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Stetes Klatschen, mal hell, mal dumpf, während sich das Motorboot über den Atlantik schleppt. Anna sitzt stumm da, eine silbergraue Strähne ist ihrem Haarband entwischt. Graue Regensäulen verbinden den Ozean mit den ölig schwarzen Kumuluswolken. Dumpfes Motorendröhnen erfüllt die Kabine. Hin und her ächzende Scheibenwischer klären einen Winkel der Scheibe. Jedes Mal, wenn das Boot schwankt, ruckelt eine kleine Kaffeekanne auf dem Tablett ein Stückchen weiter zur Seite. Der Mann am Steuer dreht sich nach Anna um. Sie hat ihren Blick auf den Horizont geheftet, als gäbe es nichts anderes auf der Welt.
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Anna war viel älter als gedacht. Am Abend zuvor hatten wir im Wohnzimmer ihres Hauses auf Vega gesessen. Sie hatte starken Kaffee gekocht, dazu aßen wir dunkle Schokolade. Ihr Strickzeug lag über der Lehne ihres Sessels. Zarte Kakteen säumten die Fensterbank. Im Fernsehen lief der norwegische Ceefax - Nachrichten als schmales Textband. Sie schaue gern Science-Fiction-Filme, etwa Star Trek, erzählte sie. Das war nicht die halb wilde Frau auf den Felsen, an die ich mich erinnerte. Hier hätte sie als gewöhnliche Großmutter durchgehen können. Ich traute mich nicht, sie zu fragen, aber sie musste um die siebzig sein.
Wir tauschten uns auf Englisch über unsere Familien aus. Dummerweise verstanden wir jeweils nur die Hälfte, und alle paar Sätze zuckten wir mit den Schultern oder lachten frustriert, und manchmal verstummten wir mit der Bemerkung, das sei jetzt zu kompliziert. Sie zeigte mir alte Fotos, eine einfachere Methode, wie sich herausstellte.
Die Wände ihres Wohnzimmers hatte sie in einen Schrein für die Inselbewohner verwandelt. Sie zeigte mir ihren Vater, dessen Brüder, Schwestern und ihre Großeltern, mehrere Generationen der Familie Måsøy, die auf formellen Porträts ihren hart erarbeiteten Wohlstand präsentierten. Stolz dreinschauende Männer, die ein gestärktes Hemd mit steifem Kragen, eine schwarze Wollweste und einen Anzug trugen. Die Frauen wirkten streng oder schienen sich in ihrer Sonntagskleidung nicht ganz wohlzufühlen: weiße oder cremefarbige, knöchellange Kleider, hochgestecktes Haar. Man trug kostbare Broschen und Ketten zur Schau. Diese Aufnahmen waren gemacht worden, um in einem Goldrahmen an der Wand zu hängen. Die Frauen hatten kräftige Schultern, lederige Wangen und windzerzaustes, flachsblondes Haar. Die Männer hatten ihre Haare mit Fett gescheitelt, die obere Hälfte der Stirn, wo der Fischerhut gesessen hatte, war bleich. Die Außenaufnahmen zeigten Holzhäuser, die sich an wilde, graue Felsen klammerten, und von silberigem Treibgut übersäte Küstenstreifen. Diese Leute glichen meinen Vorfahren - es waren Menschen, die ihr Leben lang mit den Händen gearbeitet hatten und bei jedem Wetter im Freien gewesen waren. Tatsächlich glichen sie uns aufs Haar. Nur dass meine Vorfahren das Meer weder gesehen noch davon erzählt hatten: Sie waren Bauern. Ich spürte Annas Stolz auf die archaische Welt ihrer Familie. Sie wiederum spürte vielleicht, dass ich einen ähnlichen Stolz in mir trug.
An dem Abend hörte Anna nicht auf zu erzählen. Einiges drehte sich um den kleinen Hof auf Vega, wo sie nun lebte, anderes um weit draußen gelegene Inseln mit sonderbaren Namen. Teils sprudelte eine komplette Geschichte aus ihr heraus, teils erzählte sie bedächtig. Manche handelten von Enten, manche vom Leben auf der Insel, in anderen ging es um den Handel. Manche hatten sich im frühen neunzehnten Jahrhundert zugetragen, andere vor einer Woche, als täte der Lauf der Zeit nichts zur Sache. Es war ein verwirrendes Gespinst, doch Anna kannte wie eine Weberin den Platz jedes Fadens. Ihr stand das herrlich gewebte Tuch vor Augen, mir nicht. Sie wollte mir begreiflich machen, dass ihre Vorfahren dem Gewebe dieses Ortes eingewirkt waren. Sie entstammte einer Familie von »Eiderdaunen-Königen«, Menschen, die ein seltenes Produkt ernteten und verkauften - die Federn der Eiderente. Ihre Vorfahren hatten die Eiderdaunen von der Nordwestküste Europas in die Welt gebracht.
Anna wollte nicht akzeptieren, dass diese Vergangenheit ein abgeschlossenes Kapitel war, das spürte ich. Sie hatte die Geschichten ihrer Vorfahren verinnerlicht wie die antiken Griechen, lange bevor manches schriftlich festgehalten und einem Dichter namens Homer zugeschrieben wurde. Ihr Stolz beruhte in erster Linie auf der Leistung ihrer Familie, die sich von relativer Armut zu relativem Reichtum, von besitzlosen Arbeitern zu Personen von Rang hochgearbeitet hatte. All das, weil sie das Meer rund um ihre Inseln zu nutzen gewusst hatten und Wege fanden, zu ernten und zu verkaufen, was der Ort hervorbrachte.
Während sie erzählte, zeigte sie auf die alten Fotos an den Wänden. Sie wirkte wie eine Königin - nicht wegen ihrer Kleider oder ihres Besitzes, sondern wegen ihrer unbezähmbaren Augen. Annas Leben war eine einzige Rebellion gegen alles Moderne gewesen. Ihr Glaube, dass alles, was sie schilderte, bis heute von Bedeutung sei, schien unerschütterlich zu sein - eine Gabe Gottes.
Sie war der Nachkömmling einer langen Reihe von Fischern: Menschen, die halb auf dem Land und halb auf dem Ozean gelebt hatten. Die norwegische Bezeichnung des flachen Küstensockels, der sich von den Bergen aus nahezu fünfzig Kilometer weit ins Meer erstreckt, lautet strandflat. Im Vega-Archipel ragt der von den gewaltigen Eiszeitgletschern abgeschliffene und zerfurchte Meeresboden in Gestalt Tausender Inseln und Felseilande aus den Wellen. Zwischen diesen Inseln, teils größer, teils winzig, ist das Wasser stellenweise so flach, dass es von den Einheimischen stovelhav genannt wird - »Stiefelmeer«. Bei Ebbe, so sagt man, könne man dort trockenen Fußes herumspazieren.
Wie vor Zeiten jedes Wikingerkind wusste, war die Küste aus dem Körper eines toten Riesen geformt worden. Die Berge waren seine Knochen. Die Erde war sein Fleisch. Seine Haare bedeckten die tiefer gelegenen Berghänge mit Grün. Der Ozean bestand aus seinem Blut und Schweiß. Seine Zähne wurden zu Inseln, Riffen und Felseilanden. Ohne diesen Riesen wäre die Geschichte von Annas Familie in jeder Hinsicht undenkbar. Sie lebte in der aus ihm entstandenen, von ihm hinterlassenen Meereslandschaft.
Nach dem Abschmelzen des Eises hatten die Menschen Mittel und Wege gefunden, hier zu überleben - durch eine inzwischen Jahrtausende alte Kombination von küstennahem Ackerbau, Jagen und Sammeln. In guten Jahren brachten ihre steinigen Äcker hervor, was sie brauchten; Kartoffeln, Roggen, Dinkelweizen oder Hafer. Sie hielten auch Vieh. In der Scheune wurde ein Schwein gemästet. Man hatte einige Schafe. Eine kleine, struppige Kuh wurde mit Heu durch den Winter gebracht.
Doch während zahlloser unbarmherziger Jahrhunderte quollen die Bäuche der Menschen immer wieder vor Hunger auf, wenn der Weizen schwärzlich verfaulte oder die Schweine erkrankten. Tief im Binnenland verhungerte man oder musste auswandern. Lebte man dagegen in Küstennähe, konnte man fischen oder sammeln, was die Felsen oder das flache Wasser boten.
Mit der Zeit mauserten sich die überlebenden Küstenbewohner zu geschickten Fischern, die weit hinausfahren konnten, bis dorthin, wo das Meer von Fischen wimmelte. Der riesige Heilbutt. Der mächtige Dorsch. Gewaltige Heringsschwärme. Und zahllose andere essbare Geschöpfe, von Seehunden bis zu Walen. Obendrein gab es Seevögel, deren Fleisch und Eier essbar waren und deren Federn Wärme spendeten.
Verstand man, sich bei jedem Wetter an dieser Küste zu bewegen, vom Meer und von steinigen Äckern zu leben, dann hinderte einen nichts daran, in alle Nordmeere auszuschwärmen. Und genau das taten diese Menschen.
In der Geschichtsschreibung, die der Feder christlicher Priester, ihrer schwer geprüften Opfer, entsprang, wurden die Menschen, die von dieser Küste aufbrachen - um auf Erkundungsfahrt zu gehen, Handel zu treiben, zu plündern, zu kämpfen oder zu rauben -, als Wikinger bezeichnet. Einer der Orte, zu denen sie aufbrachen, ist meine Heimat.
Ich weiß noch, wie ein Lehrer an meiner Schule erzählte, in Norwegen verstehe man unseren Dialekt am besten. Damals hielt ich das für Unsinn, doch er hatte recht. Wir waren vom gleichen Schlag, getrennt durch das Meer und gut tausend Jahre Geschichte. Vieles von dem, was Anna in ihrer Muttersprache erzählte, verstand ich auf Anhieb. Die Vielzahl gemeinsamer Wörter war erstaunlich. Wörter skandinavischen Ursprungs wie:
Beck. Fell. Thwaite. Lowp. Sieves. Laik. Yam. Scribble.
Bach. Hügel. Rodung. Sprung. Sieb. Spiel. Klumpen. Kritzelei.
Ich zeigte Anna meine Ausgabe der Isländersagas, Geschichten, die Wikinger über berühmte Krieger ihrer Zeit erzählt hatten. Sie nickte. Die Sagas berichten, dass man Eiderdaunen als Tribut oder Pacht von daheimgebliebenen Fischer-Bauern verlangte - Annas Vorfahren. Die Federn gelangten auf den damaligen Handelsrouten in die Welt hinaus. Schon in der Eisenzeit wurden Könige, Königinnen und Krieger mit Daunendecken bestattet - manche aus Eiderdaunen, andere aus den Daunen heiliger Vögel -, damit es die Toten auf ihrer Reise in die jenseitige Welt bequemer hatten.
Die Lebensweise an der Küste überstand das Verschwinden der Wikinger. Ähnliche Kulturen fanden sich überall im Baltikum, an der Nordküste Russlands, auf Island und Grönland, entwickelten sich auch in den nördlichen Regionen Kanadas und der USA. Annas Vorfahren lebten am Nordrand Europas, auf winzigen Inseln, hinter denen der tiefe Ozean...
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