Jetzt aber wirkte das Mädchen umso eindringlicher auf ihn. Mozart bündelte eigens für diesen Augenblick seine Musik im Klang einer einzigen Oboe. Das Mädchen schwebte über dem Treckerreifen, saß da, blond, elfjährig vielleicht, und ihr Profil hob sich zierlich gegen das im Schatten liegende Lodengrün der Fahrerjoppe ab.
Ihn rührte und ergriff das Bild.
Mit Menschen, die auf Transportern quer zur Fahrtrichtung sitzen, verband ihn immer ein ergebenes Ausgeliefertsein: Müde Frauen auf Ackerwagen, die man abends nach rückenkrümmender Feldarbeit heimwärts bringt; Soldaten auf Lastern, die, ihre Gewehre zwischen den Knien, zu irgendeinem Einsatz transportiert werden; Evakuierte auf dem Weg in eine vermeintliche Sicherheit; Gefangenenverlegung ins Ungewisse: Immer erschienen ihm diese Menschen nur Halbeingeweihte, eine Art Werkzeug oder Material zu sein, das im Sinne einer übergeordneten Logistik unbekannten Zwecken oder Unzwecken zugeführt wird. - Schweigend sitzen sie auf harten Bänken; ein zerbrochener Scherz hängt von wer weiß noch wann zwischen ihnen. Längst ist die anfängliche Erwartung dumpfer Gleichgültigkeit gewichen. In stumpfen Augen nistet der Wunsch nach Schlaf.
Wir wollen nicht nachsinnen warum ihm solche Bilder bis zu den Tränen nahegingen, warum diese Menschen sein Mitgefühl erregten. - Jedenfalls belebte die Haltung des Mädchens seine Anteilnahme und die Bereitschaft zu beschützen.
Natürlich sagte ihm sein Verstand, dass dieses Mädchen wohl eher seinen Vater gebettelt hatte, mitfahren zu dürfen, nur zum Vergnügen vielleicht, und dass dieser Vater sein Kind bestimmt selbst in Schutz nehmen könne.
Er betrachtete das Mädchen. Sie saß da wie eine der sanften Gestalten aus den Gemälden Segantinis, wenngleich die rotierenden Reifen rüttelnde Unrast verbreiteten und die Joppe des Fahrers sich dunkel hinter dem Mädchen türmte. Als helle Erscheinung überstrahlte sie ihre Umgebung, und die ruhige, fast demütige Haltung wirkte zwischen den aufgeregten Rädern und vorbeihuschenden Straßenbäumen als friedlicher Pol. - Diese Aura weckte in ihm Empfindungen, deren abgestimmtes Miteinander das ergibt, was man als Zuneigung bezeichnet.
Diese Zuneigung wollte er zunächst nicht wahrhaben; ja, er macht sich sogar darüber lustig: Zuneigung. Eine Elfjährige. In meinem Alter. Und er empfand etwas wie ein gedankliches Kopfschütteln.
Aber er konnte den starken Eindruck nicht übertünchen, denn er spürte, dass sich das Mädchenbild bereits in seine Erinnerung einzuprägen begann; und wie ein Kork nicht den Strom beeinflusst, auf dem er treibt, so flatterte seine Selbstironie hilflos über zarter Sehnsucht, wie sie uns beim Anblick eines fernen, unerreichbar fernen Sternes erfassen mag.
Unterdessen hatte das Mädchen ihm - wie ein Igel, der sich nach vermeintlicher Gefahr entrollt - das Gesicht wieder zugewandt, entdeckte dabei, dass er sie anschaute und drehte den Kopf rasch weg, sehr bemüht, ihrer Bewegung den Anschein des Unbestimmten zu verleihen.
Jetzt lächelte er belustigt, und gerade als in Mozarts Musik ein Scherzando auflachte, zerstob seine Stimmung des Berührtseins und andächtigen Bewunderns vor dem heraufschießenden launigen Übermut, der in dem uralten Spiel des So-tun-als-ob neckisch mitschwingt und sich feuerwerksartig einzumischen versteht.
Hier wurde das Wechselspiel zwischen Zu- und Abwenden, vielsagendem Blick und gespielter Gleichgültigkeit, zwischen Beobachten und Sich-beobachten-lassen freilich ganz harmlos gespielt; denn die Mädchenaugen verrieten noch die unschuldige Kinderneugier, wenn auch das unverwandt offene Schauen bereits dem befangenen Wegsehen und dem Blick aus den Augenwinkeln gewichen war.
Doch hatte das Mädchen dem heiteren Spiel zugestimmt. Blicke und Gesten waren lächelnde Erwiderungen. Ihr Gesicht sah freundlich, ja, zutraulich aus.
Er aber durfte sie jetzt nicht mehr ins Auge fassen: Die Kurve war durchfahren. Der Blick vorbei am Trecker zeigte ihm eine freie Straße. Er setzte den Blinker, schaltete herunter, doch bevor er beschleunigte, lächelte er dem Mädchen noch einmal zu, hob ihr hinter der Windschutzscheibe den Arm entgegen und winkte mit der Hand. - Sie, als habe sie darauf gewartet, lachte, winkte zurück und warf ihm sehr flüchtig, aber nicht zu übersehen - just in dem Augenblick, als Mozart das Finale aufbrausen ließ - eine Kusshand zu.
Er beschleunigte...