Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Ein Sonnenstrahl hatte den Weg ins Mädchenzimmer gefunden und die Wand erreicht, an der Madonna mit ihren himmelblauen Augen und blutroten Lippen hing und in den Raum hineinstierte. Das Gesicht der Frau war blass. Auf dem Kopf trug sie eine zerbrochene Schallplatte mit der Aufschrift 'Like a prayer'.
Anita hatte es zumindest noch geschafft, das 'Vater unser' zu beten, als sie spätabends zu Bett gegangen war, hatte dann aber vergessen, die Gardinen zuzuziehen. Nun wurde sie vom starken Licht und dem Gefühl von kleinen Schmetterlingen im Bauch geweckt. Sie gähnte und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Das Erste, was sie an diesem Morgen sah, war das Poster der weltbekannten amerikanischen Sängerin, das sie in Dänemark gekauft hatte, als sie dort mit ihrer Familie zwei Wochen Urlaub gemacht hatte. Nun hing es in den goldenen Lichtstrahlen drüben an der Wand. Ihr rätselhaftes Vorbild. Sie konnte schon viele Lieder dieser Platte auswendig. Irgendetwas hatte diese Frau ihr zu sagen.
Wie spät mochte es sein? Sie hörte ihre Mutter unten herumhantieren. Und dann die Stimme ihres Vaters. Er war noch nicht zur Arbeit gefahren. Plötzlich war Anita hellwach. Sie sprang aus dem Bett. Der erste Schultag nach den Sommerferien stand bevor. Es würde nett sein, alle aus ihrer Klasse wiederzusehen. Und sicher auch spannend werden, mit neuem Stundenplan wieder in die Gänge zu kommen. So wie jedes Jahr. Selbst Ronja sollte gestern Abend mit dem Passagierschiff nach Hause gekommen sein. Sie hatten sich fast sieben Wochen lang nicht gesehen.
Die Schule stand wie eine missratene Baracke im Zentrum der Stadt, inmitten von Wohnhäusern und Gärten. Im ältesten Gebäude, in dem die Kinder der sechsten Klasse das neue Schuljahr verbringen würden, blätterte die Farbe von den Wänden ab, und durch die Fensterritzen zog es fürchterlich. Aber das war nicht einmal das Schlimmste. Denn die Tapete löste sich von dem alten Beton, der mit gefährlichem Staubpulver und Schimmelpilzen infiziert war. Direkt beim Haupteingang lag der Aufenthaltsraum. Durch die großen, geplatzten Fensterscheiben hindurch konnte man Schüler und Lehrer zu Fuß oder auf Fahrrädern zur Schule kommen sehen. Ein paar Mopeds knatterten durch die umliegenden Straßen. Autos, Vögel und weitere Geräusche eines ganz normalen Alltags drangen durch die Fenster.
Früh an diesem Morgen ertönte der Gesang eines Stars im großen Laubbaum. Ein Ausdruck purer Lebensfreude oder eher ein Klagelied, weil es nun mit der Ruhe vorbei sein würde? Der glänzende Vogel trällerte unbeirrt seine Melodie, begleitet vom Pfeifen des Hausmeisters, der mit schwerem Schlüsselbund in der Hand unterwegs war, um sämtliche Türen des heruntergekommenen Gebäudes aufzuschließen.
Ursprünglich hatte man davon gesprochen, eine neue Schule zu bauen. Aber dann wurden die Lehrer aufgefordert, sich noch einige Jahre zu gedulden. Sie sollten versuchen, den Kindern etwas über Prioritäten beizubringen. Die Strand- und Uferpartien zu pflastern oder teilweise zu asphaltieren, das käme an erster Stelle. Den natürlichen Hafen, der von hohen Bergen eingerahmt war, wollten sie mit einer mehrere Hundert Meter langen Kaimauer versehen. Das ganze Hafenareal sollte Grundlage für Industrie- und Gewerbeflächen werden, dazu mussten die Straßen verbreitert werden. Nach den Plänen, die man den Einwohnern vorlegte, wollte man ein Großteil des Zentrums überdachen. Die Bürger fragten scherzhaft, ob sie dann etwa in Hausschuhen losziehen könnten. Viele schüttelten den Kopf und konnten sich kaum vorstellen, dass ein so ambitionierter und teurer Plan realisiert werden könne. Niemand war sich dessen sicher, andererseits schien in den 80er Jahren nahezu alles möglich. Auf der kleinen Inselgruppe draußen im kalten Atlantik, auf der gerade einmal 48 000 Menschen lebten, herrschten der Glaube an den Fortschritt und wahrer Tatendrang. Die Leute schwebten über den Wolken und bewegten sich auf hohen Wellen der Euphorie. Die Verlockung, mit der Strömung zu schwimmen, war groß. Das Ausland zeigte sich entsetzt und fragte sich, ob die Färinger ihre Bodenhaftung verloren hätten. Denn die guten Jahre könnten doch auch schnell wieder vorbei sein.
"Pass' auf die Autos auf", hatte die Mutter zu Anita gesagt, bevor diese zur Schule radelte. Das sagte sie immer, wenn die Tochter das Fahrrad nahm oder sich zu Fuß auf den Weg machte. Die Mutter mochte es nicht, dass in der Stadt so viel Verkehr war. Wenn doch nur alle Lastwagenfahrer so führen wie ihr Mann. Die meisten dieser jungen Männer sausten mit viel zu hoher Geschwindigkeit durch die Wohngebiete. Sie fuhren für einen Akkordlohn, also galt es, das Gaspedal durchzutreten.
Aber Anita hatte an diesem Morgen viel Zeit und versprach, gut Acht zu geben. Lächelnd winkte sie ihrer Mutter zu, die am Fenster stand und der Tochter mit ihren Blicken folgte. Den beinahe leeren Ranzen trug Anita auf dem Rücken. Ihre nagelneuen Schnürsenkel-Schuhe presste sie in die Pedale, und die Räder drehten sich wie ein Jahr in der Umlaufbahn des Wissens. Die Sonne schien aus dem wolkenlosen Himmel auf Anitas langes, helles Haar. Mamas kleines Mädchen, das so groß und hübsch geworden war. Sie ging nun in die sechste Klasse. An diesem ersten Mittwochmorgen nach den Sommerferien brauchten die Kinder aus ihrer Klasse nicht vor der zweiten Stunde zu erscheinen.
Da es keinen Radweg gab, hielt sich Anita auf der rechten Seite der Straße. Je näher sie der Schule kam, desto dichter wurde der Verkehr, und so lenkte sie schließlich das Rad auf den Fußgängerweg. Dort fühlte sie sich sicherer, obwohl sie wusste, dass es eigentlich verboten war. Aber was sollte sie sonst tun? Die großen Lastwagen wirbelten Dreck und Rauch auf, und sie drängelten ganz fürchterlich. Es war schon merkwürdig, dass an einem solchen Tag so viele Leute im Auto saßen.
In einem weißen Mazda 626 fuhr Bjarnhardur Person durch die Stadt. Der Staub auf den ausgedörrten Straßen hatte sich wie ein schmutziger Teppich auf das heiße Blech gelegt. Genauso unrein dürfte wohl das Gewissen des Mannes am Steuer gewesen sein. Er wusste, wann die Kinder zur Schule gingen, und daher auch, ab wann eine bestimmte Mutter allein zu Hause war.
Das herrliche Sommerwetter schenkte Männern und Frauen gleichermaßen die Lust, zu leben. Früher waren sie im Verborgenen zusammen gewesen. Ihre Art zu lieben und dabei alle sexuellen Grenzen bis zum äußersten auszureizen, würde diesen unbeschreiblichen Morgen nicht minder aufregend werden lassen. Bevor diese Frau geheiratet hatte, hatte Bjarnhardur sie fest im Griff gehabt. Dass sie sich in ihren jungen und von Dummheit geprägten Jahren dann von diesem schleimigen Prediger hatte verführen lassen, war jetzt ihr Problem. Gott wusste, ob der Pastor etwas ahnte.
Bjarnhardur fuhr nordwärts und wendete das Auto an der alten Tunnelmündung. Er hielt an und überlegte, wie stark der entgegengesetzte Verkehr sein mochte. Dann drehte er seinen behaarten, starken Arm und schaute auf die Uhr. Es war bald neun. Nun stand es ihm frei zurückzufahren.
Die Sonne spendete bereits Wärme, als Anita unterhalb der Kirche auf zwei Kindergärtnerinnen traf, die eine Gruppe aufgeregter Kinder anführten. Sollte sie wieder auf die Hauptstraße zurückkehren? Anita schaute sich um und betätigte, hauptsächlich zum Spaß, die Fahrradklingel. Die Kinder waren bei guter Laune und grüßten. Sie wichen zur Seite, sodass sie vorbeifahren konnte. Vielleicht würde sie später auch einmal Kindergärtnerin werden. Sie selbst hatte keine jüngeren Geschwister, obwohl sie sich das so sehr gewünscht hatte. Dafür gab es aber einen großen Bruder, der Dennis hieß. Er war gerade 18 geworden und bereits seit einiger Zeit mit dem Fischkutter unterwegs.
An der großen Kreuzung, wo die Stadtverwaltung nach zahlreichen Diskussionen über Verkehrssicherheit Ampeln und Zebrastreifen eingerichtet hatte, stand Tarina und wartete darauf, die Straße überqueren zu können. Anita stieg vom Fahrrad ab, damit die beiden den Rest des Weges zusammen gehen konnten. Tarina strahlte über das ganze Gesicht und schwärmte davon, wie toll es im Sommerlager gewesen war. Dort hätte es Mädchen aus dem ganzen Land gegeben. Eine ganze Woche lang hätten sie dort gespielt und viel gelacht. Sogar verschiedene Wettbewerbe hätten sie ausgetragen, wären in kleinen Gummibooten herumgepaddelt und hätten Forellen geangelt. Und dann erst die Ausritte in die freie Natur. An anderen Tagen hatten sie gemalt, gesungen und über Jesus gesprochen. Es hätten auch einige Mädchen aus Norðvík am Lager teilgenommen. Ruth und Martha aus ihrer Klasse seien selbstverständlich dabei gewesen. Und sogar Maria. Das sei das Allerbeste gewesen. Sie hätte nicht erwartet, dass Maria mit gedurft hätte. Aber das habe wirklich Spaß gemacht, sie hätten sogar alle auf dem gleichen Zimmer gewohnt. Anita solle beim nächsten Mal doch auch mitkommen! Aber die fühlte sich ein bisschen außen vor. Ihre Mutter wollte nicht, dass sie mit in dieses Sommerlager fuhr. Die Kinder dort gehörten nicht zu ihrer Gemeinde. Mehr gäbe es dazu nicht zu sagen.
"Ich bin in Dänemark gewesen, und dort gab es fürchterlich viele Bienen." Anita zuckte ein bisschen, als sie das sagte, und auf ihrer Wange bildeten sich Lachgrübchen.
"Bist du etwa erlöst worden?" Die Frage kam wie aus heiterem Himmel.
Anita blickte leicht erzürnt zu Tarina auf. "Ja, das bin ich", sagte sie und wechselte schnell das Thema. "Ronja kommt heute in die Schule. Ich freue mich so sehr, sie zu sehen. Sie ist in den Ferien durch Italien und Schweden gereist und dürfte ziemlich braun...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.