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»Politeia« bezeichnet bei Platon, wie bei den Klassikern überhaupt, weniger die Verfassung als die Lebensweise einer Gemeinschaft. Diese soll jedoch von dem abhängen, was in ihr als höchstes Gut gilt.[1] Das verbindet im klassischen Verständnis die unterschiedlichen Perspektiven von Ethik und Politik. In der Demokratie und der ihr korrespondierenden Lebensweise oder Kultur, wie man heute wohl eher sagen würde, trägt dieses wichtigste Gut Platon zufolge den Namen »Freiheit«. Deshalb ist der eigentliche Gegenstand der Überlegungen zur Demokratie, die Platon seine Figur des Sokrates[2] im achten Buch der Politeia[3] anstellen lässt, das für die demokratische Kultur konstitutive Freiheitsverständnis. Nun ist bekannt, dass Platon kein Freund der Demokratie war. Sie mag bei manchen, wie er Sokrates distanziert feststellen lässt, aufgrund der Vielfalt der Sitten und der Freiheit der Lebensweisen als besonders bunt, ja sogar als die schönste aller Regierungsformen gelten (vgl. Rep. 557c); bei ihm rangiert sie nichtsdestotrotz an vorletzter Stelle – unter ihr steht nur noch die Tyrannei. Der schöne Schein der Demokratie ist für Platon ein falscher Schein. Nach seiner Diagnose führt der demokratische »Durst nach Freiheit« (vgl. Rep. 562c) nämlich notwendig in die Unfreiheit: Er begünstigt die Begierden, schwächt so die Kraft des vernünftigen Urteils, destabilisiert den Willen und bringt einen entsprechend schwachen, in jeder – auch der politischen – Hinsicht haltlosen Menschen hervor. Die »demokratisch gesonnenen« (Rep. 558c) Lebenskünstler schillern, so Platons vernichtendes Urteil, aus Schwäche, weshalb die Buntheit 30der demokratischen Kultur das sichere Zeichen ihres Niedergangs ist. Die demokratische Ästhetisierung ist der Vorbote der Tyrannei.
Man wird dieser Diagnose nicht ohne weiteres zustimmen wollen. Allerdings besteht auch aus der Perspektive einer Apologie der Demokratie und ihrer Schönheit nicht die schlechteste Methode, um die Reichweite eines Begriffs – hier den der demokratischen Freiheit – zu ermessen, darin, ihn ins kontrastreiche Licht einer Position zu rücken, die ihn aufs Schärfste bekämpft hat. Denn für die Implikationen eines Begriffs haben oftmals gerade jene ein besonderes Sensorium, die ihn aus dem praktischen und theoretischen Bewusstsein zu verbannen suchen.
Bereits der Umstand, dass Platon nicht die Gleichheit, sondern die Freiheit ins Zentrum seiner demokratietheoretischen Untersuchung stellt, ist bemerkenswert, wird von ihm jedoch nicht weiter begründet. Vielmehr lässt er Sokrates lediglich zitieren, was das Selbstverständnis der Demokraten ausmacht: die verbreitete Meinung, dass die Freiheit das höchste Gut der Demokratie ist (vgl. Rep. 557b und Rep. 562b). Ausgangspunkt der Überlegungen ist damit eine empirische, gewissermaßen diskursanalytische Feststellung über das Selbstverständnis der zu untersuchenden Kultur. Tatsächlich ist der demokratische Gleichheitsgrundsatz Platon zufolge nichts anderes als eine Implikation der exousia, der demokratisch gewährten Freiheit, nach der jeder »Erlaubnis hat […] zu tun was er will« (Rep. 557b). Denn diese Erlaubnis richtet sich auf alle gleichermaßen, ohne Ansehen von Stand oder Herkunft. Sie verteilt sich »gleichmäßig« auf »Gleiche wie Ungleiche« (Rep. 558c). Die demokratische Gleichheit ist keine substantielle, auf Ähnlichkeitsverhältnissen beruhende Gleichheit, sondern eine formale: eine Gleichheit Beliebiger in Freiheit. Das aber heißt auch, und schon hier ergibt sich für Platon ein erstes Problem, dass jeder Beliebige sich auf die Demokratie berufen kann, um in ihrem Namen zu sprechen. Schließlich beinhaltet exousia auch die Erlaubnis zu freier Rede, und zwar für jeden und auch für jene, die sich auf die Überredung der Massen verstehen.[4] Damit ist zwangsläufig Raum 31für charismatische Typen aller Art geschaffen, die bereit sind, ihren eigenen Willen mit dem des demokratischen Gemeinwesens zu identifizieren und sich eine Souveränität anzumaßen, die sich gegen die zuvor etablierte richten kann. Denn in der Demokratie, so lässt es Platon Sokrates darstellen, ist nichts verbindlich. So wie es aufgrund des in ihr herrschenden Freiheitsverständnisses für die Einzelnen keine Notwendigkeit gibt zu regieren, wenn sie nicht regieren wollen, so gibt es für sie umgekehrt auch keinen Zwang, regiert zu werden, wenn sie nicht regiert werden wollen. Die Einzelnen müssen weder Krieg führen noch Frieden halten, nur weil die anderen Mitglieder des Gemeinwesens Krieg führen oder Frieden halten; und sie brauchen sich auch nicht verbieten zu lassen, ein Amt zu bekleiden oder Urteile zu fällen (vgl. Rep. 557e). Sogar Todesurteil und Verbannung können in der Demokratie wieder aufgehoben werden (vgl. Rep. 558a). All dies läuft darauf hinaus, dass sich in einer Demokratie jeder, der sich anschickt, einen Staat zu gründen, wie in einer »Trödelbude« (pantopolion) einfach diejenige Verfassung aussuchen kann, die ihm passt (vgl. Rep. 557d). Vermöge der in ihr gewährten Freiheit (exousia) schließt die Demokratie »alle Arten von Verfassungen in sich« (ebd.).
Es ist frappierend, welche Aktualität dieser antiken Diagnose heute noch – oder sogar: gerade heute – zukommt.[5] Tatsächlich gibt es derzeit kaum einen Staat mehr, der nicht von sich behaupten würde, demokratisch zu sein. Die Moderne hat nicht nur konstitutionelle Monarchien sowie parlamentarische, präsidiale, liberale und sozialstaatliche Demokratien erlebt, sondern auch die Volksdemokratien der Sowjetunion und Chinas sowie verschiedene Militärdiktaturen, die sich mit dem Titel der Demokratie schmückten. Man denke beispielsweise an die sogenannte organische Demokratie Francos in Spanien oder an die »Neo-Demokratie« Trujillos in der Dominikanischen Republik. »Demokratie« ist offenbar weder der Begriff für eine bestimmte Regierungsform noch die Bezeichnung einer bestimmten Verfassung. Vielmehr zeichnet sich der Begriff durch eine Unbestimmtheit aus, die keine Folge eines theoretischen Unvermögens ist. Daher gilt es, diese Unbestimmtheit selbst begrifflich einzuholen. Denn ihre Unbestimmtheit, das heißt auch: ihre Angewiesenheit auf performative, formgebende Akte, ist 32ein Wesenszug der Demokratie; und diesen Zug zu denken stellt seit ihren Anfängen eine der zentralen Herausforderungen an die Demokratietheorie dar.
Nun gründet die Unbestimmtheit der Demokratie nach Platon ursprünglich in der exousia: der demokratisch gewährten Freiheit, das zu tun, was immer einem beliebt. Der auf den unpersönlichen Ausdruck exesti (»es ist möglich«, »es steht einem offen«) zurückgehende Begriff der exousia koppelt Freiheit an Möglichkeiten beziehungsweise Handlungsspielräume. In dieser Bedeutung kommt er dem liberalen Verständnis negativer Freiheit unserer Zeit erstaunlich nahe, wiewohl der Begriff der exousia das moderne Konzept subjektiver Rechte nicht kennt, das den liberalen Begriff negativer Freiheit mit der Idee eines Schutzes der individuellen Lebensgestaltung vor einer Beeinträchtigung durch die Einmischung Dritter verbindet.[6] Jenseits dieser Differenz teilt der politische Diskurs der Antike jedoch zunächst mit dem liberalen Konzept negativer Freiheit die schwierige Frage nach der Reichweite eines auf der Gewährung von Handlungsspielräumen fundierten Freiheitsbegriffs.[7] Denn bereits die neutrale Bedeutung von exousia impliziert die Möglichkeit des Missbrauchs: In ihrem begrifflichen Horizont kann die hybris, können Zügellosigkeit, Übermut und Anmaßung, können also Grenzüberschreitungen nicht ausgeschlossen werden. Ihre Möglichkeit ist der exousia vielmehr immanent. Eben dadurch ergeben sich Platon zufolge nicht nur für das Gemeinwesen insgesamt gesehen, sondern auch für das Leben der Einzelnen in ihm höchst problematische Konsequenzen.
Nicht nur führe die »übertriebene Freiheit« (vgl. Rep. 564a) der demokratischen exousia auf der Ebene des Gemeinwesens, eben weil dieses sich auf ihrer Basis nicht gegen den Typus des machthungrigen Schurken abzusichern vermag, mit einer gewissen Notwendigkeit früher oder später in die »strengste und wildeste Knechtschaft« – in die Tyrannei (Rep. 564a). Überdies, und das ist für unseren 33Zusammenhang natürlich von besonderem Interesse, tut man Platon zufolge auch gut daran, bereits dem schönen Schein der von diesem Schicksal noch nicht eingeholten demokratischen Kultur zu misstrauen. Wie ein Mantel (himation), in den vielerlei Farben und Muster eingewirkt wurden, so »könnte«, lässt er Sokrates sagen, auch die demokratische Kultur, »in welche allerlei Sitten verwebt sind, als die schönste erscheinen. Und vielleicht […] werden auch wohl Viele, die wie Kinder und Weiber auf das bunte sehen, diese für die schönste erklären« (Rep. 557c). Anders als die Kinder und die Weiber gibt sich der Philosoph natürlich nicht damit zufrieden, sich am bunten Treiben einer Kultur zu erfreuen, in der jeder sich sein Leben so einrichtet, wie es ihm gefällt. Seine Aufgabe ist es vielmehr, den schönen Schein des demokratischen patchwork zu durchschauen. Allerdings gibt es unter seiner Oberfläche auch für ihn nichts zu entdecken, und ebendiese Substanzlosigkeit der Demokratie gilt ihm als schwerer Makel: Nicht nur ist die Demokratie auf der Ebene ihrer Verfassung(en) nichts als ein (Deck-)Mantel, den sich jeder nach eigenem Belieben zurechtschneidern kann. Auch die in ihr privilegierte Lebensweise...
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