Schweitzer Fachinformationen
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Akustisch gesehen ist ein See gewissermaßen ein schwarzes Loch: Im Gegensatz zum Meer erzeugt er keinerlei Eigengeräusche, stattdessen spinnen Wind, Boote, Vogelgezwitscher und Kinderstimmen eine Art Lautkranz um das Wasser, was die Stille noch intensiver erscheinen lässt. Gelegentlich durchbrechen eine Schildkröte oder ein Fisch die Wasseroberfläche, wobei der Eindruck entsteht, als steige ein Geräusch aus den Tiefen empor. Maddy, die geborene Philosophin, würde wissen wollen, ob es tatsächlich ein Geräusch ist, oder ob dieses Auftauchen lediglich die Suggestion davon heraufbeschwört. Ich erwähne Maddy, weil sich die Gedankenwelt automatisch zweiteilt, sobald man ein Kind hat. Nichts, was ich denke oder tue, gehört noch länger mir alleine. Diese Wahrheit gilt heute mehr denn je.
Jeden Morgen gehe ich mit einem Becher Kaffee auf den Steg hinaus. Robin begleitet mich nie. Er hat das alles schon x-mal gehört, außerdem ist er mit dem neuen Zimmer unterm Dach beschäftigt - es ist so neu, dass auf den Fenstern noch die Schutzfolien kleben und der Boden aus Spanplatten besteht. Statt über eine Treppe gelangt man lediglich über die ausziehbare Leiter hinauf und muss sich durch die Luke zwängen. Es riecht nach Holz und Leim, außerdem herrschen wegen der Kiefern ringsum völlig andere Lichtverhältnisse als im restlichen Haus. Wenn es eines Tages fertig ist, wird man sich dort oben wie in einem Baumhaus fühlen. Geplant ist, dass es teils als Spiel-, teils als Arbeitszimmer dienen soll. Dass es erst jetzt entsteht, verleiht dem Projekt eine unwirkliche Note, und ich kann mich nicht durchringen, echtes Interesse dafür aufzubringen.
Der Schlaf und auch der Mangel daran beschwört so einiges in mir herauf, ein gesunder Appetit zählt allerdings nicht dazu. An dem Tag, als ich Norma kennenlernte, kam ich nach unten und verputzte jedoch erst einmal drei Scheiben Toast. Ich wartete nur darauf, dass Robin aufstand und mir applaudierte, doch er lächelte nur und meinte: »Ab mit dir.« Was ich auch tat. Ich ging über die unebenen Platten, zwischen deren Ritzen das Unkraut spross, wobei ich meinen Becher dem Rhythmus meiner Schritte anpasste, damit der Kaffee nicht über den Rand schwappte, wie ich es von Robin gelernt hatte.
Der Steg war T-förmig angelegt. Er bestand aus verwitterten, auf Styroporplatten ruhenden Holzbohlen und wackelte ziemlich heftig, was mir die Instabilität und die Unnachgiebigkeit des Wassers gleichermaßen vor Augen führte. Am Ende standen zwei grün gestrichene Adirondack-Holzstühle und ein niedriges Tischchen, auf dem ich meinen Becher abstellte, um den Tau von den Stühlen zu wischen, deren Lack von der Sonne bereits abblätterte und Blasen warf. Eigentlich müssten sie dringend frisch gestrichen werden, aber mir war klar, was ich zu hören bekäme, wenn ich das Thema anschneiden würde. »Hey, Eve, das ist doch eine wunderbare Aufgabe für dich«, würde Robin mit seiner typisch fröhlich-lauten Stimme sagen. Aber ich brauchte keine Aufgaben, wie Stühle streichen oder Kleiderschränke ausmisten. Wann immer ich hier bin, will ich am See sein, ohne irgendwelche Ablenkungen oder Arbeitsaufträge. Ich wusste, dass Robin früher oder später nach mir rufen würde, aber solange ich ihm zuwinkte, würde er mich nicht stören.
An manchen Tagen liegt der Dunst wie ein weißer Deckel auf dem Wasser, der sich nach einer Weile hebt und den Blick auf den reglos daliegenden See freigibt. Manchmal sind See und Himmel auch zu einer dunstigen Einheit verschmolzen, oder ich sehe die konzentrischen Kreise der Regentropfen auf der Wasseroberfläche, noch bevor ich sie auf der Haut spüren kann. An diesem Tag hatte sich der morgendliche Dunst bereits aufgelöst, die Umrisse waren klar und scharf, die Farben beinahe von schier unerträglicher Intensität: Gold, sattes Grün und nahezu alle Blauschattierungen.
Ich stand vor dem See, nahm ganz bewusst die Brise auf meinen nackten Armen und meinem Gesicht wahr, um herauszufinden, ob sich die Topografie meiner Haut über Nacht wiedererschaffen hatte, ob ich klammheimlich wieder ich selbst geworden war - ein Zustand, den ich mir wünsche und auch wieder nicht. Im Großen und Ganzen fühlte ich mich genauso wie gestern. Einen Moment lang erlaubte ich mir die Illusion, nicht im Hier und Jetzt zu sein, sondern auf einer Bühne zu stehen, während der Vorhang hinter mir zufiel. Ich breitete die Arme aus, machte ein paar ausschweifende Gesten, schnitt eine Grimasse, formte lautlos Worte wie eine Diva, gab mich dem Vergnügen eines lautlosen Schreis hin, genoss es, nicht länger eine magere, auf einem Planeten gefangene Dreiundvierzigjährige zu sein, sondern ein Geschöpf mit Krallen und Klauen, Federn und Schuppen, das lediglich seinen Instinkten folgt, ohne intellektuell zu verstehen, was vor sich geht.
Als ich fertig war, wischte ich noch einmal den Stuhl ab, obwohl er längst trocken war, setzte mich und griff nach meinem Becher. Die beiden Kieferreihen mit den wie aufgespießt aussehenden Wolken darüber spiegelten sich perfekt in der Wasseroberfläche. Die Bäume am Ufer ragten stolz in die Höhe, und ihre Reflektion auf dem Wasser erstreckte sich ebenso überzeugend wie ihre realen Pendants. Einen Moment lang gab ich mich der Illusion hin, an diese zweite Realität zu glauben, wohl wissend, dass sie sich über kurz oder lang verraten würde, ganz egal, wie windstill es war. Da! Ich registrierte das leichte Zittern der Bäume. Die zweite Welt löste sich auf, und ich blickte auf das Bild, das wie ein Teppich auf dem See ausgebreitet lag.
Etwas zupfte an dem Teppich am gegenüberliegenden Ufer. Ich kniff die Augen zusammen: ein Kajak, das zügig in meine Richtung kam. Obwohl genug Zeit gewesen wäre, ins Haus zurückzukehren, blieb ich sitzen. Das mussten die Neuen sein, die das Haus auf der anderen Seite renovierten. Die Arbeiten hatten für zahlreiche Diskussionen gesorgt: Es steht so dicht und so exponiert am Ufer, dass es unserer Ansicht nach gegen die Verordnung der Seeanrainerversammlung verstößt. Einige Bäume wurden gefällt, damit die Leute einen besseren Blick aufs Wasser haben - und uns einen ungehinderten Blick auf ein leuchtend gelbes Haus aufzwingen, auf den wir alles andere als versessen sind . es sieht wie eine Narbe aus, die sich sogar auf dem See spiegelt. Auch Maddy findet, dass Gelb als Anstrich für ein Haus unnatürlich und aufdringlich ist. Aufdringlich mag nicht ihre Wortwahl sein, aber das trifft es am besten. Tatsache ist, dass unmittelbar am Ufer gebaute Häuser in Braun- oder Grautönen gehalten sein sollen. Tatsache ist auch, dass es verboten ist, Bäume am Ufer zu fällen. Die Welt braucht so viele Bäume, wie sie nur kriegen kann. Wäre ich noch aktives Mitglied in der Seeanrainerversammlung, würde ich all diese Argumente vorbringen. Der Tawasentha Lake ist der höchstgelegene Natursee östlich der Rockies und seit jeher (und auch in Zukunft) eine rustikale Gegend mit Häusern im Hüttenstil, ganz egal, wie groß diese Behausungen inzwischen auch sein mögen. Keine Motorboote. Keine Geländewagen. Und niemand hier vermietet sein Anwesen an Fremde.
Das - logischerweise knallgelbe - Kajak hatte die spiegelglatte Oberfläche jäh durchbrochen und zog sie nun in Einzelteilen hinter sich her, als es sich dem Steg näherte. In dem Kajak saß eine Frau in meinem Alter, deren Haar zu etwas zurückfrisiert war, das wie ein rötliches Garnknäuel aussah, und deren Arme und Gesicht von Sommersprossen bedeckt waren, die die Sonne zwar hatte leicht verschwimmen, aber nicht zu einer flächendeckenden Sonnenbräune hatte verschmelzen lassen. Das Wasser tropfte von den quer über ihren Knien liegenden Paddeln. In dieser Höhe ist der Sommer selbst im August nicht garantiert, und morgens herrschen meist frische Temperaturen, was einer der Gründe war, weshalb ich das ganze Jahr über Jeans und Flanellhemden trug, wenn ich hier war. Da sie neu in der Gegend war, dachte sie vielleicht, Shorts und ein T-Shirt würden genügen. Vielleicht gehörte sie aber auch zu jenen, die stets Optimismus verbreiten und ihn meist auch bestätigt bekommen. Jedenfalls sah sie ganz anders aus, als ich mir die neue Besitzerin des Hauses vorgestellt hatte. Ich thronte über ihr auf dem Steg und wartete darauf, dass sie mich begrüßte.
»Ist alles in Ordnung? Sie haben gewinkt, deshalb dachte ich, Sie brauchen vielleicht Hilfe.«
»Ach, das.« Ich wurde rot. Es ärgerte und rührte mich zugleich, mit welcher Beiläufigkeit sie das Wort »Hilfe« in den Mund nahm. »Ich habe nur ein bisschen Yoga gemacht.«
Es hatte nicht den Anschein, als würde mir die fremde Frau auch nur eine Sekunde lang glauben. Ihr Lächeln und das Leuchten ihrer blauen Augen waren eine Spur zu strahlend für den Anlass. »Bitte entschuldigen Sie, wenn ich Sie belästigt haben sollte. Ich wollte mich nur mal ein bisschen umsehen. Ich bin Norma. Wir sind die neuen Nachbarn.« Das Wasser spritzte, als sie das Paddel anhob und damit in Richtung des Hauses zeigte. »Wir renovieren ein bisschen, bevor wir einziehen, aber das haben Sie bestimmt mitbekommen.«
»Allerdings.«
Wieder lächelte sie. »War auch nicht zu übersehen.«
Als ich schwieg, hob sie neuerlich das Paddel, als wollte sie zurückrudern. Zu meiner Verblüffung hörte ich mich, wie ich sie, die Besitzerin der knallgelben Narbe, die Zerstörerin der perfekten Spiegelung, Trägerin weißer Shorts, einlud, mir doch auf dem Steg Gesellschaft zu leisten.
Es gibt keine damenhafte Möglichkeit, aus einem Kajak zu steigen, und gemessen daran, wie heftig sie das Boot zum Schwanken brachte und wie umständlich sie es mit einem Achterknoten festmachte,...
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