Schweitzer Fachinformationen
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»Du wirst wahrscheinlich mal so ein Mann, der über sich selbst sagt, er sei sensibel.«
*Carolina Flanders
Die Trauergäste hatten sich gegen 18 Uhr am Westufer versammelt, eine Kleiderordnung bestand nicht, nur etwa die Hälfte trug Schwarz. Auf dem breiten Holzsteg lagen abgezählte Blumensträuße bereit, man hatte sich gegen Vasen entschieden und für ein möglichst bescheidenes Büfett - es gab gekühltes Mineralwasser in kleinen Glasflaschen, hellgrüne Apfelschnitze sowie lauwarme Salzbrezeln, die in Stoffservietten eingeschlagen waren. Die Notwendigkeit von Salzbrezeln war wiederholt infrage gestellt worden, insbesondere von Marians Vater, aber nun schienen sich doch alle darüber zu freuen. Für viele war es ein Wiedersehen, andere lernten sich gerade erst kennen. Freundinnen und Verwandte trafen auf langjährige Fans. Marian, dem die Nachmittagssonne an diesem heißen Junitag bereits die Stirn gerötet hatte, empfand die Stimmung als regelrecht ausgelassen. Seine Mutter hätte es sich genauso gewünscht, dachte er, auch wenn es niemandem je leichtgefallen war, die Wünsche von Carolina Flanders richtig zu lesen.
Sobald das Schiff ablegen würde, sollte an Deck auch etwas Schaumwein angeboten werden, denn der Gedanke, dass man Abschiede zelebrieren und genießen sollte, hatte sich in den Familien Coen und Flanders längst etabliert. Nach der Urnenbeisetzung von Marians Großvater Valentin Coen im Spätsommer 2011 war in einem rheinländischen Landgasthof sogar getanzt worden. Diverse Angehörige waren spontan aus sich herausgegangen, und Carolina hatte das auf dem Heimweg lobend erwähnt, wenngleich sie selbst überhaupt nicht aus sich herausgegangen war, oder zumindest nicht auf eine erkennbare Weise. Marian hatten die Tänze älterer Menschen seinerzeit noch befremdet, während er nun hoffte, dass sich auf dem Wannsee und etwas später im Ballsaal Kopernikus eine vergleichbare Dynamik entwickeln würde. Seine Verwandtschaft immerhin gab sich die allergrößte Mühe.
Marians Halbbruder Colin hatte seine fünfeinhalbjährigen Zwillingstöchter respektvollerweise einer Babysitterin überlassen, sodass Colin und seine Frau Lucia als tatsächliche Bestattungsgäste anwesend waren, und mal nicht als diese raumgreifende Familienperformance, die ständig alles andere unter sich begrub. Marian fand, dass Colin und Lucia, die ihm seit Jahren nicht mehr zu zweit begegnet waren, in ihren dunkelgrauen Hosenanzügen und mit den leicht erschöpften Gesichtern und mit den Salzbrezeln in der Hand so liebenswert aussahen wie noch nie.
Marians Halbschwester Teda, die gerade von einer zehntägigen Australientournee zurückgekehrt war, trug einen Fischerhut aus dunklem Nylon, der bei den meisten anderen Personen unfreiwillig komisch ausgesehen hätte, der Teda aber wahnsinnig gut stand. Seiner Mutter wäre dieser Hut positiv aufgefallen - davon war Marian überzeugt, denn seine Halbschwester war vielleicht die einzige Person, die Fischerhüte überhaupt noch tragen konnte - und womöglich hätte Carolina das sogar erwähnt, um Teda nach den zehrenden Gigs in Sydney und Brisbane ein gutes Gefühl zu geben, und Teda wäre geschmeichelt gewesen, von Carolina Flanders ein Kompliment zu erhalten. Und so wäre das Eis zwischen den beiden vielleicht gebrochen. Die Einsicht, dass es dafür nun endgültig zu spät war, hätte Marian eine Woche zuvor sicherlich noch zum Weinen gebracht, doch ausgerechnet am Tag der alternativen Seebestattung fühlte er sich so stabil wie lange nicht. Er hielt eine kleine Flasche Mineralwasser in der Hand und lächelte.
Wie viele Jahre Carolina bereits an ihrer mysteriösen Krankheit gelitten hatte, wusste sehr wahrscheinlich nur ihre Hausärztin Selin Odün. Für Selin, die erst Mitte dreißig war, aber schon seit vier Jahren eine eigene Praxis leitete, hatte Carolina so offensiv geschwärmt wie für niemanden sonst.
»Darf ich dir etwas Sonnenmilch anbieten?«, fragte Selin kurz nach der Begrüßung, ihr Blick war wiederholt zu Marians geröteter Stirn hinauf gewandert.
»Dafür könnte es schon zu spät sein«, sagte Marian. Aber die feingliedrige Selin, die ein bleigraues Jackett mit überlangen Ärmeln trug, reichte ihm das Sonnenmilchspray dann trotzdem.
Marian war Selin bislang nur ein einziges Mal begegnet, eineinhalb Jahre vor diesem Tag, in Carolinas Wohnzimmer. Die junge Medizinerin hatte ihrer mutmaßlichen Lieblingspatientin zwei Rezepte persönlich vorbeigebracht und musste dann auf einen Tee, den Carolina extra aufgesetzt hatte, aus Zeitmangel verzichten. In den kurzen Momenten ihres Aufenthaltes beschrieb Selin die Funktion der neu verschriebenen Tabletten so kristallklar und verständlich, dass Marian das Gefühl bekam, sie wisse auch auf Fragen, die nicht direkt etwas mit Gesundheit zu tun hatten, lebensbejahend-pragmatische Antworten.
»Sprüht man sich das besser zuerst in die Hände oder direkt auf die Stirn?« Ohne Selins Antwort abzuwarten, sprühte sich Marian die Sonnenmilch in die Hände.
Selin: »Deine Augen erinnern mich an Carolina.«
Marian: »Das könnte Projektion sein. Ich sehe ihr gar nicht so ähnlich.«
Selin: »Ich finde, du siehst ihr sehr ähnlich.«
Marian: »Danke.«
Marian war es peinlich, dass er sich bedankte. In seiner Jugend hatte er sich nie sonderlich attraktiv gefühlt, erst mit Anfang zwanzig war spürbar geworden, dass sich einige Frauen und Männer doch zu ihm hingezogen fühlten, was aber, davon ging er aus, eher an seinem freundlichen Verhalten lag und weniger an seinem Gesicht. Marian vermutete, dass er seine passiv-abwartende Art durch die schlichte Nachahmung seiner Mutter entwickelt hatte. Weil seine Passivität aber mit deutlich weniger Geheimnis und Glanz einherging als die Passivität seiner Mutter, versuchte er diesen Mangel durch eine ausgeprägte Höflichkeit auszugleichen.
»Carolina hat oft von dir erzählt«, sagte Selin und ließ das Sonnenmilchspray wieder in ihrer Jacketttasche verschwinden. »Vielleicht haben wir später noch mehr Gelegenheit, zu sprechen. Ich bin dankbar, dass ich hier sein darf.«
»Danke, dass du gekommen bist.«
Pünktlich um 19 Uhr 30 stand Marians Vater an Deck seines Schiffes, das einstmals als kommerzieller Partydampfer genutzt worden war, und winkte auf eine Weise, die man durchaus zu fröhlich finden konnte. Dass irgendwer Marians Vater einen Vorwurf machen würde, war jedoch weitgehend ausgeschlossen. Als Sprecher der ARD-Tagesthemen hatte Milo Coen ein halbwegs gebildetes Millionenpublikum durch die Newsgegenwart der Jahre 1997 bis 2014 begleitet, und es war immer spürbar gewesen, dass ihn diese News aus Deutschland und anderen Teilen der Welt auch persönlich tangierten. Realistisch betrachtet könnte Milo Coen der heimliche Schwarm von zwei bis drei, vielleicht auch von fünf bis sechs Millionen deutschsprachigen Frauen gewesen sein, sowie von vielleicht achthunderttausend schwulen Männern, wenn das nicht zu niedrig gegriffen war, weil Milo zwar nicht makellos, aber absolut charismatisch aussah und weil ihn seine latent rheinländische Sprachmelodie wohltuend von der Sterilität anderer Nachrichtensprecher abhob. Trotz seiner immensen Beliebtheit hatte Milo Coen - davon war sein Sohn Marian überzeugt - nie aufgehört, seine Expartnerin Carolina zu lieben. Sie war definitiv nicht der Mensch, mit dem Milo die glücklichste aller Zeiten verbracht hatte, aber wohl die Zeit, die er mit dem intensivsten Gefühl assoziierte. Eine so unbedingte Anziehung wie die zu Carolina - das hatte er Marian kurz nach dessen achtundzwanzigsten Geburtstag gestanden - hatte Milo nie davor und nie mehr danach erlebt. Marian hatte dieses Gespräch in einem thailändischen Restaurant zwar als durchaus unangenehm empfunden, löste es doch Kindheitserinnerungen an verstörende Atemgeräusche seiner Eltern aus, auf dem nächtlichen Weg ins Badezimmer, aber das Geständnis seines Vaters, dass eben seine Mutter, und nicht etwa die Mutter seiner Halbgeschwister oder irgendeine geheime Affäre, der Crush seines Lebens gewesen sei, machte Marian insgeheim stolz. Er war das ungeplante Ergebnis der immensen Anziehung zweier Menschen, die wie ein glamouröser Gegensatz wirken mochten - die unnahbare Modeikone der späten Siebziger und das freundliche Nachrichtengesicht der Zweitausender -, ein ständig streitendes Duo, das aber wirklich aufeinander geflogen war.
Carolinas Asche sollte von ihrer Nachbarin Irma auf den See gestreut werden. Irma war es auch gewesen, die Marian am Vormittag des dritten Juni angerufen hatte. Marian hatte noch im Bett gelegen und von einer mündlichen Abiturprüfung im Wahlpflichtfach Geschichte geträumt, die er mit Anfang vierzig freiwillig wiederholte, um nachträglich sein Abitur aufzubessern. Während dieses Traums konnte Marian wie selbstverständlich auf ein immenses Wissen über das 18. und 19. Jahrhundert zugreifen und stellte diverse Querverbindungen zur Gegenwart her, über die seine Prüferinnen, von der eine in Wahrheit seine Vermieterin war, begeistert lachten. Doch als Marian, vom Telefonklingeln aus diesem Traum gerissen, auf seinem iPhone 13 mini den Namen Irma C. las, war er sofort hellwach. Marian hatte sich manchmal telefonisch bei Irma erkundigt, wenn er seine Mutter nicht direkt erreicht hatte, aber ihrerseits angerufen hatte Irma ihn nie. Als sie ihm mit ruhiger Stimme mitteilte, dass Carolinas Hausärztin den Eintritt des Todes auf halb elf am Vorabend schätzte, überkam Marian zuallererst ein tiefes...
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