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Tot und begraben
»Kälter als ein Kuss von der Ex«, brummte Detective Inspector Stefan Gilmour, scharrte mit den Füßen und rieb sich die Hände.
»Dazu kann ich nichts sagen«, erwiderte Rebus, die Hände seinerseits tief in den Manteltaschen vergraben. Es war drei Uhr an einem Winternachmittag, und im Gefängnishof waren bereits die Lichter angegangen. Manchmal tauchten Gesichter hinter den vergitterten Fenstern auf, begleitet von neugierigen Blicken und Gesten. Der Bagger kam nur langsam voran, Arbeiter standen mit Spitzhacken bereit.
»Ich vergesse immer wieder, dass du noch verheiratet bist«, erwiderte Gilmour. »Bestimmt nur der Tochter zuliebe, hm?«
Rebus schaute ihn finster an, aber Gilmour konzentrierte sich auf das nicht näher bezeichnete Grab. Sie befanden sich in einer kaum genutzten Ecke auf dem Gelände des HMP Saughton, nahe der hohen Außenmauern. Die Wärter, die sie an die Stelle geführt hatten, waren schleunigst wieder nach drinnen verschwunden. Statt eines Leichenwagens hatte der Bestattungsunternehmer einen mit zahlreichen Rostflecken übersäten, hellblauen Transporter bereitgestellt. Darin befand sich ein billiger, schlichter Sarg, da niemand davon ausging, dass von dem ursprünglichen noch viel übrig sein würde. Vor zwanzig Jahren war Joseph Blay keine fünfzig Meter von hier entfernt gehängt worden, einer der letzten in Schottland hingerichteten Straftäter. Rebus hatte bei einem seiner vorangegangenen Besuche des Gefängnisses auch das Exekutionsgebäude besichtigt. Es sei, wie man ihm versichert hatte, nach wie vor in voll funktionsfähigem Zustand, sollte die Todesstrafe wieder eingeführt werden.
Erneut schlug der Bagger in die Erde, und dieses Mal spritzten lange Holzsplitter herauf. Einer der Arbeiter bedeutete dem Baggerführer, den Greifarm abzudrehen, dann stieg er, begleitet von seinem - offensichtlich widerwilligen - jüngeren Kollegen, in die Grube. Während sie mit ihren Spitzhacken ans Werk gingen, kam immer mehr von dem Sarg zum Vorschein, an einigen Stellen war er durchaus noch intakt. Geruch gab es keinen, wobei Rebus davon ohnehin nichts gemerkt hätte. Das Erste, was er von Joseph Blay zu Gesicht bekam, war ein Haarbüschel mit einem Schädel unten dran. Inzwischen war der frische Sarg ausgeladen worden. Keiner hatte hier Zeit zu verlieren. Blay trug einen dunklen Anzug. Rebus hatte nicht gewusst, was ihn bei der Exhumierung erwarten würde: Würmer in Augenhöhlen vielleicht oder Verwesungsgestank. Den ganzen Vormittag über hatte er sich darauf gefasst gemacht, Frühstück und Mittagessen ausgelassen, um nichts im Magen zu haben, das hochkommen könnte. Und jetzt hatte er ein Skelett in einem billigen Anzug vor sich, das eher an eine Requisite erinnerte, mit der Medizinstudenten anderen Streiche spielten.
»Tag, Joe«, sagte Gilmour und deutete einen militärischen Gruß an.
Wenige Minuten später waren die Arbeiter so weit, die Leiche zu heben. Blays Hose und Anzugsjackett schienen unten am Boden zu haften, schließlich lösten sie sich aber doch. Seine Überreste wurden weder besonders ehrfürchtig noch respektlos behandelt. Der Verstorbene hier war ein Job, den es möglichst zügig zu erledigen galt, bevor einer der noch lebenden Beteiligten erfror.
»Was ist das?«, fragte Rebus und nickte Richtung Grube. Gilmour kniff die Augen zusammen, dann stieg er hinein, bückte sich, um eine Taschenuhr an einer Kette aufzuheben.
»War wahrscheinlich in seinem Jackett«, sagte er und streckte Rebus seine freie Hand hin, damit dieser ihm wieder hinaufhalf. Der Deckel war bereits auf den neuen Sarg gesetzt worden, und der Tote wurde in den Transporter verladen.
»Wo wird er hingebracht?«, fragte Rebus.
Gilmour zuckte mit den Schultern. »Nirgendwo, wo's schlimmer wäre als hier«, behauptete er und erwiderte das finstere Starren eines älteren Sträflings an einem der Fenster im zweiten Stock.
»Dagegen kann man nichts sagen«, meinte Rebus. Wieder war der Motor des Baggers angesprungen. Die Grube musste zugeschüttet werden.
In einem Pub unweit des Bahnhofs Haymarket bestellte Gilmour zwei Irish Coffee. Es war löslicher Kaffee mit Kondensmilch, aber der extra große Schuss Grouse pro Becher würde seine Wirkung nicht verfehlen. Kaminfeuer gab es keins, aber die Heizungsrohre zischten unter den Sitzbänken, und so setzten sie sich nebeneinander und schlurften ihre Getränke. Rebus hatte eine Zigarette angezündet und spürte ein Kribbeln in seinem allmählich auftauenden Gesicht.
»Erklär mir das noch mal«, sagte er schließlich. »Was sollte das gerade eben?«
»So haben die das damals gemacht«, kam Gilmour der Aufforderung nach. »Hingerichtete wurden auf dem Gefängnisgelände begraben. Joseph Blay hatte einen Mann ermordet, der ihm Geld schuldete. Er ist zu ihm nach Hause und hat ihn erstochen, daraufhin wurde er schuldig gesprochen und zum Tode verurteilt.«
»Und das war 1963?«
Gilmour nickte. »Vor zwanzig Jahren. Charlie Cruikshank hat den Fall geleitet. Der ist auch schon tot - Herzinfarkt vor ein paar Jahren.«
»Davon hab ich gehört.«
»Er hat mir alles beigebracht, was ich weiß. Bei der Edinburgh Police war der Mann eine Legende.«
»Hat er der Hinrichtung beigewohnt?«
Gilmour nickte erneut. »Immer. Wenn du ihn darüber hast sprechen hören, hast du gemerkt, dass er's für einen großen Fehler hielt, solche Typen aus der Welt zu schaffen. Er hat nicht an die abschreckende Wirkung geglaubt. Und ich bin auch wirklich noch nicht vielen Mördern begegnet, die sich vorher Gedanken über die Konsequenzen gemacht hätten.«
»Und als was hat er's betrachtet? Als eine Art Rache?«
»Na ja, immerhin konnten sie auf die Art keinen Ärger mehr machen, oder? Und wir haben die Kosten für die Unterbringung im Knast gespart.«
»Kann schon sein.«
Gilmour trank seinen Becher aus und erklärte Rebus, die nächste Runde ginge auf ihn.
»Noch mal dasselbe?«
»Ja, aber ohne den Kaffee und die Milch«, erwiderte Gilmour augenzwinkernd.
Als Rebus mit den Whiskys vom Tresen zurückkehrte, sah er, dass Gilmour mit der gefundenen Taschenuhr spielte, sie zu öffnen versuchte.
»Ich dachte, du hast sie abgegeben«, sagte Rebus.
»Meinst du, er wird sie vermissen?«
»Trotzdem .«
»Zum Kuckuck, John, die ist nicht mal was wert. Das Gehäuse scheint aus Zinn zu sein. Hier, schau's dir an.« Er gab Rebus die Uhr und ging zum Barmann, um nach einem Messer zu fragen. Die Uhr war sehr leicht und, soweit er sehen konnte, relativ unverschrammt. Ohne Erfolg machte er sich mit dem Daumennagel daran zu schaffen. In der Zwischenzeit hatte der Barmann einen kleinen Schraubenzieher aufgetrieben. Gilmour nahm die Uhr wieder an sich und bekam sie schließlich auch auf. Das Glas war milchig, das Ziffernblatt verfärbt und durch die eingedrungene Feuchtigkeit beschädigt. Die Zeiger waren auf Viertel nach sechs stehen geblieben.
»Nichts eingraviert«, sagte Gilmour.
»Sie muss mindestens emotionalen Wert besessen haben«, behauptete Rebus. »Sonst hätte er sich nicht damit begraben lassen. Vielleicht hat sie seinem Dad gehört oder sogar seinem Großvater.«
Gilmour fuhr mit dem Daumen über das Glas, drehte die Uhr in seiner Hand. Dann machte er sich erneut mit dem Schraubenzieher daran zu schaffen, bis er das Uhrwerk aus dem Gehäuse befreit hatte. Ein zweieinhalb Zentimeter langes Rechteck aus festem Papier steckte dort. Bei dem Versuch, es zu lösen, riss es auseinander, blieb auf der einen Seite am Uhrwerk und auf der anderen am Gehäuse hängen. Wenn jemals etwas darauf gestanden hatte, dann waren die Buchstaben längst verblasst.
»Was hältst du davon?«, fragte Gilmour.
»Hab ich was übersehen, Stefan?«, stellte Rebus die Gegenfrage.
»Du bist Detective, John.« Gilmour legte die Uhr auf den Tisch. »Sag du es mir.«
Den gesamten Rest der Woche lag die Uhr auf Gilmours Schreibtisch in Summerhall. Das alte Gebäude kam einem vor, als würde es den Frühling möglicherweise nicht mehr erleben. Zwei der Fenster in den Büroräumen des CID ließen sich nicht mehr richtig schließen, und jemand hatte Zeitungspapier in die Ritzen gestopft. Zwei Wochen zuvor war ein nicht isoliertes Wasserrohr auf dem Dach geplatzt und die Decke in einem Lagerraum daraufhin teilweise eingestürzt. Rebus war erst seit anderthalb Monaten dort stationiert, aber die in dem Gebäude herrschende Atmosphäre war ihm bereits in die Knochen gefahren. Er hatte das Gefühl, dass ihm seine neuen Kollegen immer noch auf den Zahn fühlen wollten und die Taschenuhr irgendwie dazugehörte. DS Dod Blantyre hatte angeboten, sie einem ihm bekannten Uhrmacher zu zeigen, aber Gilmour hatte den Kopf geschüttelt. Vor Kurzem war im Scotsman ein Foto erschienen, das die Bauarbeiten im HMP Saughton dokumentierte. Neue Werkstätten wurden errichtet - der Grund für die Exhumierung von Joseph Blay. Rebus war immer noch nicht klar, weshalb Gilmour ihn mitgenommen hatte - oder warum Gilmour überhaupt selbst glaubte, anwesend sein zu müssen. Er war erst seit 1965 bei der Polizei, hatte zwei Jahre nach Blays Hinrichtung angefangen. Als Rebus mit Dod Blantyre alleine im Büro war, fragte er diesen, ob er Charlie Cruikshank gekannt habe.
»Oh ja«, antwortete Blantyre schmunzelnd. »Das war vielleicht eine Nummer, dieser Charlie.«
»Er scheint Stefan unter seine Fittiche genommen zu haben.«
Blantyre nickte. »Die waren dicke miteinander«, pflichtete er ihm bei. »Andererseits war Charlie aber auch...
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