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Lukas Haselböck
Klangräume und Klangdramaturgie bei Rebecca Saunders
1911 schrieb Arnold Schönberg in seiner Harmonielehre, es müsse möglich sein,
»aus dem, was wir schlechtweg Klangfarbe nennen, solche Folgen herzustellen, deren Beziehung untereinander mit einer Art Logik wirkt, ganz äquivalent jener Logik, die uns bei der Melodie der Klanghöhen genügt. Das scheint eine Zukunftsphantasie und ist es wahrscheinlich auch. Aber eine, von der ich fest glaube, daß sie sich verwirklichen wird. (.) Klangfarbenmelodien! Welche feinen Sinne, die hier unterscheiden, welcher hochentwickelte Geist, der an so subtilen Dingen Vergnügen finden mag! Wer wagt hier Theorie zu fordern!«1
Die Emphase, die aus diesen Zeilen spricht, wird verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, dass die Klangfarbe in der europäischen Kunstmusik bis ins frühe 20. Jahrhundert ein akzidentelles Phänomen gewesen war. Im Gegensatz zur kompositorischen Praxis - dort war sie implizit immer schon relevant gewesen - war sie in der Musikwissenschaft und -theorie sowie in der Didaktik des kompositorischen Handwerks kaum reflektiert worden. Selbst in einem avancierten Theoriewerk wie Schönbergs Harmonielehre konnte ein Begriff wie »Klangfarbenmelodie« daher lediglich als Zukunftsfantasie Erwähnung finden, die auch in seiner eigenen Musik vorerst nicht Realität wurde.2
Und heute? Zum einen gibt es heute zahlreiche Beispiele für eine Musik, die die Klangfarbe ins Zentrum rückt (die Frage, ob diese Musik Schönbergs Zukunftsfantasien entspricht, ist strittig und kann hier nicht entschieden werden3). Zum anderen ist eine Theorie klangfarblichen Komponierens nach wie vor nicht in Reichweite.4 Ob in Bezug auf die Klangfarbe wissenschaftliche Erkenntnisse der Grundlagenforschung und kompositorische Tendenzen musiktheoretisch >gebündelt< werden können, werden zukünftige Entwicklungen zeigen. Jedenfalls ist anzunehmen, dass der Mangel an Theorie sowie die Diversität der kompositorischen Ansätze einander wechselseitig bedingen.
Rebecca Saunders ist eine jener zeitgenössischen Komponistinnen, die ihre Musik unmittelbar aus dem Potenzial von Klangfarbe heraus denkend und hörend entwerfen. Ohne Zweifel gibt es dabei Berührungspunkte zu vergleichbaren Konzepten. Vor dem Hintergrund der eben skizzierten Diversität >klangfarblichen Komponierens< offenbart ihr musikalisches Denken aber vor allem auch originelle und eigenständige Ideen.
Die Eigenart dieser Musik lässt sich anhand ihres Entstehungsprozesses erörtern: Wie die Komponistin betont, destilliert sie jenen besonderen >Farbton<, der im Zentrum des jeweiligen Werks stehen soll, aus der zur Verfügung stehenden Klangfarbenpalette heraus:
»Es ist in erster Linie die eigentliche Instrumentierung eines Werks, die die Art und Weise bestimmt, in der sich ein Stück entwickelt. In einer gewählten Instrumentalbesetzung liegt eine sehr reduzierte Klangpalette begründet, zu der ich mich hingezogen fühle und die ich bis zu den Grenzen ihres Potenzials zu treiben suche. Einen Klang bis zu seinem Rand zu führen, hat eine außergewöhnliche Spannung. Eine Instrumentengruppe kann eine unendliche Klangpalette bieten. Daher versuche ich zunächst, das Material so weit wie möglich zu reduzieren oder zu verdichten, um so etwas wie sein >Wesen< zu finden.«5
Zunächst entwirft Saunders für jedes einzelne Instrument »Klangfarben-Paletten«6, die in einem langsamen, häufig nicht einfachen Prozess7 zu einer Art >Zentralklangfarbe< kondensiert werden. Das Ergebnis vergleicht die Komponistin mit einem >mobile< - einem changierenden Gebilde, das sich je nach Betrachtungswinkel verändert: Es erklingt »immer dasselbe, aber immer anders«.8
Zunächst mag diese Formulierung an das vertraute Paradigma der Vielfalt in der Einheit erinnern - dies allzu ernst zu nehmen, hieße allerdings einer falschen Fährte zu folgen. Während es vorstellbar ist, die der entwickelnden Variation zugrunde liegende, aus einer Wurzel hervorgehende Vielfalt im Rahmen eines horizontal-linearen zweidimensionalen Denkens zu realisieren, ist bei Konzeptionen, in denen die Klangfarbe im Zentrum steht, ein dreidimensionaler Zugang unabdingbar. Klangfarbenkonstellationen beruhen notwendigerweise auf einer räumlichen Disposition. Dies ist sowohl in Bezug auf die Beschaffenheit des Materials als auch auf die Wahrnehmung nachvollziehbar.9
Die Komponistin bestätigt die Relevanz des Räumlichen für ihr Komponieren10: In Werken wie Void für zwei Schlagwerke und Orchester (2013/14, vgl. die folgende Analyse) gehe es um die Herausarbeitung eines Reliefs zwischen Vorder- und Hintergrundbewegungen. Dies habe eine Vielschichtigkeit zur Folge, die als plastisch-lebendige Klangwelt (quasi als akustische Landschaft) erlebt werden kann. Den Vorgang des Komponierens vergleicht Saunders mit dem Formen von Skulpturen11, wobei unterschiedlichste Facetten eines Grundmaterials gleichsam herausmodelliert werden.
Zunächst kann also der Begriff des Klangraums als Referenzpunkt dienen. Hier gibt es Bezüge zu jenen Räumen der Lebenswelt, die wir aus der Erfahrung kennen. In realen wie auch imaginierten (Klang-)Räumen unterscheiden wir Ereignisse, die wir der Höhe oder Tiefe, dem Vorder- oder Hintergrund zuordnen, helle und dunkle Farben, fluktuierende Bewegungen oder konstante Flächen, plötzliche Impulse oder kontinuierliche Prozesse. Durch all diese Faktoren wird die spezifische Ausbalancierung der Räume bestimmt.
In einem weiteren Schritt kann man in Erfahrung bringen und beschreiben, wie die Beschaffenheit der Klangräume und der zeitliche Ablauf einander bedingen. Für Saunders' Komponieren ist dabei entscheidend, dass Klang aus Stille hervorgeht und Stille ihre Qualität durch den Klang erhält, der sie umgibt. Klänge werden aus der Stille gezogen12 und sind daher in ihrem innersten Wesen zeitlich. Zu einer solchen »Klangformung aus der Stille heraus«13 nahm Saunders häufig Stellung - z. B. im Zusammenhang mit ihrem Werk vermilion für Klarinette, E-Gitarre und Violoncello (2003): »Wie klingt die Stille, wie schwer ist sie, wie bezieht sie sich auf vergangene und künftige Klänge, wie rahmt sie musikalische Gesten, welche Funktion hat sie zwischen Stillstand und Leidenschaft?«14
Auch der Hinweis auf die Physis ist wichtig: Jeder Klang hat sein spezifisches Gewicht, das auf die folgende Stille abfärbt und deren Qualität und Länge beeinflusst. Das Erdenken und Erfahren von Klangräumen ist also auch eine Art körperlicher Prozess: Stille und Klang werden beim Komponieren und Hören »gewogen«15. Das Herausschälen des Klangs aus der Stille und dessen Resonanz im Klangschatten kann man als Energiefluss16 auffassen.
All dies hat Auswirkungen auf das formale Ganze. Da jeder Moment dieses energetischen Fließens zwischen Klang und Stille individuell geformt werden muss, ist es, wie Saunders betont, unmöglich Formverläufe im Vorhinein im Detail zu planen. Klangliche Ereignisse können den Ablauf jederzeit kurz- oder auch langfristig modifizieren. So kann z. B. ein Akzent einen auditiven Schock auslösen, der in einer langen Stillephase nachwirken muss. Intensive oder besonders prägnante Klangfarben können ebenfalls eine lange Resonanzphase zur Folge haben. Umgekehrt kann diese Aktions- oder Spannungsleere wieder zu Verdichtungen führen. Die Balance und Gewichtung des Ganzen werden auf diese Weise stetig modifiziert. Der Prozess des Komponierens kommt dadurch dem des Hörens nahe. Dies betont auch die Komponistin: Das »Bild der Klangskulptur ist für mich ziemlich wichtig geworden: die Vorstellung einer Form, die erst in der Zeit entsteht.«17
Void für zwei Schlagwerke und Orchester (2013/14) ist als Auftrag des Westdeutschen Rundfunks und des Festivals Wien Modern entstanden und wurde am 10. Mai 2014 in Witten durch das WDR-Symphonieorchester, die Schlagzeuger Christian Dierstein und Dirk Rothbrust sowie den Dirigenten Peter Rundel uraufgeführt. Der Titel leitet sich vom englischen Wort >void< ab, das mit Hilfe einer lexikalischen Definition näher gefasst wird: »void/v??d. C13 F. vuide + voider, L. vacare + vocitus. Etwas Wüstes, Leeres, Abwesendes. Ein Verlust von, etwas Fehlendes, weit Aufklaffendes.«18 Die Leere bzw. Stille wird also bereits im Titel direkt angesprochen.
Zur Analyse der Klangräume zu Beginn von Void verwende ich im Folgenden zwei Aufnahmen: die eine mit dem Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR, den Schlagzeugern Christian Dierstein und Dirk Rothbrust sowie dem Dirigenten Emilio Pomarico, aufgenommen am 7. Februar 2016 im Theaterhaus Stuttgart (im Folgenden = SWR19); die andere mit dem Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin, ebenfalls mit Christian Dierstein und Dirk Rothbrust sowie mit Enno Poppe (Dirigent), aufgenommen am 21. Januar 2018 beim Ultraschall-Festival Berlin (=...
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