Schweitzer Fachinformationen
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Grace Sayers saß auf der Parkbank und hielt ihren Pappbecher unters Kinn, um sich zu wärmen. Sie verfolgte das Geschehen bei dem kleinen Coffee-Van gegenüber, freute sich an den wilden Dampfwolken, die die Kaffeemaschine ausspuckte, an dem glatten Klicken von Stahl auf Stahl, mit dem der Filter einrastete, an dem dumpferen Aufprall von Stahl auf Holz, wenn der Barista den Kaffeesatz losklopfte.
Eine Frau etwa im Alter ihrer Tochter plauderte mit dem Mann, während er ihren Kaffee zubereitete. Beide lachten, als sie Schokoflöckchen auf ihre Tasse streuen wollte und der Wind sie auf die Theke wehte. Zu Füßen der Frau schob ein kleiner Junge eine Spielzeuglok auf dem Asphalt herum und trank dabei Saft aus einem Tetrapak. Grace beobachtete, wie er den Strohhalm aus dem Mund nahm, laut tschsch tschsch tschsch machte und dann weiternuckelte. Bäckchen und Tetrapak wölbten sich nach innen.
Ach, wie vertraut Grace dieses Tschsch-tschsch-tschsch war. Es versetzte ihr einen Stich, als bohre sich der Strohhalm in ihre Rippen. Ihr musste ein unwillkürlicher Schmerzenslaut entfahren sein, denn die Frau drehte sich zu ihr um.
Grace wollte nicht als schrullige Alte dastehen und überspielte den Moment mit einem Husten. »Ich habe mich verschluckt«, erklärte sie und klopfte sich theatralisch gegen die Brust. Ihre Worte verwehten wohl im Wind, denn die Frau wandte sich wieder der Theke, den Schokoflöckchen und dem Barista zu, und Grace stürzte in neue Verlegenheit, weil sie Selbstgespräche führte.
Die Frau hatte braunes Haar, das sie zu einem ähnlichen Knoten geschlungen trug wie früher Grace' Tochter, bevor sie die langen Haare satt bekommen und einfach abgeschnitten hatte. Nie würde Grace den Moment vergessen, als sie ins Zimmer ihrer pubertären Tochter trat und die Haare auf dem Schreibtisch liegen sah wie ein kleines Kaninchen, nie den trotzigen Blick, mit dem Amelia ihr entgegenstarrte, die Schere noch in der Hand. Die Haare, die Grace jahrelang gebürstet hatte, aus denen sie Nester entwirrt hatte, alles mit einem Schlag weg, abgeschnitten und das nicht einmal gerade. Grace hätte am liebsten geweint vor Trauer um die seidigen Locken, aber Jonathan hatte sie beschwichtigt, entspann dich, hatte er gesagt, es sind ihre Haare, lass sie damit machen, was sie will. Und wenn es das Falsche ist, wachsen sie ja wieder nach. Es gibt Schlimmeres.
Er hatte natürlich recht gehabt. Grace wollte ihrer Tochter doch nicht die Frisur vorschreiben! Du lieber Himmel, in den Siebzigern war sie Feministin gewesen oder hatte sich zumindest dafür gehalten.
Noch heute legte Grace großen Wert darauf, ihrer Tochter jedes Mal, wenn sie sie sah, ein Kompliment zu ihrem immer noch kurzen Haar zu machen. Leider sah Grace sie nicht oft genug.
Der Drang, Amelia anzurufen, stieg in ihr hoch wie kleine Milchschaumbläschen. Sie unterdrückte den Wunsch und fasste sich an ihr eigenes Haar, das sonst immer akkurat frisiert, heute aber vom Wind zerzaust war. Sie musste bei Amelia vorsichtig sein. Schon als Baby war sie schnell in Wut geraten, hatte zornig das Gesichtchen verzogen, wenn der Schnuller herunterfiel oder die Windel zu stramm saß. Und nach allem, was später passiert war, war ihr Umgang miteinander noch heikler geworden.
Aber diese Gedanken wollte Grace jetzt nicht vertiefen. Vorsichtig nippte sie am Kaffee, damit sie sich nicht verschluckte. Amelia wollte tagsüber nicht gestört werden, nicht bei der Arbeit. Ich ruf dich zurück, wenn ich Zeit habe, hatte sie bei Grace' letztem Anruf gereizt gesagt.
Das war vor fünf Tagen gewesen, Grace wusste es genau, obwohl sie sich vorgenommen hatte, die Tage nicht zu zählen. Amelia war eben sehr beschäftigt. Grace zog ihr Handy heraus. Keine Anrufe. Sie verstaute es wieder. Aber sie wusste ja, wie es war, wenn man viel zu tun hatte, im Job, mit den Kindern, mit dem Alltag. Vor Jahren war sie selbst beruflich enorm eingespannt gewesen und hatte sich dabei gestresst und gehetzt, aber auch wichtig und in Topform gefühlt, alles gleichzeitig.
So viel hatte sie gearbeitet, dass sie Dinge nicht mitbekam, die sich direkt vor ihrer Nase abspielten.
Grace biss sich auf die Lippe und wandte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Jungen zu. Sein Tetrapak war jetzt ganz platt, er hatte alles an Luft und Saft herausgesogen und zupfte seine Mutter an der Jacke. »Wenn der Karton leer ist, dann wirf ihn in den Mülleimer«, sagte die Frau, ohne ihn weiter zu beachten.
In dem Park gab es natürlich keine Autos, dafür vorbeirasende Fahrräder, Roller und ab und zu auch große Hunde. Grace beobachtete nervös, wie der Junge ohne jeden Blick nach links und rechts über den Weg zu dem Mülleimer rannte, der neben ihrer Bank stand. Sofort hatte sie Bilder von aufgeschürften Knien, blutigen Nasen, Schnittwunden am Ellbogen vor Augen.
Banale Verletzungen, die sich mit Jodsalbe, Pflastern und Küssen heilen lassen.
Grace lächelte den Jungen an und versuchte, seinen Blick auf sich zu lenken, aber er streckte, ganz in seine Aufgabe vertieft, die Arme zum Eimerrand hinauf, in der einen Hand den Karton, in der anderen seine Lok. Der Eimer war zu hoch für ihn, er musste sich auf die Zehenspitzen stellen. Er hielt den Arm wie einen Kran darüber und ließ den Karton hineinplumpsen.
»Eine schöne Lok hast du da«, sprach Grace ihn behutsam an. Er war ein süßer kleiner Kerl, drei vielleicht, an seinem Kinn klebten noch ein paar Reste vom Frühstück, Ei oder getrockneter Joghurt, wer weiß. Grace wünschte sich, sie hätte eine Serviette dabei und könnte ihn gründlich abwischen, aber das ging natürlich nicht, selbst wenn sie eine Serviette dabei gehabt hätte. Sie war nur eine Fremde im Park.
»Die Lok fährt ganz schnell«, erklärte der Junge mit großem Ernst. »Die Räder drehen sich und drehen sich und drehen sich.«
»Die haben bestimmt einen Aufzieh-Mechanismus«, sagte Grace. »Drinnen im Gehäuse.«
Bei dieser Information runzelte der Junge die Stirn, dann zog er die Lok rückwärts über den asphaltierten Weg, mehrmals und ziemlich heftig. Dann ließ er sie los. Sie rollte ein paar schlappe Zentimeter und kam dann kläglich zum Stehen.
»Kaputt!«, rief er. Grace sah ihn an, dann die Lok. Er war den Tränen nahe. Sie zögerte. Die Sache ging sie im Grunde gar nichts an. Andererseits .
Sie streckte die Hand aus. »Gib mal her«, sagte sie. »Darf ich sie mir kurz anschauen?« Der Junge sah sie voller Misstrauen an. »Wahrscheinlich ist die Feder drinnen festgeklemmt. Ich such mal meine Pinzette .« Grace fand sie in ihrer Handtasche und hielt sie dem Kleinen zur Begutachtung hin.
Die Pinzette sprach offensichtlich für Grace' Qualifikation und der Junge überließ ihr die Lok.
»Da haben wir's«, sagte Grace. »Schau mal, hier ist das Gehäuse ungünstig geformt. Keine gute Konstruktion. Wenn ich die Lok gebaut hätte, hätte ich ein besseres Federwerk genommen. Jetzt ziehe ich das hier mal raus . Das war's, bitte sehr.«
Sie gab dem Jungen seine Lok zurück. Er riss sie an sich und drückte sie an die Lippen.
»Ups, jetzt ist mir die Pinzette runtergefallen«, sagte Grace und suchte mit zusammengekniffenen Augen den Asphalt ab. »Kannst du sie mir bitte aufheben?«
Aber der Kleine hatte nur noch Augen für seine Lok. Er zog sie auf, kreischte vor Freude, wenn sie den Weg entlangsauste, und jagte ihr hinterher wie ein Hund dem Ball.
Grace seufzte und ließ sich ächzend zu ihrer Pinzette nieder. Die war ihr Lieblingswerkzeug, genau das Richtige, um Gleislaschen auszurichten. Grace blieb noch ein Weilchen hocken, um Kräfte fürs Aufstehen zu sammeln. Seit sie die Siebzig überschritten hatte, schien sich die Schwerkraft verdoppelt zu haben. Grace stützte sich ab, um das Gleichgewicht zu halten, und sah erst dann, dass ihr Mantelsaum in einer Pfütze hing und sich mit schmutzigem Wasser vollsog.
»Mist«, fluchte sie. Das kam etwas lauter heraus als beabsichtigt.
»Ach du meine Güte, Sie Arme.« Grace blickte auf, ins Gesicht der jungen Mutter, die sich zu ihr niederbeugte. »Sie sind gestürzt.« Sie legte die Arme um Grace' Schultern. »Stefan, kannst du mir helfen?«
»Nein, wirklich, ich bin durchaus in der Lage .«, protestierte Grace. Die Situation war ihr hochpeinlich.
»Muss ein furchtbarer Schock sein«, sagte die Frau. Und schon spürte Grace zu ihrer Bestürzung die Hände des Barista unter ihren Achseln. Er hievte sie mit einem unnötig lauten Ächzen in die Höhe.
Grace brauchte kurz, um ihr Gleichgewicht wiederzufinden, dann dämmerte ihr langsam das volle, entsetzliche Ausmaß der Demütigung. »Danke«, sagte sie höflich zu Stefan, der den Anstand besaß, nur leicht zu nicken und sich zu seinem Coffee-Van zurückzuziehen.
»Bitteschön«, sagte die Frau. Sie lächelte Grace an. »Vielleicht sollten Sie sich lieber setzen.«
»Mir geht es ausgezeichnet«, beteuerte Grace.
»Natürlich«, sagte die Frau. »Zum Glück war ich ja da.«
»Nötig war's nicht«, sagte Grace, noch immer betreten, weil man Hand an sie gelegt hatte. »Ich bin gar nicht gestürzt.«
»Ach du liebes bisschen«, sagte die Frau. »Sie sind über Felix' Lok gestolpert, stimmt's? Ich habe ihm gesagt, dass er nicht so wild damit herumfahren darf, dass der Zug zu einer Gefahr für ältere Leute werden kann, aber Felix macht einfach, was er will. Wie Jungs eben sind, nicht wahr?«
»Ich glaube kaum, dass das etwas mit dem Geschlecht zu tun hat«, widersprach Grace. »Ein Mädchen könnte genauso gut .«
»Ich kaufe bei Stefan einen Muffin für Sie«, unterbrach...
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