Schweitzer Fachinformationen
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»Ich werde schon reden mit Jon«, sagte ich, eher zu mir selbst als zu irgendwem der Anwesenden. Immerhin war Jon kein rotznasiger Teenager mehr, auch wenn er sich gerade so benahm, sondern einer der größten Musikstars des Planeten. Ich stieß die Holztür auf, im Gang zog es kräftig, es war noch kälter, als ich erwartet hatte. Die Stimmung war aufgeheizt, wir alle waren ein bisschen daneben. Vielleicht war es der Alkoholentzug, vielleicht waren es die Soldaten, die mit ernsten Mienen und schweren Gewehren jeden unserer Schritte überwachten. Vielleicht lag es auch an Doc, der sich irgendeinen Scherz erlaubte, den nur er selbst verstand. Jon Bon Jovi mochte ein Weltstar sein, doch die Welt endete vor dem Eisernen Vorhang. Was dahinter lag, gehorchte eigenen Regeln. Und in dieser Welt kannte niemand den hübschen Sänger mit dem wallenden Brusthaar. Die hätten ihn hier zum Frühstück verspeist. Und jetzt wollte ihn unser Manager Doc McGhee zum Headliner machen? Lächerlich.
Überhaupt verdankten wir nur Doc die ganze Sache hier. Ein Musikfestival in der UdSSR. Nicht in irgendeinem Sattelitenstaat an der Peripherie, wo die Menschen nur darauf warteten, endlich eine Brise westliche Freiheit zu erfühlen. Sondern im Herzen des Feindes, im gottverdammten Moskau. Einen neuen Markt erschließen, ungeahntes Potenzial, der übliche Marketing-Scheiß. Wie hatten wir darauf reinfallen können? Es war Kalter Krieg, Menschen starben vor der Berliner Mauer, die Sowjets und die Amis hielten ihre schwitzenden Finger über den roten Knöpfen der Atomsprengkörper, und wir standen hier auf der falschen Seite. Und dann sollte auch noch Jon Bon Jovi Headliner sein. Bei all den Provokationen, die fast den dritten Weltkrieg ausgelöst hätten, würde das vielleicht den Ausschlag geben.
Wie kam Doc überhaupt auf die verrückte Idee, in Moskau ein Musikfestival zu organisieren? Die First Lady Nancy Reagan hatte es sich zu ihrer heiligen Mission gemacht, alle bewusstseinsverändernden Substanzen aus den US zu entfernen. Und davon gab es eine ganze Menge. Wie sollten wir die Jahre des Kalten Kriegs, die ständige Bedrohung der Auslöschung, auch bei klarem Verstand überstehen? Jedenfalls hielt sie es für eine kluge Idee, Doc für ihre Sache zu gewinnen. Doc und seine Hardcore-Schützlinge waren die perfekten Gesichter für eine Anti-Alkohol- und Anti-Drogen-Kampagne. Ganz schön schlau, Nancy.
So hat sich Doc also nach Moskau organisiert, so wie er immer alles raus- und rein- und überorganisierte, immerhin war er der verdammt beste Manager im Business. Blöd nur, dass er dafür uns brauchte. Und die verrückte Idee des Moscow Music Peace Festival. Scheiße, Doc, dachte ich in der russischen Kälte, während ich durch die dunklen Gänge des Backstagebereichs lief und Jon suchte, hättest du uns da mal besser rausgelassen. Selbst ein amerikanisches Gefängnis kann nicht so trostlos sein wie dieser Ort.
Das Stadion, in dem wir spielen sollten, war gigantisch. Als hätten Hooligans ein Kolosseum errichtet. Rund, massiv, gewaltbereit, ausgefüllt von einer unüberblickbaren grünen Rasenfläche, darüber neigten sich die breiten Schultern des Stadions über die Ränge. Dafür gemacht, abertausende fanatische Menschen zu fassen, die sich dem Spektakel des kommunistischen Rausches überlassen wollten. Das Individuum verschwand in der großen Ekstase. Die Gänge darunter bestanden aus weiß gekachelten Wänden, ich rannte durch eine Mischung aus Schwimmbad und Labyrinth.
Der Gang, in dem ich mich befand, beschrieb eine lange Kurve, er verlief wohl unterhalb der Stadionmauer entlang. Eine Tür flog auf, heraus kam Tommy Lee, Drummer von Mötley Crüe, mit nacktem Oberkörper und einem Gesicht wie kurz vor dem Sprung.
»Hast du Doc gesehen?«, fragte ich ihn.
»Doc kann mich mal!«, rief er.
»Oh mein Gott, Tommy, hol dir einen Drink.«
»Nein, ich mein es ernst, Herman! Wenn Jon vor uns spielt, hau ich Doc aufs Maul.«
Ich klopfte ihm bloß auf die Schulter und eilte weiter. Offenbar war ich nicht der Einzige, der Jon suchte. Es wäre besser für ihn, wenn ich ihn zuerst finden würde. Von oben kamen die verwaschenen Gitarrenriffs von Cinderella, seit gut zwanzig Minuten hatten sie sich schon der Übermacht des russischen Volkes übergeben. »Push, push«, hörte ich durch den Beton, zäh und schwer, ein guter Song.
Dann sah ich ihn. Doc saß auf einer Treppe, die zum Rasen des Stadions führte. Um ihn lungerten fette Musikbusiness-Typen in lächerlich lockeren Krawatten und mit langen Haaren, als wollten sie betonen, dass sie trotz der Millionen Dollars zu den Kids gehörten, die Rock wirklich zum Überleben brauchten, eben weil sie keine Millionen hatten. Docs liebes Teiggesicht war noch verschwitzter als sonst. Ich schubste ein paar Anzüge aus dem Weg und baute mich vor ihm auf wie eine Wand.
»Doc, das ist dummes Zeug!«, sagte ich. »Wir haben hier Fans, niemand kennt Bon Jovi oder Mötley Crüe, am ehesten noch Ozzy. Bring sie zur Vernunft!« Doc schaute mich an wie ein verletztes Tier.
»Jon ist gerade am Weg zum Flughafen«, sagte er resigniert. »Also bitte spielt, wann ihr wollt. Aber spielt, sonst fliegt mir das hier um die Ohren. Und euch allen auch!« Fuck. Wenn das hier den Bach runterging, dann war das nicht bloß ein weiterer Rückschlag in der Annäherung von West und Ost. Dann wäre das womöglich auch unser Ticket in den nächsten Gulag.
KUBA-KRISE
Kurz vor Ultimo
Der Spiegel, Ausgabe 44, 30. oktober 1962
Die Angst in Deutschland wuchs in Bonn am schnellsten.
Wenige Stunden nach Ankündigung der US-Blockade gegen Kuba waren am Dienstag vergangener Woche fast sämtliche Lebensmittelgeschäfte im Bonner Prominenten-Viertel auf dem Venusberg ausverkauft.
Später wurde auch im übrigen Deutschland wieder gehamstert, besonders Zucker, Mehl und Öl. Gekauft wurde vor allem in Selbstbedienungsläden und Supermarkets von anonymen Kunden. Die Menschen fürchteten einen neuen Russensturm und scheuten sich doch, bei ihrem Krämer als Hamster erkannt zu werden.
Die Lebensmittelvorratskäufe erreichten nicht das Ausmaß von Suezkrise und Koreakrieg. Es fehlte der armen Bevölkerung an Geld. Denn der Krieg drohte kurz vor Ultimo.
[.]
48 Stunden lang waren Herzen und Hirne der Deutschen von Furcht erfüllt. »Gibt es Krieg?«, fragte die Münchner Abendzeitung. »Krieg ist seit Montag möglich«, antwortete Hamburgs Zeit. Aus der Menschen-Traube, die den ersten Krisen-Aushang der Süddeutschen Zeitung in Münchens Sendlinger Straße studierte, klangen bayrische Seufzer auf: »Jetzt wird's brenzlig.« - »Da Ruß schlagt in Berlin zruck.« - »Jetzt kenne moa hoamgeh und schnell a Atomloch schaufle.«
Kanzler Konrad Adenauer, der Anfang der Woche wie alle anderen Nato-Regierungschefs Kopien der kompromittierenden US-Fotos von den sowjetischen Raketenbasen auf Kuba erhalten hatte, war von der Schärfe der Aufnahmen und ihrer Bedeutung für seine Hausmacht angetan: »Dat is janz jeheim, meine Herren, dat hat nicht mal der Herr Schröder jesehen.«
Schon auf der Reise nach Moskau, im Flugzeug, schwirrte irgendwas durch die Luft. Ich hätte auf mein Bauchgefühl hören sollen. Die ganze Zeit war es gewesen wie im Studio, wenn der Mix lief, die Gitarren, das Schlagzeug, den Gesang, dreißig, vierzig, fünfzig Mal, und eigentlich passte alles zueinander, bis auf eine kleine Unebenheit. Irgendwas war verrutscht. Etwas kratzte. Das konnte Energie sein, die raus wollte, die den Song zum Hit machte. Oder ihn verschlang, überdeckte, vernichtete. Noch konnte ich nicht sagen, was es war.
Zwanzig Stunden lang hatte mich dieses Gefühl begleitet, von den USA über London bis nach Moskau. Magic Bus, so nannten wir den Flieger. Zwanzig Stunden lang hingen einige der erfolgreichsten Rockmusiker der Gegenwart in einem Flugzeug tausende Meter über dem Boden, von wo aus wir keine Grenzen mehr sehen konnten, keine Länder, bloß Farbflecken, die ineinander übergingen, als wäre alles eins. Doch ich wusste, das war eine Illusion. Vor einem Jahr waren wir zum ersten Mal in Russland gewesen. Ich erinnerte mich an die Uniformgesichter, ständige Begleiter unserer damaligen Tour in Leningrad. Die abgesperrten Wege, die uns zeigten, wo wir gehen durften und wo nicht. Was wir sehen durften und was nicht. Mit wem wir reden durften und mit wem nicht. Grenzen innerhalb von Grenzen, der Mensch, eine Figur in einem Spiel, dessen Regeln er nicht verstand. Ständig Lakaien um uns herum, so freundlich, sie hätten sich für einen Kopfschuss bedankt, doch davor hätten sie mir mit beflissenem Lächeln die Eingeweide rausgenommen, falls ich aus Versehen gegen die falsche Statue gepisst hätte.
Zu trinken gab es nichts im Magic Bus, nichts, um die Gesichter aus meiner Erinnerung zu verbannen. Wir flogen im Auftrag der Nüchternheit, Nancy fucking Reagan sei Dank. Doc hatte für den Flug zumindest einen »Arzt« organisiert, Gott weiß, auf welcher Universität der seinen Abschluss gemacht hatte. Der konnte uns zumindest etwas gegen die unerträgliche Klarheit des Verstandes verschreiben. Als die Räder allerdings aufsetzten, die Tür aufging, der Beton-Kerosin-Geruch des Rollfelds reinschwappte, war die Spannung trotzdem spürbar. Das hier war Feindesland.
Ich trat auf die Treppe neben Klaus und Rudolf. Wir alle waren etwas orientierungslos, allein am...
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