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Es war irgendwann nach Mitternacht, als sie zu ihm kam.
Es war immer irgendwann nach Mitternacht.
Kein Quietschen der Türangeln, kein Knarren des Bodens. Nur das Ächzen der Bettfedern. Ein Hauch des Parfüms, das er ihr zum letzten Hochzeitstag geschenkt hatte.
Vielleicht Einbildung. Vielleicht nur Erinnerung.
Ihr Arm glitt um seine Brust. Ein fleischgewordenes Andenken an bessere Tage.
Manchmal glaubte er, ihren Atem in seinem Nacken zu spüren, aber im Laufe der Zeit hatte er sich eingestehen müssen, dass das nur Wunschdenken war.
Sie sprachen nicht. Stille verband ihre gemeinsamen Stunden in der Dunkelheit. Er litt seit damals unter Schlafstörungen. Außer dann, wenn sie bei ihm war.
Wie immer hoffte er, dass sie morgens noch da war.
Wie immer war sie weg, wenn der Wecker klingelte.
Harald lebte seit fast zwei Jahren damit, dass seine verstorbene Frau nachts zu ihm ins Bett kroch. Er erzählte niemandem davon. Es klang verrückt.
Leichdorf war einer der nichtssagenden Orte in der nordwestlichen Steiermark, eingekesselt von den südlichen Ausläufern des Toten Gebirges, zwischen irgendwo und nirgendwo. Es lag in der Nähe von Ebenkreuz, einem kleinen, idyllischen Kurort, was zwei Folgen mit sich brachte: Erstens: Ebenkreuz schnappte Leichdorf den Großteil der Sommer- und Winterurlauber weg und damit eine lukrative, wenn auch gesellschaftsbelastende Einnahmequelle.
Zweitens: In Leichdorf hatte man das ganze Jahr seine Ruhe. Keine Staus, keine Parkplatzprobleme, keine Schlangen an den Supermarktkassen. Es gab ein Bergwerk, das immer noch in Betrieb war und einen ansehnlichen Teil der Einwohner mit Arbeit versorgte. Der Rest pendelte in die nächstgelegenen >Metropolen< - austauschbare Großdörfer an Durchgangsstraßen, mit mehr Tankstellen als Restaurants und in der Regel einem großen, unpersönlichen Einkaufszentrum, das irgendwo in der Peripherie saß wie ein klobiges Möbelstück, das dort abgestellt und vergessen worden war.
Tschicko - der eigentlich Rudolf hieß und weder seinen Realnoch seinen Spitznamen leiden konnte - war in den Wäldern neben der Passstraße unterwegs, die Leichdorf von seinen östlichen Nachbarn trennte, obwohl sie zum Verbinden da war.
Rudi hatte seinen Spitznamen selbst zu verantworten, was vielleicht das Dämlichste an der ganzen Sache war. Bis vor ein paar Jahren hatte er einen Hund besessen - einen treuherzigen Schäferhund, dem bis zu dem Tag, an dem ein umstürzender Baum ihm das Rückgrat zerschmetterte, ein aufgeweckter, welpenartiger Ausdruck anhaftete. Rudi hatte ihn Chico genannt, weil Chico immer wie ein kleiner aufgeweckter Junge ausgesehen hatte. Außerdem hatte Rudi den Klang des Namens gemocht. Er selbst sprach kein Spanisch, aber wer behauptete, dass Fernsehen einen nicht bilden konnte, schaute vielleicht nur die falschen Sender.
Rudi hatte den Fehler begangen, Chico eines Abends zum Kartenspielen in sein Stammlokal mitzunehmen. Man gab seinem Hund in Orten wie Leichdorf keine exotischen Namen, die niemand verstand, und man nahm sie nicht zu Karten, Bier und Schnaps mit. Und wenn man das doch tat, musste man ausbaden, was man sich einbrockte.
Rudi badete immer noch.
Chicos Name wurde irgendwann zum Dauerbrenner des Abends, und nachdem Tschick in Österreich ein wesentlich geläufigerer Begriff als Chico war, übertrug sich der Name des Hundes an diesem Abend auf sein Herrchen, wurde zerschreddert und neu hergeleitet, und obwohl Rudi strikter - wenn auch nicht militanter - Nichtraucher war, nannte man ihn ab da nur noch Tschicko - Zigarettenstummel.
Kleine Dinge in kleinem Umfeld gewannen manchmal an Größe, und es dauerte nicht allzu lange, bis der Ort Rudis neuen Namen übernommen hatte. Rudi fand sich äußerlich damit ab, aber immer, wenn jemand ihn Tschicko rief, musste er an den Schäferhund denken, und auch wenn der Stich, den er dabei in der Brust fühlte, mit den Jahren schwächer zu werden schien, war er immer noch da.
Tschicko war nun in dem Wald unterwegs, der dem anderen Chico das Leben gekostet hatte. Er hatte ihn hier draußen begraben, obwohl er wusste, dass das verboten war. Er hatte tief gegraben, und schwere Steine obendrauf gelegt, damit kein anderes Tier ihn wieder ausbuddelte. In den Baum, unter dem er seinen treuen Gefährten zur letzten Ruhe gebettet hatte, war ein kleines, unscheinbares Kreuz geritzt. Das war das Einzige, was auf das Grab hinwies, und man musste wissen, wonach man suchte, um es zu entdecken. Jedes Mal, wenn Tschicko hier im Wald unterwegs war, besuchte er das Grab seines alten Namenskollegen, nahm sich ein paar Minuten Zeit, um an ihn zu denken, und besserte gegebenenfalls das eingeritzte Kreuz nach, wenn es schon zu verwittert war.
Tschicko hatte nie geheiratet. Er hätte gerne Kinder gehabt, aber irgendwie war jede Beziehung, die er im Laufe seines Lebens gehabt hatte, in Bedeutungslosigkeit versunken. Es hatte selten Streit gegeben, und vielleicht war das einer der Gründe, warum keine davon gehalten hatte. Kein Streit, keine Leidenschaft, keine Bedeutung.
Seine Eltern waren tot, lagen auf dem Friedhof, beim Rest seiner Verwandtschaft, abgesehen vom Bruder seines Vaters, einem störrischen, alten Mann, dem die Demenz zwar die Erinnerung, aber nicht die bösartigen Charakterzüge genommen hatte. Er saß im billigsten Altersheim der Gegend und wartete auf sein Ende.
Tschicko war kräftig für sein Alter, aber er wusste, dass die Anzahl der ihm verbleibenden Jahre bald in den einstelligen Bereich rutschen würde. Immer vorausgesetzt, dass medizinischer Starrsinn und fehlgeleitete Moral ihm kein jahrelanges Dahinsiechen bescherten - in einer Welt aus Tabletten, Schläuchen und Infusionen, umgeben von Wahnvorstellungen und dem schrecklichen Absitzen restlicher Lebenszeit, die auf Teufel komm raus verlängert wurde, damit niemand sich dem Unausweichlichen stellen musste. Der Endstation, von der kein Gleis mehr weiterführte.
In Tschickos Fall gab es niemanden, dessen psychisches Gleichgewicht behütet werden müsste. Wenn es so weit war, musste er sich der Sache alleine stellen, so wie es seiner Meinung nach sein sollte. Er hatte noch immer sein altes Jagdgewehr zu Hause, weggesperrt im versteckten Waffenschrank hinter der Garderobe. Er zerlegte und reinigte die Waffe regelmäßig, aber eigentlich hatte er keine Freude mehr daran. Seit Chico ihn nicht mehr begleitete, war ihm die Lust an der Jagd vergangen. Er selbst streifte immer noch gerne durch die Wälder, genoss die Stille oder den Lärm - je nachdem, was ihn gerade umgab -, aber wenn er Wild entdeckte, blieb er meistens einfach stehen und beobachtete es. Sein Leben war friedlicher geworden, jedoch auch einsamer.
Und wenn es schließlich so weit war, die letzte Station anzufahren, würde er hier rauskommen und die Sache mit einer Patrone selbst erledigen. Für Tschicko war das nie ein trauriger Gedanke. In seinem Kopf hatten weder der Knall des Schusses noch die Sauerei, die er auf der umliegenden Botanik hinterlassen würde, einen Platz. Er würde sich einen Beutel über den Kopf stülpen, dann war der Anblick vielleicht nicht ganz so schockierend.
Das ist ein verfluchter Ort, dachte er, während sein Blick über die hohen Bäume glitt, die ihn umgaben. Er hatte Chicos Grab erreicht und wunderte sich darüber, wie gern er sich in diesem Wald aufhielt, bei allem, was hier passiert war.
Plötzlich hörte er wieder das Winseln des Hundes, eingeklemmt unter dem schweren Stamm. In seiner Erinnerung sah er den flehenden, erschrockenen Blick. Tschickos Augen hatten von Tränen gebrannt, während er seinem besten Freund in den Kopf schoss, aber er hatte nicht gezögert. Er hatte seine Jacke über Chicos Kadaver ausgebreitet, war nach Hause gegangen, hatte das Gewehr gegen Kettensäge und Schaufel eingetauscht und war wieder zurückgekehrt. Er hatte den Stamm zersägt und seinen Hund begraben, und alles davon hatte sich richtig und nichts davon gut angefühlt.
Er zwang seine Gedanken fort, als die Erinnerung an Chico drohte, ihm neue Tränen in die Augen zu treiben. Nicht weit von hier hatte er die Frau von Harald Lackner gefunden. Sie baumelte von einem Ast, die Füße nur knapp über dem Boden. Tschicko erinnerte sich, wie sie hin und her zu pendeln schien, als wäre er nur ein paar Minuten zu spät gekommen. Aber der Arzt hatte ihm später versichert, dass sie schon lange tot gewesen war. Er hatte sie früh am Morgen gefunden, kalt und steif, bedeckt mit Morgentau und unwirklich im fahlen Gegenlicht. Er erinnerte sich an den Bodennebel, der dem Ganzen eine noch gespenstischere Note gegeben hatte. Tschicko war kein abergläubischer Mensch, aber als er Lackners Frau dort hängen gesehen hatte, war es schwer gewesen, sich nicht zu bekreuzigen.
Sie musste nachts hier rausgekommen sein, daran hatte er danach oft gedacht....
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