Schweitzer Fachinformationen
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»Wo ist man zu Hause, wo gehört man hin? Es sind die großen Fragen des Lebens, die Luciana Rangel anschneidet - manchmal ernst, getragen, traurig und dann wieder witzig, ironisch, spöttisch. Die brasilianische Journalistin arbeitet neun Jahre lang in Berlin. Dann kommt sie nach Rio de Janeiro zurück, und sie stellt fest: Alles ist anders als früher. Sie sieht ihr Land mit anderen Augen an: Das Vertraute ist ihr fremd geworden, und sie merkt dabei, wie vertraut ihr das einst Fremde geworden ist.« (Wolfgang Kunath, Journalist, Autor, Lateinamerika-Korrespondent)
Luciana Rangel schreibt in der typisch brasilianischen Form der Crônicas: Kurze Texte, die es schaffen, Alltag, Kritik, Tragik und Witz leichtfüßig zu vereinen - wie es sonst nur das Leben kann. Sie erweitert die Palette durch ihre persönliche Geschichte, die sich durch alle Texte wie ein roter Faden zieht. Und so sind wir sehr nah dabei, bei dieser Reise, die vor allem eine innere ist: Von Berlin nach Rio und wieder zurück.
Zweisprachig Deutsch/Portugiesisch
An meinem fünften Tag in der neuen alten Stadt erfuhr mein Vater, dass er krank war. Sehr krank. So viele Jahre, in denen er hätte krank werden können, und jetzt wurde er ausgerechnet bei meiner Rückkehr krank. Schicksal? Oder Ironie des Schicksals? Was weiß ich.
Voller Hoffnung sitze ich in einem Wartezimmer bis die Ergebnisse der Untersuchung vorliegen. Sie sind nicht gut. Es beginnt ein Kampf gegen die Zeit und gegen die Krankenversicherung, die eine Notoperation verweigert. Eine berufliche Reise in den Süden sage ich ab. Das Team fährt ohne mich, und ich bleibe zurück, ohne dass ich etwas tun könnte - weder für meinen Vater noch für das Team oder für mich. Ich fühle mich wie das Salatblatt, das zur Deko auf dem Teller eines schlechten deutschen Restaurants liegt. Geschmacklos, welk, einfach nur da, um da zu sein. Meine Schwester dirigiert das Orchester aus Anwälten, Ärzten und Untersuchungen.
Nach zehn schlaflosen Nächten ist der Tag der Operation gekommen.
Das Krankenhaus trägt den Namen eines Heiligen und liegt im Stadtteil Copacabana. São Lucas? Nein, São Lucas heißt eine Abtreibungsklinik, von der alle so tun, als gäbe es sie nicht. Ich kann mich nicht mehr an den Namen des Krankenhauses erinnern, aber der Eingang sieht aus wie der eines Hotels: Marmor, Pflanzen und sogar ein Springbrunnen. Die Empfangsdamen wollen eine Kreditkarte haben und, soweit ich mich erinnern kann, auch einen Blankoscheck. Wir sehen uns das einfache Zimmer an. Es hat einen Blick auf einen der schönen grünen Hügel von Copacabana. Ich bin so lange weg gewesen, dass ich Namen und Adressen vergessen habe. Meine innere Karte der Stadt, in der ich geboren wurde, ist gelöscht worden.
Wir gehen in das nette Café im Hinterhof. Es ist ein kühler Oktobertag, Frühling in Rio. Im Flur sagt mein Vater: »Ich möchte eingeäschert werden, aber bitte stellt euch meine Asche nicht ins Wohnzimmerregal. Das wäre lächerlich. Streut mich ins Meer, streitet nicht über Geld und bleibt Freundinnen.« Nach seinen Worten habe ich keine mehr. Meine Schwester ist gefasst. Ich versuche, Normalität vorzuspielen und ein pão de queijo zu essen. Es bleibt mir im Halse stecken.
Dann war es so weit. Wir gingen ins Zimmer. Er verabschiedete sich und ließ seine schöne Uhr, seinen Ausweis und seine Liebe bei uns. Meine Schwester nahm seine Hand und sagte mit fester, optimistischer Stimme: »Alles wird gut.« In mir brach alles zusammen. Ich war nicht bereit, meinen Vater zu verlieren. Meinen lieben, schlecht gelaunten, klugen und grantigen Vater. Meinen Ursprung und mein Ziel.
Die Operation dauerte sechs Stunden. Wir hätten nach Hause gehen können. Aber wir blieben. Mir gingen so viele Gedanken durch den Kopf, die ich jetzt nicht mehr in Worte fassen kann. Zusammenhangslose Gedanken, die nicht aus mir zu kommen schienen. Gedanken über die Gegenwart, die Vergangenheit, die Zukunft. Dazwischen das schlechte Gewissen, so weit weg gewesen zu sein. Dieses diffuse schlechte Gefühl, das jeden Auswanderer befällt, der eine Mutter oder einen Vater verliert oder fürchtet, sie zu verlieren.
Die Schwester ruft uns - die OP ist geschafft. Der Arzt sagt, dass alles gut gelaufen ist, unser Vater aber sicherheitshalber noch auf der Intensivstation bleiben müsse. Wir dürfen ihn kurz sehen. Er ist noch benommen. Er sieht meine Schwester, sieht mich und sagt: »Da fehlt eine.« Richtig, er hat drei Töchter, und keine Narkose der Welt lässt ihn das vergessen. Das sind die Momente, in denen ich bete. Ich bete zu Jesus und Maria und danke Gott, den ich mir seit meiner Kindheit wie einen lieben alten Mann vorstelle, rundlich und mit Rauschebart - ähnlich wie den Weihnachtsmann. Ich bin da sicher nicht die Einzige. Wer in einer solchen Situation Atheist bleiben kann, hat meine Hochachtung verdient. Ich setze all meine Hoffnungen in den weihnachtlichen Gott.
Zehn Tage lang besuchten wir meinen Vater auf der Intensivstation. Danach wurde er auf ein Zimmer verlegt, das er sich mit sterbenden Greisen teilte und wo er von fiesen Krankenschwestern versorgt wurde. Ein Patient wurde zu einer Untersuchung abgeholt und kam nicht zurück. Mein Vater fragte nach ihm, und obwohl wir vom Flur leises Weinen hören konnten, sagte ich: »Ach, dem geht's bestens, er wurde entlassen.«
Aufstehen, alleine ins Bad gehen, Hinfallen, Streiten, Kümmern, Krankenhausfernsehen, Langeweile, schlechte Laune, Geduld. Und währenddessen packte ich Koffer, kaufte Kleidung und ließ mich impfen, weil wir mit dem deutschen Fernsehteam ins Amazonasgebiet reisen wollten. Ich hätte absagen können, aber das wollte ich nicht. Mein Name stand auf den Genehmigungen des Funai, der brasilianischen Indigenenbehörde, und ohne mich wäre das Team aufgeschmissen gewesen. Ich musste mit. Oder vielleicht musste ich auch einfach nur mal kurz die Pausetaste meines eigenen Films drücken, dessen Verlauf immer beunruhigender wurde: Die Söhne weit weg in einem anderen Land, der Vater im Krankenhaus und ich die Verzweiflung in Person. Ich war plötzlich gealtert. Die Fingernägel waren abgekaut, die Haare weiß und Schmuck ein Fremdwort. Ich funktionierte nur noch, um zu überleben. In diesem Zustand machte ich das, was ich am besten kann: recherchieren, organisieren und mich vorbereiten.
Der Tag der Abreise war gekommen. Mein Vater freute sich mehr als ich, sah in dem Ganzen ein tolles Abenteuer. Er wünschte mir viel Glück, und ich wünschte mir, dass das Glück bei ihm bleiben möge.
Zehn Tage lang besuchten wir meinen Vater auf der Intensivstation. Danach wurde er auf ein Zimmer verlegt, das er sich mit sterbenden Greisen teilte und wo er von fiesen Krankenschwestern versorgt wurde. Ein Patient wurde zu einer Untersuchung abgeholt und kam nicht zurück. Mein Vater fragte nach ihm, und obwohl wir vom Flur leises Weinen hören konnten, sagte ich:...
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