Schweitzer Fachinformationen
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DIE SONNE WAR KALT AN DIESEM Morgen, der Kessel weigerte sich, das Wasser zu kochen, und als Sadie Revelare das Feuer entfachte, stieg ihr der Geruch alter Erinnerungen in die Nase. Selbst die Standuhr, die normalerweise stillstand, stieß zehn traurige Töne aus. Es klang wie das Keckern einer Elster.
Ein Zeichen, das ich nicht missachten darf.
Sadie warf der Uhr einen verärgerten Blick zu und trat gegen ihren Sockel. Prompt schwang das goldene Pendel hin und her wie ein mahnender Zeigefinger. Sadie bekreuzigte sich mit einer Zimtstange und zertrat sie anschließend mit dem Stiefelabsatz auf der Veranda. Das sollte genügen.
Wieder im Haus, hallte ihr die Stille wie ein milder Vorwurf entgegen. Gigi war bereits zur Arbeit gefahren, und Seth war nun schon fast ein Jahr fort. Nicht dass sie die Tage gezählt hätte. Diesen Triumph gönnte sie ihrem Zwillingsbruder nicht. Als sie sich im Bad das Gesicht wusch, fiel ihr Blick auf den Zahnputzbecher. Eine einsame Bürste.
Vor langer Zeit hatte sie von einem eigenen Haus geträumt, von einem Zahnbürstenpaar, ja vielleicht sogar von Zahnpastaspritzern auf dem Spiegel, weil sich ein Kind zu dicht davor die Zähne geputzt hatte. Aber das mit der Liebe hatte sie schon vor langer Zeit aufgegeben, ihr Fluch machte es unmöglich. Manche Menschen brauchten Blumen und schöne Worte. Sadie brauchte Ehrlichkeit und Versprechen, die eingehalten wurden. Sie machte sich fertig, und als sie mit einer Tasse Kaffee in der Hand aus der Haustür trat, schlug die Standuhr schon wieder.
»Ich hab mich schon drum gekümmert!«, brüllte sie ins Haus hinein.
Doch das war nicht alles. Auf der kurzen Fahrt zur Arbeit musste sie zweimal ausweichen: zuerst einer Schlange auf der Straße, dann einer Krähe, die beinahe gegen ihre Windschutzscheibe geflogen wäre. Sadie schauderte. Das alles waren Vorboten von Veränderung und Tod. Dennoch musste sie zur Arbeit. Das Geschäft blieb durch böse Omen nicht stehen. Im Gegenteil - sie beflügelten es.
Die Bäume an der kurvenreichen Straße zeigten ihre volle herbstliche Pracht, und Sadie kurbelte das Fenster herunter. Die frische Luft küsste ihr Gesicht, als sie den Duft von Laub und moosigen Felsen inhalierte. Dann sah sie noch etwas anderes. Schwemmsand.
»Nein, nein, nein.« Sie trat fester aufs Gaspedal und brauste schneller, als sie sollte, um die letzte scharfe Kurve, hinter der die Two Hands Bridge in Sicht kam.
Obwohl es nicht geregnet hatte, war die Brücke überflutet. Zwar nur ein bisschen, aber es war nicht zu übersehen. So sicher wie das Amen in der Kirche war das - nach der Uhr und den Tieren auf der Straße - das dritte böse Omen an diesem Morgen. Selbst die Leute im Ort, die nicht an Magie glaubten, wussten, was eine Überschwemmung bedeutete: Jemand kehrte zurück.
Sadie drosselte das Tempo, und die Reifen rauschten durch das schlammige Wasser. Ihre Finger umklammerten das Lenkrad so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten.
Cindy McGillicuddy, die ein paar Häuser weiter wohnte, drosselte ebenfalls die Geschwindigkeit, als sie sich in ihrem Allrad-Truck näherte, auf dessen Ladefläche sie ein Dutzend Heuballen für ihre Pferde transportierte. Sie kurbelte ihr Fenster herunter und deutete auf die Brücke.
»Hochwasser, obwohl es nicht geregnet hat«, bemerkte sie wissend. Sie war eine nüchterne Frau von einem Meter achtzig mit den definierten Muskeln einer Landwirtin. Und sogar sie war besorgt wegen der Überschwemmung.
»Ich weiß.« Sadie seufzte.
»Vielleicht kommt ja dein Bruder zurück«, sagte Cindy hoffnungsfroh. »Wäre das nicht schön?«
Sadie zwang sich zu einem Lächeln. Klar. Schön wär's. »Vielleicht. Na ja, wird schon alles gutgehen.«
Sadie fuhr in dem Wissen davon, dass sich die Neuigkeit dank Cindy wie ein Lauffeuer verbreiten würde. Sie nahm ihre Rolle in der Stadt sehr ernst. Sie hatte es sich zur Aufgabe gemacht, überall ihre Finger im Spiel und alles im Blick zu haben, und wer Hilfe oder Informationen brauchte, wandte sich zuerst an sie. Cindy mischte sich immer und überall ein, aber sie tat es so unbemerkt wie eine gute Fee, die bedürftigen Familien heimlich Essen vor die Tür stellte oder älteren Nachbarn Feuerholz brachte, weil sie selbst keins mehr hacken konnten.
Alles okay, beruhigte Sadie sich selbst. Alles wird gut.
Sie hasste diese Floskel. Sie war wie ein Pflaster, wie eine Pille, deren zuckrige Hülle die Bitterkeit überdecken sollte. Alles okay sagte man immer dann, wenn gar nichts okay war. Aber Sadie musste für Ordnung sorgen, sonst würde alles aus dem Ruder laufen. Sie bewegte sich so oft auf dem schmalen Grat zwischen dem, was man von ihr erwartete, und dem, wie sie wirklich war, dass die Grenzen verschwammen und sie manchmal vergaß, wer sie eigentlich sein wollte. Die Leute in der Stadt hatten Erwartungen an sie. Und die wollte sie so oft wie möglich übertreffen.
Ihre Finger kribbelten vor Angst. Jemand kehrte zurück.
Wer, wer, wer? Die Frage hallte in ihrem Kopf wider, als sie vor A Peach in Thyme ankam, dem Café, das ihr gemeinsam mit ihrer Großmutter gehörte. Der Tag war noch nicht einmal gänzlich erwacht, doch ihre Gedanken waren bereits in einem Hamsterrad gefangen. Das Wörtchen Wer wiederholte sich in ihrem Kopf wie das konstante Tropfen von Wasser. Um sich abzulenken, begann sie, drei Bleche Möhrenkekse mit Frischkäse-Glasur zuzubereiten. Der Ingwer darin sollte Demut lehren, Karotten führten zu den Wurzeln zurück.
Vielleicht dachte Sadie an ihren Bruder, vielleicht auch nicht. Jedenfalls lief alles so reibungslos wie immer. Die Küche war warm und tröstlich wie eine Umarmung, und der Geruch des Ofens versicherte ihr, dass wirklich alles gut werden würde. Sie gab sich den Geräuschen hin. Das Tschick vom Schneebesen an der Metallschüssel, das Scheppern des Backblechs auf der Arbeitsfläche, das Flappen des Küchentuchs, das sie sich über die Schulter warf. Die Wiederholung und das Ritual besänftigten ihr hartnäckiges Gedankenkarussell. Die aufdringlichen Sorgen verschwanden, als sie sich im gewohnten Rhythmus der Arbeit verlor.
Doch das erste Blech Kekse erwies sich als so scharf, dass Sadie das erste Stückchen, das sie abbiss, in die Spüle spucken musste. Dann setzte ein Kribbeln in ihren Zehen ein, das sich nach oben zu schlängeln begann. Sie versuchte, es loszuwerden, indem sie ein wenig Ingwer über die Schulter warf und sich Lavendelöl hinter die Ohren tupfte, aber es hörte nicht auf. Die Rituale zeigten keine Wirkung. Und immer wieder tauchten die Bilder vor ihrem inneren Auge auf: Die zum Leben erwachte Standuhr. Die Schlange und die Krähe auf dem Weg hierher. Der über die Ufer getretene Fluss.
»Regel Nummer sechs«, sagte Sadie leise.
Es war eines der unglückseligen Prinzipien, die ihre Großmutter ihr seit ihrer Kindheit eingebläut hatte: Sieben böse Omen nacheinander bedeuteten, dass ein Albtraum im Anmarsch war. Und sie war gerade bei Omen Nummer vier angelangt.
Sadie hatte die Regeln der Revelare-Magie von ihrer Großmutter gelernt, bei der sie aufgewachsen war. Ihre plumpen Kinderfingerchen hatten Regenwürmer ausgebuddelt, während Gigi ihr erklärt hatte, warum Senfsaat dabei half, über Gefühle zu reden, und wie Sternanis Menschen miteinander verbinden konnte. Der süße Duft von Mandarinenschale hatte dabei die Luft durchzogen, und Sadies kleine Fingernägel waren dauerhaft orange gefärbt gewesen.
Stets hatte Gigi sie darauf hingewiesen, dass ihre Kreationen zu ihnen sprachen. War man verliebt, neigten Pies und Tartes dazu, zu süß zu werden. Wenn das Essen langweilig schmeckte, brauchte es mehr Abenteuer im Leben. Und wenn eine Nachspeise anbrannte - tja, dann bahnte sich ein Unglück an.
Sadie lauschte diesen Lektionen zwischen Runkelrüben und Duftwicken, sog begierig jedes Wort auf und ließ es in ihrem Herzen Wurzeln schlagen. Sie wuchs in dem vollkommen unbelasteten Wissen auf, dass sie seltsam war, und wand die Magie um sich herum wie Bänder um einen Maibaum.
Und nun verdiente sie genau damit ihren Lebensunterhalt. Eine Prise Träume in den Rührteig, ein kleiner Tropfen Hoffnung zwischen die Knethaken. Die Magie strömte schon so lange durch ihre Adern, dass sie ein Teil von ihr geworden war. Wie bei einem Blätterteig ließen sich die einzelnen Schichten unmöglich voneinander trennen.
Gigi war vorne im Café und »werkelte herum«, wie sie es nannte. Sadie hörte das Rascheln der Plastikfolie, die von Krügen genommen wurde, und das Klink der Einmachgläser, die aneinanderstießen. Die üblichen kleinen Geräusche des Cafés, die sich zu einer Symphonie zusammenfügten.
Sadie holte das zweite Blech Kekse aus dem Ofen, die diesmal auf den Punkt gewürzt waren. Ihr Duft beschwor süße Kindheitserinnerungen herauf und würde schon bald die ersten Kunden in das Café locken. Gläser mit frischem Lavendel und Butterblumen schmückten bereits die Tische, und die Dose mit Ingwerzucker stand neben dem Kännchen mit Haselnuss-Sahne bereit.
In der Vitrine türmten sich Orangen-Croissants, die mit kandierter Schale bestreut waren. »Für Begeisterung, Aufmunterung und Erfolg« war auf dem Schildchen davor zu lesen. Vor den Obst-Basilikum-Törtchen daneben, die...
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