Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Zuerst hörte sie ein Murmeln, dann einzelne Worte. Sie öffnete die Augen, sah Sterne, den Mond, der hinter einer Wolke verschwand. Es war friedlich still. Nur das Schlackern eines Segels. Dann Schritte. Ein Gesicht über ihr, unrasiert, schlechte Zähne, vom Hals hing ein Band mit dem Gekreuzigten auf sie herunter.
«Sie wacht auf.»
«Hol ihr was Warmes zu trinken.»
«Der Judensau?»
«Sei still, du Dummkopf, und tu, was ich dir sage.»
Er knurrte widerwillig.
«Zurück ins Wasser sollten wir sie werfen, die elende Brunnenvergifterin.»
Er spuckte ihr ins Gesicht und stapfte davon. Die Planken knarrten unter seinen Schritten. Von irgendwoher rief eine Eule.
Jaelle drehte den Kopf zur Seite. Ein Stich fuhr ihr ins Genick.
«Ruhig.»
Ein anderes Gesicht erschien über ihr. Ein Mann mit Vollbart, eine Kappe auf dem Kopf, rundes Gesicht, treue Augen. Er stützte sie mit der einen Hand, mit der anderen führte er den Becher an ihren Mund.
«Hier, trink.»
Der Trank war warm. Er durchströmte ihren unterkühlten Körper, hauchte ihr neues Leben ein, er stieg ihr aber auch umgehend zu Kopf, wie es erhitzter Wein tat.
«Langsam, verschluck dich nicht.»
Ihr Hals war ausgedörrt, sie hätte einen ganzen Krug trinken können.
«Das reicht.»
Vorsichtig legte er ihren Kopf wieder ab.
«Wie geht es dir?»
Jaelle wollte nicht länger liegen. Sie setzte sich auf, er stützte ihr den Rücken.
«Besser.»
Sie sah einen Kessel, in dem ein kleines Feuer loderte, den Mast des Schiffes, das schlackernde Segel und den Knecht, der das Ruder übernommen hatte. Er starrte sie hasserfüllt an.
«Wo bin ich?»
«Ich bin Master Leonhard, der Kapitän dieses Schiffs. Mach dir keine Sorgen. Hier bist du sicher.»
Sicher?
Um alles in der Welt, wo war Itzhak? Ihr Kopf flog herum. Ein stechender Schmerz fuhr ihr in den Hals.
«Beweg dich nicht. Du bist verletzt.»
«Wo ist Itzhak?»
«Wer ist das?»
«Mein Vater.»
Er seufzte.
«Alle sind tot.»
Ihr Aufschrei gellte in die Nacht. Etwas in den Bäumen entlang des Flusses flatterte auf, flog im weiten Bogen davon.
«Das Jüngste Gericht ist über sie hereingebrochen.» Er schlug das Kreuzzeichen. «Tausend, wenn nicht mehr, sind gestorben. Glaube mir, du bist die Einzige, die überlebt hat. Ein Wunder.»
Der Knecht war anderer Meinung. Er spuckte angewidert aus.
«Dreckiges Judenvieh. Ersäufen sollten wir sie. Das wäre gerecht.»
«Halt endlich deinen Rand!»
Der Schmerz schnitt ihr ins Herz. Sie bäumte sich auf, wollte schreien, doch mehr als ein Schluchzen vermochte ihre Kehle nicht hervorzubringen. Leonhard nahm sie in den Arm.
«Beruhige dich. Du hast überlebt, nur das zählt.»
Wieder entfuhr ihr ein Schrei, ein Protest gegen diese unsinnige Behauptung. Nichts zählte, wenn Itzhak tot war.
Er fuhr ihr sanft übers Haar, das viel von der ehemaligen Pracht eingebüßt hatte, seitdem der brennende Korb auf sie gestürzt war.
«Amos? Hat Amos .?»
Sie löste sich aus seinen Armen, starrte ihn ungeduldig an.
Ein Kopfschütteln.
«Niemand.»
«Woher wollt Ihr das wissen?!»
«Weil ich es gesehen habe. Sie haben sie am Ufer zusammengetrieben. Das Holzhaus stand bereit. Wer nicht darin verbrannte, wurde erschlagen. Die Leichen warfen sie in den Fluss. So büßte jeder für seine Schuld.»
«Welche Schuld?!»
Sie rückte von ihm weg.
«Verfluchte Brunnenvergifter seid ihr!», schrie der Knecht herüber. «Soll euch die Pest holen!»
«Wir sind keine Brunnenvergifter!»
«Jeder weiß, dass ihr das Gift in die Brunnen getan habt, um uns mit der Pest zu töten.»
«So ein Unsinn. Warum sollten wir das getan haben? Es sind auch unsere Brunnen.»
«Weil euch die Niedertracht angeboren ist, verdammtes Judenpack. Hat es nicht gereicht, den Heiland ans Kreuz zu schlagen, unsere heiligen Hostien zu schänden . unschuldige Kinder zu töten?»
Jaelle schüttelte den Kopf.
«Das hat niemand von uns je getan.»
«Lüg nicht. Der Jude aus Savoyen hat's gestanden.»
«Unter der Folter.»
«Ist sein Geständnis deswegen weniger wahr?»
Leonhard ging dazwischen. «Hört auf zu streiten.»
Der Knecht spuckte in den Fluss, Jaelle wandte sich ab. Es war zwecklos. Gegen diese Lügen halfen keine Argumente.
Sie kannte die Gerüchte. Aber warum sollten Juden so etwas tun? Das war doch verrückt. Sie lebten mit den Gojim, den Andersgläubigen, Haus an Haus, trieben Handel mit ihnen, atmeten dieselbe Luft und tranken dasselbe Wasser. Auch Juden starben an dieser furchtbaren Krankheit. Wieso sprach darüber niemand? Nur von den guten Christenmenschen war die Rede - von denen bisher aber kein einziger in Straßburg an der Pest gestorben war. Die Seuche war noch nicht einmal in die Nähe von Straßburg gekommen, und dennoch mussten die Juden dafür herhalten.
«Hier, deck dich damit zu», sagte Leonhard. Er reichte ihr eine Decke. «Bete zu deinem Gott, dass dieser Wahnsinn endlich ein Ende hat.»
Er ging ans Ruder und schickte seinen Knecht schlafen. Jaelle blieb an ihrem Platz, zwischen Weinfässern und Heu, unter freiem Himmel. Ihr Gesicht schmerzte, sie konnte die Schwellung an Augen und den Lippen spüren. Am Hals und am Rücken fühlte sie noch die Hände und die Füße, die sie geschlagen und getreten hatten. Doch dieser Schmerz war nichts im Vergleich zum Verlust von Itzhak, Amos und all den anderen. Sie deckte sich zu, weinte und schluchzte, still, damit sie niemand hören konnte. Dieser abscheuliche Knecht würde sie bei nächster Gelegenheit über Bord werfen, und diesem heuchlerischen Kapitän war auch nicht zu trauen.
So büßte jeder für seine Schuld. Welche Schuld?
Sie segelten durch die Nacht, der kalte Wind blies stetig und kroch durch die warme Decke und ihre Kleidung. Apropos Kleidung: Sie trug nicht länger die Kleidung einer Frau, sondern Hosen und ein Wams. Der Kapitän musste sie entkleidet haben, nachdem er sie aus dem Wasser gefischt hatte. Oder schlimmer: Dieser furchtbare Kerl hatte es getan. Es schauderte ihr bei dem Gedanken. Wenn nur Itzhak nichts davon erfuhr .
Das Herz schien ihr stillzustehen bei dem Gedanken an seinen Tod. Sie atmete schwer, versuchte den aufsteigenden Drang zu unterdrücken, sich auf dem Boden zu wälzen, sich die Kleider vom Leib zu reißen und lauthals loszuheulen.
Gott sei deiner Seele gnädig.
«Wohin fährst du?»
Jaelle schlug die Augen auf. Über die niedrige Reling des Kahns hinweg sah sie einen Oberländer mit der zum Heck hin ansteigenden Dreiecksform. Er wurde von Pferden flussaufwärts gezogen. Das Seil mochte hundert Meter lang sein. Ein kleines und ein großes Beiboot eskortierten das Schiff. An Deck stand ein Mann, und Knechte saßen an den Rudern.
«Wein nach Köln», rief Leonhard hinüber, «und du?»
«Tuch und Pelze für Basel.»
Die Unterhaltung währte nur kurz. Die Strömung trug Leonhards Schiff schnell weiter.
«Gehab dich wohl.»
Jaelle streifte die Decke ab, die sie leidlich warm gehalten hatte. Jeder Knochen tat ihr weh, besonders der rechte Arm und die rechte Wange, als hätte sie die Nacht nur auf dieser einen Seite verbracht. Doch die größte Überraschung erwartete sie, als sie sich über Bord lehnte und ihr Spiegelbild im grauen Wasser des Rheins sah. Wo waren ihre wunderschönen, schwarzen langen Haare geblieben? Das, was sie da anstarrte, war ein zerzaustes Büschel ihrer ehemals üppigen Mähne, das an einem Ohr bis auf die Kopfhaut gestutzt worden war. Und das, was sie unter ihrem rechten Auge erkannte, bestürzte sie nicht weniger. Eine dunkel unterlaufene Schwellung erstreckte sich bis hin zur Nase, an deren Löchern noch verkrustetes Blut klebte. Gottlob, die Zähne waren noch alle da. Die Lippe war dick angeschwollen.
«Du hattest Glück im Unglück.»
Jaelle blickte über die Schulter zurück. Leonhard reichte ihr einen Becher mit dampfendem Wein und einen Ranken Brot.
«Die Wunden werden heilen, und die Haare wachsen nach.»
Sie schlug das Frühstück aus, nicht weil sie keinen Hunger und Durst hatte, nein, sie wollte bei klarem Verstand bleiben. Außerdem war der Wein sicher nicht aus koscher geernteten Trauben gemacht. Hätte Itzhak sie letzte Nacht gesehen, als sie diesen Wein getrunken hat, er hätte sie . Aber, was sollte das noch? Itzhak war tot.
«Habt Dank, aber ich will nichts.»
«Du musst wieder zu Kräften kommen.»
Sie verlor die Geduld.
«Habt Ihr nicht gehört?!»
Leonhard schreckte zurück. Er steckte das Brot in die Tasche seines Wamses, ging an ihr vorbei zum Bug des Schiffs und schaute auf den Rhein, auf die Strömung, die sie konstant voranbrachte. Speyer war in Sichtweite. Die Spitzen des Doms begrüßten sie.
«Es tut mir leid», sagte Jaelle. «Ich wollte Euch nicht .»
«Schon gut. Du hast viel mitgemacht. Ich verstehe das.»
Tat er das wirklich?
«Ihr wart sehr anständig zu mir. Ich habe Euch noch gar nicht gedankt.»
«Nicht nötig.»
Sie stellte sich an seine Seite.
«Wieso tut Ihr das für mich?»
Leonhard schlürfte den warmen Wein und schaute weit voraus, als fände er die Antwort auf den Feldern und den sanft ansteigenden Hängen entlang des Rheins.
«Ich war in Basel und in Freiburg. Ich habe gesehen, was deinesgleichen dort widerfahren ist. Mit einigen habe ich Handel getrieben, bei anderen stand ich in der Schuld. So ein Schiff ist teuer, und nicht immer bekomme...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.