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Doch wann hatte es eigentlich begonnen, ihr Leben davor?
Als sie beschloss, Stelvio Ansaldo zu heiraten, da war sich Marisa ganz sicher.
Und zwar genau in dem Moment, als sie schweigend nebeneinander durch die Via del Moro liefen und sie sich zu ihm umdrehte.
»Ich will dich heiraten! Lass uns heiraten, Ste!« Das rutschte ihr einfach so heraus, im Ton einer Frau, die ihren Freund dazu anstiften will, etwas völlig Verrücktes zu tun.
Verblüfft starrte er sie an. Unzählige Fragen brannten ihm auf der Zunge, lauter Wenns und Abers und Warums. Doch seine Verliebtheit in diese Frau mit den Lachgrübchen, mit dem lebhaften, offenen Blick, mit Augen, die einfach nicht lügen konnten, sagten ihm alles, was er wissen musste. Er nickte wortlos. Und als er sich bei ihr unterhakte und ihr die Hand drückte, begann das Leben davor.
An einem Sonntag im November 1956.
Vor der Heirat mit Stelvio hatte sie bei ihren Eltern gelebt. In ihrer Erinnerung überlappten sich Kindheit und Pubertät wie Schwarzweißbilder in einem großen Fotoalbum: Szenen, die immer mehr verblassten, während die Zeit ihre Konturen und Details aufweichte. Das waren die Jahre mit ihrer Schwester Emma und den Eltern. Eine lange Reihe von ruhigen oder auch turbulenten Tagen, jedoch stets voller Geborgenheit, als ob der Vater sie an seinen wassermelonengroßen, stets von seiner Ladenschürze bedeckten Bauch zog.
Marisa wusste nicht mehr, wann sie Stelvio zum ersten Mal gesehen hatte. Er war in ihr Leben getreten wie ein Statist, ganz weit im Hintergrund eines flüchtig geschauten Films. Anfang 1954 vielleicht, als Ruggero, der Lieferant der Backstube Camastra kündigte, um in Turin sein Glück zu suchen. Weil sie so in ihre eigenen Angelegenheiten und die Arbeit im familieneigenen Lebensmittelladen vertieft war, hatte Marisa ihn lange kaum wahrgenommen, diesen schweigsamen jungen Mann, der nun statt Ruggero frühmorgens das Brot von Camastra brachte. Noch bevor sie aufmachten, räumte Marisa tagtäglich die Waren in die Regale, preiste sie aus und notierte, was nachbestellt werden musste, während ihr Vater in der blütenweißen Schürze die frischen Wurstwaren in die neue Kühltheke legte, sein ganzer Stolz. Stelvio klopfte, wenn er kam, zweimal vorsichtig gegen die Glasscheibe der Ladentür, wartete, bis ihr Vater ihm aufmachte, und gab ihm erst den Korb mit den verschiedenen Backwaren, mit den ciriole und fruste, und anschließend den mit den knusprigen pagnotte. Eilig leerte der Vater die Körbe, um sie ihm, der inzwischen zur Kasse gegangen war, anschließend zurückzugeben und die Lieferung zu quittieren. Nichts weiter als ein höfliches Guten Tag und Dankeschön, jeden Morgen bis auf sonntags wieder aufs Neue. Damals war Marisa mit den Gedanken ganz woanders, bei Francesco, ihrem Verlobten, der zwei Jahre zuvor in die Schweiz gegangen war, um im Hotel Bellevue am Genfer See als Kellner zu arbeiten. Natürlich war das nicht einfach - sie waren räumlich voneinander getrennt und mussten sich mit Briefen begnügen, aber der Blick in die Zukunft half ihnen, sich in Geduld zu üben. Um sie zu trösten, rief ihr Francesco wiederholt in Erinnerung, dass er das schließlich für sie beide tue, um das nötige Geld für die Eröffnung eines großen Cafés zusammenzusparen, und zwar direkt an der Piazza - eines, das den Vergleich mit denen auf der Via Veneto nicht zu scheuen brauchte. Wenn er es schaffte, für ein paar Tage nach Rom zurückzukehren, beschrieb er ihr, nachdem sie sich geliebt hatten, in allen Einzelheiten ihr gemeinsames Gran Caffè Malpighi: Tischchen und Stühle im Jugendstil, rosafarbener Marmor, Stuckdecken, hell erleuchtete, von Schmiedeeisen gerahmte Schaufenster und ab fünf Uhr nachmittags Musik. Francesco wollte, dass sie weder hinter der Kasse stehen noch bedienen musste. Dafür gebe es Angestellte. Sie würde sich nur ab und zu in einem schicken Pelzmantel zeigen, so wie es sich für die Chefin gehörte. Beim ersten Mal hatte Marisa nur gelacht und eingewandt, ihr mache es nichts aus zu arbeiten, sie sei das gewöhnt: Seit der Schule arbeite sie im familieneigenen Laden, und das gern. Außerdem könne er sich so das Geld für eine Angestellte sparen, vor allem am Anfang. Aber er wollte nichts davon wissen, denn sie sollte für das lange Warten entschädigt werden - sie, aber auch ihre Eltern, die sie endlich unter der Haube wissen wollten.
Marisa war jung, verliebt und leichtsinnig. Im November 1955, nachdem sie sich ein halbes Jahr nicht gesehen hatten, kam Francesco zur Beerdigung einer Tante mütterlicherseits nach Rom. Besonders traurig waren sie nicht, dafür war die Leidenschaft nach der langen Trennung viel zu groß, und nach Weihnachten war sich Marisa sicher, dass sie ein Kind erwartete.
Eines Morgens Ende Dezember flehte sie den Hausarzt der Familie unter Tränen an, bloß nichts zu sagen und eilte dann in den Laden, wo sie ihre Verspätung mit einer banalen Ausrede entschuldigte. Mit einer weiteren Ausrede floh sie in den kleinen Lagerraum und lief dort nervös auf und ab. Die Scham, die Angst, jetzt, wo Francesco so weit weg war . Sie erlaubte sich ein paar Tränen, war einfach überfordert. Dann kühlte sie die Lider mit kaltem Wasser, schließlich war das kein Weltuntergang. Es war durchaus möglich, in wenigen Wochen eine Hochzeit auf die Beine zu stellen, danach konnte sie Francesco in die Schweiz folgen und so lange bleiben wie nötig. Sie hatte ihm das schon oft vorgeschlagen, doch er hatte nie was davon wissen wollen. Im Grand Hotel bekam er zwar Kost und Logis, das Zimmer teilte er aber mit einem Kollegen. Auf diese Weise sparte er viel Geld, so dass er am Monatsende fast seinen gesamten Lohn, abzüglich der Summe, die er seiner Familie schickte, beiseitelegen konnte. Doch dieses Kind änderte alles: Jetzt musste es unter irgendeinem Vorwand schnell gehen - sollten die Leute doch reden!
Am nächsten Sonntag, an dem sie angeblich eine Freundin im Krankenhaus besuchte, rief sie Francesco aus einer Telefonzelle in einem Hotel in der Innenstadt an. Die Telefonistin ließ sie eine Ewigkeit warten und dann ließ sie der Portier des Grand Hotel, der zum Glück Italienisch sprach, noch einmal warten, bevor er den Anruf ins Restaurant durchstellte. Marisa flehte stumm, es möge nicht lange dauern, weil sie nicht mehr viele Telefonmünzen besaß, außerdem war sie voller Ungeduld. Endlich hatte sie Francescos Stimme am Ohr. Sie klang so schön und so besorgt, dass die Angst, die ihr seit zwei Tagen Bauchschmerzen machte, ein wenig nachließ.
»Mimì! Was ist denn?« So nannte er sie immer. Mimì. Man hörte ihm an, dass er sofort zum Telefon geeilt war.
Marisa unterbrach ihn, denn die Telefonmünzen wurden immer weniger. »France, es ist was passiert. Du musst sofort nach Rom kommen, wir müssen reden.«
»Nach Rom? Jetzt sofort? Aber was ist denn passiert?«
»Das kann ich dir am Telefon nicht sagen. Wir müssen reden.« Sie wurde leiser, Zärtlichkeit dämpfte ihre Stimme, während sie lächelnd hinzufügte: »Du musst dringend kommen, aber keine Sorge. Mir . uns geht es gut.«
Am anderen Ende der Leitung war nichts als ein Rauschen zu hören, nur durch entferntes Geschirrklappern unterbrochen. »Hast du es schon jemandem gesagt?« Er sprach so leise, dass sie ihn kaum verstand.
Marisa schüttelte langsam den Kopf, leicht verstört von der unerwarteten Frage. »Nein, natürlich nicht.«
»Nach Silvester komm ich runter, aber sag niemandem etwas davon. Wir sehen uns dann am Donnerstagabend ums sechs in der Wohnung meiner Tante. Ich warte dort auf dich.«
Noch bevor sie »In Ordnung«, hauchen konnte, hatte er bereits grußlos aufgelegt.
Marisa kehrte zu Fuß nach Hause zurück, den Wollmantel eng um sich gezogen, denn es war noch kälter geworden. Ein leichter, aber schneidender Wind ließ das Kopftuch flattern, das sie um Haare und Hals gebunden hatte. Mehr als nur einmal sauste eine Straßenbahn an ihr vorbei, doch sie ignorierte sie, obwohl ihr die Füße weh taten. Sie war dankbar, dass es schon dunkel war, so brauchte sie die Enttäuschung und Niedergeschlagenheit nicht zu überspielen, sich nicht vor neugierigen Blicken zu fürchten. Konnte es sein, dass Francesco nicht richtig verstanden hatte? Und wenn er verstanden hatte, was war das dann für eine seltsame Reaktion? Diese plötzliche Distanz, dieser offizielle Termin, als gälte es etwas Geschäftliches zu regeln. Ohne jedes Feingefühl. Überhaupt ohne jede emotionale Regung. Marisa versuchte, Verständnis aufzubringen: Er war seit jeher ehrgeizig und voller Pläne. Auf keinen Fall wollte er so leben wie sein Vater, ein einfacher Angestellter bei der Telefongesellschaft TETI, der fünf hungrige Mäuler stopfen musste und immer knapp bei Kasse war. Und hatte ihr nicht genau das immer an ihm gefallen? So ein unerwartetes, viel zu frühes Kind brachte da natürlich einiges durcheinander. Andererseits sparte er schon lange, auch sie hatte etwas Geld auf ihr Sparbuch eingezahlt. Und dann war da noch der Anteil, den er für den Verkauf der Wohnung der Tante mütterlicherseits bekommen würde, die kinderlos gestorben war. Gemeinsam würden sie schon eine Lösung finden, ohne deswegen allzu große Opfer bringen zu müssen. Kurz bevor sie nach Hause kam, sagte sie sich, dass Francescos Kälte im Grunde nur verständlich war. Sie machte sich Vorwürfe, dass sie nicht die richtigen Worte gefunden hatte, um ihm zu sagen, dass er Vater wurde.
Die Zeit bis zu jenem Donnerstag nach Silvester kam ihr endlos vor. Um ihre gedrückte Stimmung zu erklären, täuschte sie eine leichte Grippe vor -...
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