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Sie haben gesagt, ich müsse meine Geschichte erzählen, das sei der einzige Weg, davon loszukommen. Nicht, dass meine Geschichte so besonders wäre, sie fordern jeden dazu auf. Es gehört zu ihren Leitsätzen. Wenn sie darüber reden, klingen sie wie trockene Alkoholiker oder Ex-Junkies, und viele von ihnen sind genau das; ehemalige Süchtige, die mit dem Trinken oder mit den Drogen aufgehört und stattdessen mit dem Essen angefangen haben.
Aber ich weiß nicht, wie ich erzählen soll, was Essen für mich war. Ich fürchte, ich habe keine Sprache dafür. Ich glaube, diese Erzählung wird mich nicht so befreien, wie sie glauben, befreit worden zu sein, und ich will vor allem keine schöne Geschichte daraus machen.
Tu es trotzdem, sagen sie.
Also versuche ich es.
Ich sehe eine Mandarine vor mir.
Das ist das Erste. Die Mandarinen. Winter, Zitrusfrüchte-Saison, ich muss ungefähr drei Jahre alt gewesen sein. Es war mitten am Tag, draußen war es noch hell, und auf dem großen weißen Tisch lagen die Mandarinen, vielleicht dreizehn, vielleicht auch mehr, aber dreizehn ist die Zahl, die ich seither nicht mehr aus dem Kopf bekomme. Sie leuchteten flammend orange in unserer sonst weißen Küche.
Ich war allein dort, auf dem Boden vor dem Tisch, in der Wohnung war es still. Meine Mutter arbeitete in ihrem Zimmer, wie immer am Wochenende, wenn keine ihrer Freundinnen vorbeikam, um Kaffee zu trinken oder um den nahe gelegenen See zu spazieren. Ich erinnere mich daran, wie ich auf einen der Stühle kletterte, über die weiße Tischplatte nach einer Mandarine griff, sie in die Hand nahm. Ich hielt meine Nase daran, sog den Duft ein, streckte meine Zungenspitze hinaus und streifte die glatte Schale. Sie war so bitter, dass meine Zunge zurückschnellte wie ein kleines Tier in seine Höhle. Dann grub ich meine Nägel in die Mandarinenschale und roch die herben Aromen der austretenden Feuchtigkeit. Erst pulte ich ein Stückchen Schale ab, um die nackte, saftige Frucht darunter zu fühlen, dann einen langen Streifen. Und noch einen, und dann noch einen. Als ich die Schale komplett entfernt hatte, löste ich zwei zusammenhängende Spalten heraus, die aussahen wie aufeinandergelegte Lippen. Ich trennte sie voneinander, zupfte das dünne weiße Netz ab, das sie umspannte, legte mir eine der Spalten zwischen die Zähne und biss zu, so dass der Saft herausspritzte, kühl und erfrischend. Die Süße erfüllte nicht nur meinen Mund, sondern mein ganzes Ich, die ganze Küche, in der ich saß.
Ich kaute und schluckte, schob mir das zweite Stück in den Mund und biss zu, betastete die Fasern des Fruchtfleisches mit der Zunge, wühlte mit der Zungenspitze nach Resten in der Haut und saugte sie aus, ehe ich eine weitere Spalte nahm und die Prozedur wiederholte, und dann noch eine. Ich kaute, verschluckte mich an dem Saft und musste husten und mich räuspern, doch dann aß ich weiter, und nachdem ich die erste Mandarine ganz verspeist hatte, streckte ich mich über den großen weißen Tisch nach der zweiten.
Etwas Neues, Unbekanntes zitterte und brannte in mir. Ich aß eine Mandarine nach der anderen, und als keine mehr übrig war, verschwand der Rausch genauso schnell, wie er gekommen war. Eine große Farblosigkeit und Mattheit befielen mich. Ich starrte vor mich auf den Tisch, der auf einmal so anders aussah, dort, wo gerade noch die vielversprechenden runden Früchte gelegen hatten, war nur noch ein unordentlicher Schalenhaufen. Meine Finger waren klebrig, eine frische Zitruswolke umhüllte mich. Noch immer war ich allein in der Küche. Ich hatte eine Mandarine probieren wollen und dann alle auf einmal gegessen. Ich ganz allein hatte das getan, und trotzdem konnte ich mir kaum erklären, wie es dazu gekommen war.
Am anderen Ende der Wohnung wurde plötzlich die Zimmertür geöffnet. Hastig sammelte ich die Schalen ein und kletterte vom Stuhl, um sie irgendwie loszuwerden. Meine Mutter hatte so glücklich ausgesehen, als sie mit der Einkaufstüte nach Hause gekommen war. Sie hatte erklärt, Mandarinen gehörten zum Winter, und ich würde sie bestimmt mögen. Ein Streifen Schale landete auf dem Boden, und als ich mich umdrehte, sah ich, dass ich noch weitere verloren hatte, meine Hände waren einfach zu klein. Meine Mutter trat mit ihrer Teetasse in die Küche. Zu Hause trank sie immer Tee.
Was hast du gemacht?, fragte sie. Ich wusste nicht, was ich antworten sollte, versuchte nur, die Mandarinenschalen zu beseitigen, die wie eine Spur hinter mir auf dem Boden lagen. Hast du etwa alle Mandarinen aufgegessen?
Ich konnte nichts sagen.
Sie sah mich an, und als ich noch immer nichts sagte, bückte sie sich, hob die restlichen Schalen auf und warf sie in den Müll, ehe sie die Kanne von der Arbeitsfläche nahm, um sich Tee nachzuschenken.
Ich ging in mein Zimmer, um mit meinen Dosen zu spielen. Wenn man den Deckel öffnete und die Nase hineinsteckte, hingen noch die Aromen von Teeblättern darin, Jasmin, Zitrone, Muskattraube und Osmanthus. Meine Mutter hatte mir alle Düfte und Namen beigebracht, das schien ihr zu gefallen, aber gleichzeitig bemerkte ich bei ihr auch eine Irritation darüber, wie intensiv ich bestimmte Düfte wahrnahm und wie mich manche Gerüche, die anderen nichts ausmachten, in die Verzweiflung treiben konnten.
Ich reihte die Teedosen hintereinander auf, baute erst eine Mauer und dann einen Turm damit. Nach einer Weile spürte ich einen Juckreiz, es kribbelte und kratzte an meinen Beinen und an der Innenseite meiner Oberschenkel, und als ich meine dicke Strumpfhose auszog, um besser an die juckenden Stellen heranzukommen, entdeckte ich große rosarote Flecken, die sich auf meiner Haut ausgebreitet hatten. Meine Nägel hinterließen lange weiße Striemen, das Kratzen tat gut, aber je mehr ich kratzte, desto schlimmer wurde das Jucken, ich spürte es jetzt auch am Hals, an den Armen und an den Händen.
Ich schälte mich aus dem Pullover, zog mich bis auf die Unterhose aus, ich kratzte weiter, es wurde immer schlimmer. Als ich es nicht mehr aushielt und nicht wusste, was ich noch tun sollte, rannte ich durch den Flur zu meiner Mutter, obwohl ich wusste, dass ich sie nicht stören durfte. Ich ging über ihren dicken weißen Teppich in ihre Richtung, sie saß gebeugt am Schreibtisch, vor sich die Schreibmaschine und all ihre Papiere neben einem Teller mit ein paar Kekskrümeln und ihrer Tasse, die innen dunkel war vom Tee. Mama, sagte ich, und sie brummelte irgendetwas, ohne den Blick von ihrer Arbeit zu heben. Ich stellte mich direkt hinter sie und brach in Tränen aus, vielleicht zwang ich sie auch absichtlich hervor, um auf mich aufmerksam zu machen und ihr zu zeigen, dass ich einen guten Grund hatte, sie beim Schreiben zu stören.
Sie schnellte mit dem Stuhl herum, erschrak, als sie meinen Ausschlag sah, und stand sofort auf. Ihr besonderer Duft und ihre Wärme umhüllten mich, als sie mich hochnahm, in ihr Bett legte und sich neben mich setzte. Ich liebte all ihre Gerüche. Im Winter, wenn sie sich mit der Kälte mischten, waren sie am schönsten, und ich sehnte mich immer danach; Leder, Zigarettenrauch, das Parfüm, das in ihrem Wolfspelzmantel hing, wenn sie mich abholte, die Gerüche ihrer Haut und ihres Körpers, wenn sie zu Hause war. Ich betrachtete uns im Spiegel neben dem Schreibtisch, in dem sie sich immer ansah, bevor sie ausging. Was ist das, fragte sie mit einer Stimme, die anders klang als sonst, unsicher und ein wenig schrill statt tief und sanft. Was hast du gemacht? Sie starrte auf den Ausschlag, und ich erinnere mich, dass es mir so vorkam, als würde ich meinen eigenen Körper verlassen, als würde auch ich mich nur noch von außen sehen, genau wie sie.
Sie legte die Hand auf meine Stirn und sagte, ich hätte Fieber, und dann hob sie das große schwere Telefon vom Boden auf ihren Schoß, es gab ein leises, schepperndes Schrillen von sich. Aus dem Stapel unter ihrem Nachttisch zog sie ein Telefonbuch hervor, legte es neben sich auf das Bett, suchte eine Nummer heraus und wählte sie. Dann setzte sie sich mit dem Hörer in der Hand neben mich, die Telefonschnur ringelte sich an ihren nackten Beinen hinab nach unten, ihre Haut war warm und sommersprossig, und ihr Geruch umgab sie wie ein ganz eigener Raum, den ich so gern betreten und nie wieder verlassen hätte. Den ganzen Vormittag über hatte sie in dem langen T-Shirt gearbeitet, in dem sie auch schlief, und keine Zeit gehabt, sich etwas Ordentliches anzuziehen. Sie hatte auch eine andere Arbeit, am Wochenende widmete sie sich ihrer Nebentätigkeit. Das andere war ihr Brotjob, wie sie es nannte.
Ich wälzte mich auf dem Bett zwischen den Decken, während sie mit jemandem telefonierte, der ihr Fragen stellte und dem sie Fragen stellte, wie es dazu kommen könne, ob es gefährlich sei, was man dagegen tun müsse. Dann ging sie in die Küche und holte eine Salbe aus der Hausapotheke im Putzschrank. Nachdem sie all meine juckenden Quaddeln eingecremt hatte, strich sie mir über das Haar und sang mir etwas vor, bis ich einschlief.
Im Nachhinein kann ich mich nicht erinnern, dass sie wütend gewesen war, weil ich alle Mandarinen aufgegessen und so das Nesselfieber ausgelöst hatte. Ich erinnere mich nur an den Geschmack, die Süße in meinem Mund, wie sehr sie mich überwältigte. Ich glaube, es war das erste Mal, dass ich vom Essen verwandelt wurde, aber sicher bin ich mir nicht. Es taucht nur als Erstes in meinem Gedächtnis auf, wenn ich mich erinnere, und ich weiß, die eigene Erinnerung ist unzuverlässig und subjektiv. Es ist eben nur eine Erinnerung - ein Widerschein oder Echo vergangener Zeiten, ein Bild oder eine Szene, die mit jeder Vergegenwärtigung weiter verzerrt...
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