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Mein Vater hat fünf Menschen getötet. Wie die meisten Mörder, die bloß Tastaturen, Hebel oder Kippschalter bedienen, wenn sie für einen maßlosen Augenblick die Herrschaft über Leben und Tod an sich reißen, berührte er dabei kein einziges seiner Opfer oder sah ihm auch nur in die Augen, sondern flutete über eine Reihe blanker Stahlwinden eine der Flußschiffahrt dienende Bootsgasse.
Der durch die geöffneten Schleusentore freigesetzte Wasserschwall verwandelte diese Gasse, einen schmalen, aus Lärchenbalken gezimmerten Kanal, in einen reißenden Abfluß. Ein darin eben noch driftendes, mit zwölf Menschen besetztes Langboot glitt dadurch nicht wie vorgesehen in ruhiger Fahrt vom Ober- in den Unterlauf des Weißen Flusses, sondern schoß in jäher Beschleunigung zwischen bemoosten Felswänden talwärts. Dort, wo die Bootsgasse wieder in das alte Flußbett einmündete, ließ der Schwall das Langboot wie von einer Riesenfaust getroffen umschlagen und kieloben durch brodelnde Kehrwasserwirbel davontaumeln.
Im Donnern des Großen Falls, jenes mehr als vierzig Meter hohen Wasserfalls, der durch ein von meinem Vater fast dreißig Jahre lang reguliertes, ja beherrschtes Kanalsystem sicher umfahren werden konnte, wurden sowohl die Entsetzensschreie der an den felsigen Ufern versammelten Zeugen des Untergangs als auch die Schreie und Hilferufe der Gekenterten und Ertrinkenden unhörbar. Der Weiße Fluß und sein von Flößern und Bootsleuten über Jahrhunderte gefürchteter Fall schluckten jeden Laut, der nicht zu den Wirbeln, nicht zur Gischt, nicht zum Widerhall des gegen die Felsen tobenden Wildwassers gehörte.
Es war ein frühsommerlich warmer, leicht bewölkter Tag, ein Freitag im Mai, an dem nach einem damals wie heute gültigen Kalender der Märtyrer in vielen Dörfern und Städten entlang des fast dreitausend Kilometer langen Stromverlaufs das Fest des heiligen Nepomuk gefeiert wurde - des Schutzpatrons der Flößer, der Brückenbauer und Schleusenwärter, aber vor allem: des Hüters der Verschwiegenheit. Nepomuk, Bischof und kaiserlicher Beichtvater im mittelalterlichen Prag, so überlieferte es eine Legende, die in handtellergroßen, vergoldeten Buchstaben in einen Felsen am Großen Fall geschlagen worden war, hatte sich geweigert, die ihm von einem Kaiser eingestandenen Verbrechen preiszugeben, sei dafür gefoltert und mit einem Schleifstein um den Hals in die Hochwasser führende Moldau gestürzt worden.
Auch wenn in den Tagen seines Festes die meisten Fährverbindungen bereits eingestellt und viele Brükken zerstört waren, die den bis ans Schwarze Meer strömenden Weißen Fluß einmal überspannt hatten, schien der Geist des Brückenheiligen immer noch selbst über gesprengten und überspülten Pfeilern und geborstenen Stahlbögen zu schweben - zu schweben über rostgebräunten oder unter Moospelzen zerfallenden Resten, die in den Sommermonaten in tiefgrünem Dickicht versanken, während sie sich im Winter wie die Gespenster einer in Schande untergegangenen Welt kalt und schwarz aus den Wasserstaubwolken erhoben.
Mehr als vierzig Sprachen wurden am Weißen Fluß gesprochen, aber die Zahl der Brücken, die seine Ufer einmal miteinander vernäht hatten, schrumpfte mit jedem Jahr weiter und verwies mit dramatischer Deutlichkeit auf ein Zeitalter der Trennungen und Grenzen. Denn mit den Brücken waren auch die meisten Allianzen und staatlichen Verbindungen auf dem europäischen Kontinent verschwunden und zu einem Hagel aus Zwergstaaten, Kleinfürstentümern, Grafschaften und von Flaggen und Wappen geschmückten Stammesgebieten zersprungen. Ruhig und unaufhaltsam wie je zog der Weiße Fluß einer Zukunft entgegen, in der nur noch einige morsche Kähne und Rollfähren zwischen jenen glucksenden und schäumenden Wirbeln verkehren sollten, die aus der Strömung ragende Trümmer umrauschten.
Fünf Tote. Ob mein Vater diese oder eine ähnlich erschreckende Zahl tatsächlich gewollt oder vielleicht sogar den Tod aller zwölf Passagiere des Langbootes zumindest in Kauf genommen hatte, wird vermutlich ein Geheimnis bleiben, solange nicht ein an Schleusentore genageltes Bekenntnis von ihm oder irgendwo zwischen Schwemmholz und Treibgut auf den Schotterbänken ein anderer Beweis auftaucht, der meine Vermutungen bestätigt oder widerlegt. Alle Fragen an ihn verhallen im Leeren. Denn als hätte er sich nach dem genau bemessenen Ablauf eines Sühnejahres dazu entschlossen, Buße zu tun, trieb mein Vater am ersten Jahrestag seiner Tat unter den Augen eines entsetzten, Warnungen schreienden Fliegenfischers in einer mit Steinsalz beladenen Zille von der Bauart jenes Langbootes, in dem auch seine Opfer gekentert waren, aus dem Oberlauf des Weißen Flusses auf die Wasserstaubwolken des Großen Falls zu.
Er wandte dem panisch winkenden Fliegenfischer kein einziges Mal auch nur den Kopf zu und tat nach den Aussagen des Mannes keinen einzigen Ruderschlag, um zu verhindern, was folgen mußte. Und stürzte mitsamt seiner Fracht in die donnernde Tiefe.
Geborstene Planken seiner Zille wurden an drei verschiedenen Sand- und Schotterbänken gefunden, sein Leichnam dagegen trotz des Einsatzes von Rettungstauchern, die an diesem Stromabschnitt stets nur Tote geborgen hatten, niemals. Und mittlerweile ist wohl auch zu viel Zeit vergangen, um in den Tiefen oder an einer unter Dickicht verborgenen Uferstelle auch nur einen Knochenrest zu finden, der dem Verschwundenen zugeordnet werden könnte.
Das gelöste Steinsalz seiner Fracht, so stelle ich mir vor, mußte damals gewiß auch einen ganzen Schwarm von Süßwasserfischen getötet haben - Regenbogenforellen, Schwerthechte und Saiblinge, die dem in den Wirbeln gelösten Salz, das ihre Kiemen verätzte, panisch zu entkommen versuchten, dabei alle ihre Kräfte mit rasenden Flossenschlägen verpraßten und so ein Beispiel gaben für den Wassertod der Opfer meines Vaters.
Die mehr als neun Meter lange, an eine venezianische Gondel erinnernde Lärchenholzzille, in der mein Vater wie ein unter seiner Schuld erstarrter Bootsmann lautlos im Großen Fall verschwunden war, stammte aus den Beständen jenes der Flußschiffahrt gewidmeten Freilichtmuseums, das er über Jahrzehnte mit einem unstillbaren Haß auf die Gegenwart verwaltet hatte. Denn wenn sich überhaupt etwas Unbezweifelbares über diesen begeisterungsfähigen, manchmal liebevollen, dann wieder über Tage schweigsamen und oft jähzornigen Mann sagen ließ, der mein Vater war, dann, daß er nicht nur als Verwalter einer weitläufigen Museumsanlage, sondern bis in die Abgründe seines Daseins ein Mann der Vergangenheit war.
Spätestens seit er mit seiner Ernennung zum Fallmeister in der Grafschaft Bandon, unserem Heimatdistrikt, sein Amt als Kurator des Museums am Großen Fall angetreten hatte, schien seine Lebenszeit ihre Fließrichtung umgekehrt zu haben und nicht in eine bedrohliche Zukunft zu verlaufen, sondern aus dem Nebel dieser Zukunft zurück in eine Vergangenheit, in der alles vertraut, alles absehbar, alles lenkbar erschien.
Fallmeister war in einer Jahrhunderte zurückliegenden, nur für meinen Vater noch lebendigen Zeit der Berufs- und Ehrentitel jener Schleusenwärter gewesen, die den Weißen Fluß im Bereich des Großen Falls in Bootsgassen gelenkt hatten, die wie wasserführende Balkone an die Felswände gebaut worden waren. So konnten die Salzschiffer in ihren Langbooten den Großen Fall in treppenförmig angeordneten Kanälen umfahren.
Ein Fallmeister mußte dabei durch das Öffnen und Schließen eines Systems von Schleusen gerade genug Wasser in diese Gassen lenken, um selbst schwer beladene Salzzillen auf einem seichten, mit jedem Laufmeter schwächer werdenden Schwall am Tosen des Falls vorüber in den Unterlauf des Weißes Flusses zu führen. Denn am Ende der Umfahrung mußte sich dieser Schwall durch seriell geöffnete Ablaufventile verlieren und eine Zille, nur von nassen Lärchenbohlen gebremst, sanft in den Fluß zurückgleiten.
Ein Meister, ein Fallmeister, wer die Abfolge der Öffnung und Schließung von Schleusentoren, Ventilen, Flutungen und Abflüssen so virtuos beherrschte, daß die Bootsmänner in ihren Zillen wie in einer Wiege oder in der Gondel eines Ballons im Sinkflug am Großen Fall vorüberschwebten. Aber wehe!, wenn in dieser Sinkfahrt auch nur ein Fehler geschah. Dann konnte ein Langboot wie der Pfeil einer Harpune talwärts schießen und am Ende der Fahrt im Weißwasser kentern und versinken. Erinnerungen an die in den Jahrhunderten des Salztransports ertrunkenen Bootsleute waren zu Dutzenden als Gedenktafeln an eine blanke Felswand am Großen Fall geschraubt oder dort wie die Legende vom ertränkten Nepomuk als kunstvolle, nun moosüberwachsene Ornamente in den Stein geschlagen worden.
Aber auch wenn die Zeiten der Fallmeister längst vorüber waren, die Mundlöcher der Salzbergwerke im Toten Gebirge, das den südlichen Horizont der Grafschaft als eine bis in die Wolken aufragende Mauer begrenzte, nur noch überwucherte oder zugemauerte Portale waren und die über dem Fluß schwebenden Bootsgassen nur noch gegen mäßigen Eintritt bewunderte Museumsobjekte, legte mein Vater auch als Kurator verbissen darauf Wert, Fallmeister genannt zu werden.
Meine Mutter Jana hatte ihm noch kurz vor jenem Tag, an dem sie ihn unter dem Zwang neuester ethnischer Gesetze verlassen und in ihre adriatische Heimat zurückkehren mußte, an die Brusttasche eines seiner Hemden, in denen er stets den Wasserstandskalender bei sich trug, den Titel mit silbernen Fäden gestickt: Fallmeister. Heute weiß ich,...
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