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EINLEITUNG AUFSTEHEN
Als mein Agent mich anrief, fuhr unser Mannschaftsbus gerade durch die Vororte Chicagos. Es war September 2016, und meine Mannschaft, Seattle Reign, hatte gerade gegen die Chicago Red Stars gespielt, eines der letzten Spiele der Saison. Doch das war nicht der Grund für den Anruf. Dan Levy war bereits seit zehn Jahren an meiner Seite, und gemeinsam hatten wir einiges überstanden. Fünf Jahre zuvor hatte er erheblichen Anteil gehabt an der Diskussion um mein Coming-out. Damals und noch lange Zeit danach galt ich als die einzige homosexuelle Spielerin in der Frauenfußball-Nationalmannschaft der USA, was ziemlich absurd ist, wenn man weiß, wie viele im Team lesbisch sind. Dan stärkte mir in dieser Zeit der Tiefschläge und Enttäuschungen den Rücken und verlor dabei nie die Nerven. Jetzt klang er allerdings beunruhigt. »Das geht gerade durch die Decke«, sagte er.
Das Spiel an sich war nichts Besonderes gewesen. Genau wie New York und Los Angeles ist auch Chicago keine Fußballmetropole, warum, weiß wohl keiner so genau. Zu einem Länderspiel kommen vielleicht ein paar Leute, aber zu einem Punktspiel an irgendeinem Sonntag im September? Keine Chance. Wir traten also vor einer winzigen Kulisse an, gerade mal dreitausend Leute, und das Ergebnis, 2:2, war auch nicht gerade eine Glanzleistung. Auf der anschließenden Pressekonferenz ging es dann allerdings nicht um das Spiel selbst: »Hatte ich geplant, bei der Nationalhymne einen Kniefall zu machen, und wenn ja, warum?«
Natürlich traf mich diese Frage nicht unvorbereitet. Die Entscheidung für den Kniefall hatte ich nicht leichtfertig getroffen, aber der Gedanke, wie mein Auftritt in der Öffentlichkeit ankommen würde, war nicht in meine Überlegungen eingeflossen. Ich neige zu impulsiven Handlungen, es kann sein, dass ich mir am Abend vor einem wichtigen Turnier die Haare pink färbe, aber hier ging es um etwas anderes. Es war mir nicht in den Sinn gekommen, sämtliche Konsequenzen im Vorfeld abzuwägen, denn der Kniefall war mir als Pflicht und Selbstverständlichkeit erschienen. Meine Risikoabwägung basierte nicht darauf, wie die Öffentlichkeit reagieren würde, sondern auf dem Schaden, den ein Nichtstun anrichten könnte, und den wollte ich nicht ignorieren, denn er war zu groß, und er betraf unsere gesamte Gesellschaft. Mit viel Gegenwind hatte ich allerdings auch nicht gerechnet. Im Vergleich zu Football oder Baseball herrscht in diesem Land kein breites Interesse am Fußball, und mit Punktspielen lockt man niemanden hinterm Ofen hervor. Die neun Mannschaften der Frauennationalliga sind extrem ehrgeizig, aber die Sportseiten sind jetzt nicht gerade voll von ihren Spielen. Im Herbst 2016 stand nicht einmal die Nationalmannschaft - eins der erfolgreichsten Teams aller Zeiten - besonders weit oben auf der Aufmerksamkeitsskala. Einen Monat zuvor, bei den Olympischen Spielen in Rio, waren wir schon im Viertelfinale ausgeschieden. Das war unser schlechtestes Turnier seit Jahren, ich selbst war wegen einer nicht ganz ausgeheilten Knieverletzung nicht in Höchstform. Und die Fußballsaison war fast zu Ende.
Außerdem war ich eine Frau, 31 Jahre alt, hatte zwei Weltmeisterschaften hinter mir und war bekannt für meine große Klappe. Es stand also zu erwarten, dass meine politischen Äußerungen in der Welt des Sports weitaus weniger ins Gewicht fallen würden als die der männlichen Kollegen. Vor einigen Monaten hatten Spielerinnen dreier Basketballteams des WNBA, der amerikanischen Women's National Basketball Association, ein bisschen Staub aufgewirbelt, weil sie T-Shirts mit der Aufschrift Black Lives Matter getragen hatten, aber das Interesse war rasch wieder verflogen. Colin Kaepernick, Quarterback bei den San Francisco 49ers, hatte mit seinem Kniefall in San Diego eine Woche zuvor allerdings sofort verheerende Reaktionen ausgelöst.
Ich hatte die Bilder von Colins Kniefall gesehen, sie wurden überall gezeigt, und den ganzen Sommer über liefen in den Nachrichten Berichte über unbewaffnete schwarze Amerikaner, die in Polizeigewahrsam gestorben waren. Eine Zeitlang war auch die New York Times voll von Artikeln über die ungleiche Behandlung von Schwarzen und Weißen, im amerikanischen Justizsystem im Besonderen und in unserer Gesellschaft im Allgemeinen. Colins Kniefall erschien mir demnach als völlig logische Reaktion auf eine Situation, die mir wie ein nationaler Notstand vorgekommen war. »Ich werde nicht aufstehen und Stolz demonstrieren für eine Flagge oder für ein Land, das Schwarze und People of Color unterdrückt«, hatte er gesagt, und seine Aufforderung, es ihm gleichzutun - die doch sicher alle vernommen hatten? - , war laut und deutlich zu hören.
Was ich am Morgen nach meinem Kniefall in Chicago in den sozialen Medien sah, machte mir klar, wie falsch ich gelegen hatte. Dans kleine Warnung am vergangenen Abend war nur ein winziger Vorgeschmack auf das gewesen, was mir noch blühen sollte: Die Menge tobte. Heilige Scheiße, waren die Leute angepisst! Als ich jünger war, hatte ich mir verrückterweise noch eingebildet, dass ich später was mit Männern anfangen würde. In jenem Augenblick erschien mir das als der kleinere Irrtum.
Es war nicht nur das Ausmaß der Entrüstung, sondern die hysterischen Auswüchse, die das Ganze annahm. Ich hatte ein paar väterlich-besorgte Leitartikel erwartet oder schlimmstenfalls einen Hashtag, aber nun wurden mir Gewalt oder gar der Tod angedroht, und das in einer entsetzlichen Sprache. Die meisten dieser Drohungen landeten bei Dan und seinen Kollegen, oft mit einer höflichen Notiz versehen, mir sie doch bitte weiterzuleiten. Ein »ehemaliger Fan« meinte, er denke ernsthaft darüber nach, mein Trikot zu verbrennen. Ich wurde mit allen erdenklichen Schimpfnamen belegt. Während sich das Foto von meinem Kniefall im Internet verbreitete, forderten rechtsextreme Blogs, mich aus der Mannschaft zu werfen, und ich wurde Brennpunktthema bei Fox News.
Ich rief meine Eltern in Redding an. Diese kleine Stadt in Nordkalifornien, einst ein florierender Außenposten der Holzfällerindustrie, lag jetzt in den letzten Zügen des langsamen wirtschaftlichen Niedergangs. Außer meiner Zwillingsschwester Rachael lebt meine gesamte Familie noch in dieser Gegend, Eltern, Geschwister, Tanten, Onkel, Neffen, Nichten, und meine Eltern sagten mir an jenem Morgen, dass sie sich nicht nur um mich und den öffentlichen Aufruhr sorgten und verärgert waren, weil ich sie nicht vorgewarnt hatte, sondern sie sich jetzt auch noch mit den Reaktionen ihrer konservativen Nachbarn auseinandersetzen mussten.
Nach und nach meldeten sich meine Geschwister bei mir. CeCé, die ich meine älteste Schwester nenne, ist in Wahrheit meine jüngste Tante mütterlicherseits und in unserer Familie bei Weitem die Sanftmütigste. Sie rief mich an, um sich zu vergewissern, dass bei mir alles in Ordnung war. Meine älteste Schwester Jenny, die man beim besten Willen nicht als sanftmütig bezeichnen kann, erklärte mir völlig aufgelöst, sie müsse auf Facebook lauter Kollegen und Kolleginnen entfreunden, die ständig Artikel posteten, in denen auf mir rumgehackt wurde.
Meine Zwillingsschwester Rachael war im Wanderurlaub in den Schweizer Alpen. Nach drei Tagen ohne Internet schaltete sie ihr Handy ein, das unter der Flut der eintreffenden Nachrichten so heftig vibrierte, dass es förmlich vom Tisch sprang. Die meisten stammten von Freund*innen: »Schon gesehen, was Megan angestellt hat?!« Hatte sie nicht. Aber schon bald war sie voll im Bilde. Wir haben ein gemeinsames Unternehmen, Rapinoe SC, das im ganzen Land Fußball-Trainingscamps für Kinder anbietet, und über die Website hagelte es unzählige Hassmails, dazu Absagen für anstehende Camps. Als sie mich anrief, war sie so aufgebracht, dass ich sie auch ohne Telefon gehört hätte. »Was ist das für eine Scheiße?«, schrie sie.
Ihr diese Frage zu beantworten fiel mir nicht gerade leicht. Während meine Mannschaft und ich uns aus Chicago aufmachten zum nächsten Spiel in Washington, D. C., nahm der Empörungssturm so richtig Fahrt auf. Ich hätte keinen Respekt vor Veteranen, hieß es, sei antiamerikanisch, würde den Sport für politische Zwecke missbrauchen und es für alle versauen. Auf all diese Anschuldigungen hatte ich ausführliche, wohlüberlegte Antworten, aber zunächst tobte ich vor Empörung. Polizeigewalt gibt es also nicht? So was kommt bei uns nicht vor? Verstehe. Ihr behauptet also allen Ernstes, die Schilderungen all dieser Menschen sind was? Gelogen? Das Ausmaß der Aufregung um dieses Thema zeigt doch nur, wie real das Problem ist, das wir hier benennen: In unserem Land will man einfach nicht wahrhaben, dass es Rassismus gibt, und mit ihrer mimosenhaften Überempfindlichkeit sorgen Weiße dafür, dass es schön so bleibt.
Die Wut schlug mir nicht nur von außen entgegen. Meine Familie stellte sich zwar schützend vor mich, wie sie es immer tat, aber das hieß nicht, dass alle meine Ansichten teilten. In Sachen Politik waren mein Dad und ich schon lange nicht mehr einer Meinung. Rachael, die meine politische Einstellung voll unterstützte, war immer noch sauer, weil ich meine Aktion nicht besser geplant hatte, während sich andere Mitglieder meiner Familie laut fragten, ob der Kniefall die beste Form der Meinungsäußerung sei. (Ja, aber hallo!) Der Einzige, von dem ich eine durchweg positive Reaktion auf meine Aktion erwartet hätte, war mein Bruder Brian. Unser letztes Gespräch lag schon eine Weile zurück, aber es war eine so bittere wie amüsante Nebenwirkung meines Auftritts, dass Brian nun nicht mehr ganz oben auf der...
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