Schweitzer Fachinformationen
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1.
Der erste Tag des Wunders
Die Fischerei- und Naturschutzbehörde hatte den Strand der kleinen halbmondförmigen Bucht mit gelbem Absperrband abgeriegelt. Der Bürgermeister und der Gouverneur hatten in zwei getrennten Pressekonferenzen - nicht einmal diesen Termin wollten sie teilen - die Menschen gewarnt, sich vom Wasser fernzuhalten. Sie fürchteten, die Inselbewohner und Touristen könnten so viele Artemia lucis in Glasgefäßen sammeln, um sie wie Glühwürmchen staunend zu betrachten, dass die Laichaktivität gestört werden und die Gattung für immer aussterben könnte. Diese Sorge war Dr. Bells Meinung nach nicht ganz unbegründet.
Rachel zog den Reißverschluss ihrer wasserdichten Jacke ein Stückchen höher. Handschuhe wären angebracht gewesen, aber sie konnte in ihnen nicht arbeiten. Die Winter auf den San Juan Islands waren kalt, allerdings selten so kalt, dass es schneite, und der unaufhörliche Niesel musste nicht einmal schmelzen, bevor er in ihre Kleidung, Stiefel und Haut drang. Der leichte, wenn auch fortwährende Regen hatte im Laufe des Tages nicht nachgelassen, und bis Juni würde er das auch nicht tun. Anscheinend konnte man sich an das Klima gewöhnen, aber Rachel, die in Arizona aufgewachsen war, wo die Sonne einem die Knochen schon zu Lebzeiten versengte und ausbleichte, konnte sich nicht vorstellen, sich jemals an dieses Wetter zu gewöhnen. Die vergangenen zwei Jahre war ihr durchgehend kalt gewesen. Es war eine Kälte, der weder mit dicken Wollsocken noch unförmigen Sweatshirts zu Leibe gerückt werden konnte. Es war die Art Kälte, die Menschen schrecklich gereizt machte.
Wären die Artemia lucis nicht gewesen, hätte Rachel es niemals in Betracht gezogen, an einen solchen Ort zu ziehen. Aber bei Wissenschaftlern hat es eine lange Tradition, dass sie ihren Obsessionen in die ungemütlichsten und gefährlichsten Winkel der Welt folgen, tief in den Dschungel oder hinaus auf Eisschollen, weshalb sie sich niemals, unter gar keinen Umständen, bei ihren Teamkollegen beschwert hätte, von denen einige mit Nieselregen und Moos aufgewachsen und anscheinend gut gediehen waren, als wäre die Feuchtigkeit eine Art Wachstumsmittel.
Ihr Forschungsteam wurde von Dr. Eugene Hooper geleitet, der dem Institut für Biologie an der University of Washington schon so lange vorstand, dass sich niemand mehr erinnerte, wer es vor ihm geleitet hatte. Hooper, der seinen Vornamen hasste und nicht reagierte, wenn er damit angesprochen wurde, war einen Kopf größer als alle anderen Männer am Institut. Scheinbar unfähig, Körperfett anzusetzen, lag seine Haut wie eine Schrumpffolie um seinen Körper, und er hatte um Mund und Augen tiefe Falten, die sich durch zu viel Sonne während zu vieler Forschungsexpeditionen eingegraben hatten. Die Arbeit hatte auch noch auf anderen Gebieten ihren Tribut gefordert. Eine Reise nach Borneo zu Anfang seiner Karriere beutelte ihn seitdem in all den Jahren mit wiederkehrenden Malariaschüben, was zu interessanten »Abwesenheitshinweisen« führte.
Alle Seminare, Sprechstunden und Sitzungen von Dr. Hooper entfallen in dieser Woche aufgrund fiebriger Halluzinationen. Vielen Dank für Ihr Verständnis.
Hoopers Team für diese Forschungsreise war vor einem Jahr zusammengestellt worden und wartete seitdem auf seinen Einsatz. Während die voraussichtliche Laichzeit geschätzt werden konnte, konnte das genaue Datum nur auf achtundzwanzig Tage eingegrenzt werden, und selbst das war nur eine Wahrscheinlichkeit.
Jedes Mitglied hatte eine gepackte Reisetasche im Kofferraum seines Wagens. Sämtliche notwendigen Laborausrüstungen und Geräte zum Sammeln von Proben waren zusammengetragen worden und warteten in der Universität auf den Abtransport. Es hatte Einweisungen und praxisorientierte Übungen und mehr Sitzungen gegeben, als Rachel lieb war. Gott bewahre, sollte der Akku eines Handys einmal leer sein! Es war, als seien sie alle werdende Väter, die nur darauf warteten, dass die Fruchtblase platzte.
Als der Anruf an jenem Morgen um kurz nach halb sechs kam, hatte Rachel, eine Biochemikerin, gerade versucht, sich vorzubeugen. Sich vorzubeugen war eines von vielen Dingen, die ihr schwerfielen. Im Schlaf versteifte alles, und egal wie sehr sie sich am Vortag gedehnt hatte, sie musste jeden Morgen wieder von vorne beginnen.
Als Erstes schob Rachel das Deckbett, die Tagesdecke und die Daunendecke beiseite und rutschte von der Matratze wie eine Frau, die ein Glas Wasser auf dem Kopf balanciert. Sobald sie auf den Beinen war, ließ sie den Kopf, der an den seilartigen, knotigen Wülsten der glänzenden Narben an ihrem Halsansatz zog, nach vorne sinken. Sie biss die Kiefer fest zusammen und wartete, bis der schlimmste Schmerz vorüber war, bevor sie die Schultern nach vorne rollte und die Arme locker über die Zehen baumeln ließ. Unter einer Abfolge tiefer, lauter Atemzüge, die sie durch die Zähne presste, dehnte Rachel ihren Rücken, einen Wirbel nach dem anderen. Die Schwierigkeit bestand darin, weder in Ohnmacht zu fallen noch sich zu übergeben. Erbrechen wäre eine bedauerliche Angelegenheit, da sie bereits ihr morgendliches Vicodin geschluckt hatte, und es schade wäre, die Wirkstoffe zu verlieren, die sich noch unaufgelöst in ihrem Verdauungstrakt befanden.
Rachel vollführte gerade ihre Lamaze-Atemtechnik, als ihr Handy laut vibrierte. Es war ein schrilles Plärren in der frühmorgendlichen Stille, während selbst die blau schimmernden Westlichen Buschhäher immer noch fest schliefen.
Mit einer Hand tastete sie blind nach ihrem Nachttisch und dann nach ihrem Handy.
»Bell«, meldete sie sich.
»Rachel?«, sagte Hooper. »Es ist so weit.«
Obwohl sie die chemischen Prozesse in ihrem Gehirn verstand, konnte sie sie nicht kontrollieren. Ein Schwall Adrenalin traf ihre Adrenozeptoren, reizte ihren Sympathikus und löste einen unwillkürlichen Reflex aus. Sie zuckte heftig zusammen und Phosphene schwirrten auf ihrer Netzhaut.
»Aua.« Rachel biss die Zähne zusammen und boxte sich auf die Hüfte.
»Bei Ihnen alles in Ordnung?«
Hooper fragte häufig, ob bei ihr alles in Ordnung war, und Rachel gab stets dieselbe Antwort. Die Frage und die Antwort waren schon so viele Male zwischen ihnen ausgetauscht worden, dass sie keines bewussten Gedankens mehr bedurften. Rachel würde ihm natürlich niemals von ihren Narben erzählen, denn sie erzählte niemandem davon, aber wenn sie jemals eine Ausnahme machen würde, dann bei ihm. Diese rein hypothetische Überlegung war das größte Maß an Vertrauen, das Rachel jemals in irgendjemanden gesetzt hatte, seit sie alt genug war, um Fahrrad zu fahren.
»Alles gut«, sagte Rachel durch einen Atemzug. »Ich bin auf dem Weg.«
Sie beendete das Gespräch mit dem Daumen, ohne sonst irgendein Körperteil zu bewegen. »Verdammt!«
Das, was sie mehr als alles andere auf der Welt herbeigesehnt hatte, traf gerade ein - genau in diesem Moment -, und Rachel hatte keine andere Wahl, als zu warten. Sie wackelte mit den Fingern, krümmte die Zehen, ballte die Fäuste und löste sie wieder, Faust, lösen, Faust, lösen, wackeln, krümmen, wackeln, krümmen, tat einfach alles, um ihre Nerven zu beruhigen. Während sich allmählich jeder Millimeter Narbengewebe entspannte, verlangsamte sich ihr Atem und normalisierte sich dann. Als er vollkommen ruhig war, waren ihre Dehnübungen beendet. Sie erhob sich und zog das schlabbrige T-Shirt aus, in dem sie geschlafen hatte.
Ihr Rücken, von den Schultern bis zu ihrer Hüfte, glich geschmolzenem, tropfendem Wachs. Rachel kannte die Narben gut genug, um darin Formen zu erkennen, so wie ein Kind in Wolken Tiere sah. Rechts von ihrer Wirbelsäule, ungefähr in der Mitte ihres Rückens, gab es einen Baum, links, ein bisschen höher, einen Raben im freien Flug, und zwischen ihren Schulterblättern hatte sich das Gesicht eines alten Mannes eingebrannt. Die Narben dehnten sich, wenn sie sich bewegte, und obwohl sie keinen Deut besser wurden, fragte sich Rachel manchmal, ob sie sich im Laufe der Zeit nicht leicht veränderten, wie Sterne, die am Himmel schwebten.
Obwohl Rachel sie inzwischen nicht mehr abscheulich fand, waren sie es objektiv betrachtet natürlich schon. Es war die Sorte Narbe, bei deren Anblick sich die Menschen die Hände auf den Mund pressten. Die Sorte Narbe, die Menschen Angst einjagte. Und auch wenn ein Erwachsener zu einem Kind sagen mochte, dass sie - dass Rachel - nichts war, wovor man Angst haben müsste, war es eine Lüge. Jeder vernünftige Mensch hätte Angst und sollte sie auch haben, denn ihre Narben waren der Beweis, dass Dinge, die nicht überlebt werden durften, manchmal überlebt wurden, und dass dies keine freudige Botschaft war. Es war besser, nichts davon zu wissen. Rachel wünschte, sie wüsste nichts davon, was zum Teil der Grund war, weshalb niemand jemals ihre Narben gesehen hatte. Kein lebender Mensch, abgesehen von den Ärzten - und von denen hatte es viele gegeben -, wusste, dass sie da waren.
Dieses Geheimnis zu bewahren zog gleichzeitig ihre zwischenmenschlichen Beziehungen in Mitleidenschaft, aber andererseits war es wohl sowieso nicht zuträglich, sie als »zwischenmenschliche Beziehungen« zu bezeichnen.
Mit hastigen Bewegungen griff Rachel nun in eines der zwei kleinen Goldfischgläser auf ihrem Nachttisch. Weiße Pillen in der einen, orangefarbene in der anderen. Das Vicodin war eine Mischung aus Paracetamol, das längst ihre Leber angegriffen hatte, und Hydrocodon. Laut ihrer eigenen Berechnung würde ihre Dosierung bei ihr in weniger als einem Jahr zu Herz- und/oder Lungenversagen führen. Es lagen, dachte sie, einige Vorteile in...
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