Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Das Erste, was mir in Erinnerung blieb, war ein Gefäß aus lasiertem Ton, voll mit Pitomba-Früchten, hinter einer Tür versteckt. Ich weiß weder wo noch wann ich es gesehen habe, und hätte sich dieses weit zurückliegende Ereignis nicht zum Teil mit einem anderen, späteren, vermischt, hielte ich es für einen Traum. Vielleicht entspricht meine Erinnerung an dieses Gefäß nicht einmal der Wirklichkeit, möglicherweise habe ich es nur so schlank und glänzend vor Augen, weil ich anderen davon erzählt habe und sie mir dieses Bild bestätigten. Somit handelt es sich also nicht um die ursprüngliche Erinnerung an einen besonderen Gegenstand, sondern um eine Erinnerung aus zweiter Hand, zustande gekommen durch Dritte, die ihr Form und Inhalt verliehen. Jedenfalls muss es diese Sinneswahrnehmung tatsächlich gegeben haben. Damals brachte man mir den Begriff »Pitomba« bei – und folglich waren alle runden Gegenstände für mich Pitombas. Später erklärte man mir, diese Verallgemeinerung sei falsch, was mich verwirrte.
Die dicken Wolken, die mich umgaben, rissen ein zweites Mal auf. Ich nahm viele Gesichter wahr, Worte ohne Sinn. Wie alt mag ich gewesen sein? Den Berechnungen meiner Mutter nach zwei, drei Jahre. Die Tatsache, dass ich mich an eine Stunde oder einige Minuten aus meiner frühen Kindheit erinnere, bedeutet nicht, dass ich mein Gedächtnis für gut hielte. Nein. Es war, soweit ich weiß, eher durchschnittlich. Ich glaube, inzwischen ist es ausgesprochen schlecht. Aber an jene weit zurückliegende Stunde, an jene Minuten erinnere ich mich genau.
Ich befand mich in einem großen Raum mit schmutzigen Wänden. Bestimmt weniger groß, als ich damals annahm. Ich habe später ähnliche Räume gesehen, alle gleich eng und schäbig. Und doch schien mir der Raum riesig. Vor ihm erstreckte sich ein Hof, ebenfalls riesig, und hinten im Hof wuchsen riesige Bäume, voller Pitombas. Jemand erklärte mir, die Pitombas seien Orangen. Diese Richtigstellung gefiel mir nicht: Orangen, ich hatte sie wahrscheinlich schon gesehen, sagten mir nichts.
In dem Raum waren viele Menschen. Ein Alter mit langem Bart thronte an einem schwarzen Tisch, und mehrere Kinder, auf Bänken ohne Lehne, hielten Blätter in der Hand und plärrten:
»Ein B und ein A – b, a : ba; ein B und ein E – b, e : be.«
Und immer so fort bis zum U. In den Volksschulen auf dem Land habe ich die unterschiedlichsten Buchstabiergesänge gehört. Aber keinen wie diesen, und seine besondere Melodie, die Buchstaben und die Pitombas sagen mir, dass der Raum, die Orangenbäume, die Bänke, der Tisch, der Lehrer und die Schüler wirklich existiert haben. Ich sehe alles deutlich vor mir, sehr viel deutlicher als das Gefäß. Neben dem Bärtigen stand ein hochgewachsenes Mädchen, das nach und nach die Züge meiner natürlichen Schwester annehmen sollte, es hielt ein Heft in den Händen und sagte klagend:
»A, B, C, D, E.«
Dann war ich plötzlich anderswo, im hinteren Teil eines Hauses, wie ich aber dorthin gelangt war, oder wer mich dorthin gebracht hatte, weiß ich nicht. Zwei, drei Gestalten gingen hinunter in den Küchengarten, dessen Erde rot war und feucht, jemand rutschte aus und riss eine tiefe Furche. Man bedeutete mir zu kommen. Ich weigerte mich: Die Stufe zwischen mir und dem Boden war zu hoch für meine Beine. Man nahm mich auf den Arm – ich schlief ein, vermied so die Berührung mit dem roten Lehm. Ich wachte in einer Art Küche auf, unter einem niedrigen Dach aus Stroh, zwischen Männern in weißen Hemden. Einer wollte wissen, wie man Stockfisch brät, und ein anderer antwortete:
»Du nimmst Holz und machst einen Rost.«
Rost? Was war das, ein Rost? Ich schlief wieder ein, schlief lang und tief.
Später sagte man mir, die Schule habe uns auf einer Reise als Unterkunft gedient. Wir hatten die kleine Stadt, in der wir im Bundesstaat Alagoas lebten, verlassen und waren in den Sertão von Pernambuco gekommen, mein Vater, meine Mutter, meine zwei Schwestern und ich. Aber Vater und Mutter, mir nahe und herrische Wesen, die beiden Schwestern, die eine unehelich und älter, die andere rechtmäßig, ehelich und zwei Jahre jünger als ich, waren reglose Flecken. Die Pitombas jedenfalls gab es, und ebenso das schlanke Tongefäß, verborgen hinter etwas, das sich bewegte und dem meine Erfahrung den Namen Tür zuordnete. Mit einem Mal waren sie da: der große Raum, der Alte, die Kinder, das Mädchen, Bänke, Tisch, Bäume, Männer in weißen Hemden. Und mit ihnen seltsame Laute: Buchstaben, Silben, geheimnisvolle Wörter. Sonst nichts.
Mein Winterschlaf dauerte fort, eine Starre, nur selten unterbrochen durch ein Aufschrecken, das mir heute vorkommt wie Risse in einem schwarzen Stoff. Risse, durch die zögernd Gestalten treten: Amaro, der Viehhirt, ein trauriger Caboclo in einem abgewetzten Lederwams; Sinhá Leopoldina, seine Gefährtin, prächtig anzusehen in ihrem blutroten Kattun; Pfeife rauchende Frauen. Und, deutlicher als alle anderen, ein stolzer und stattlicher Bursche, heiter, mit hellen Augen. In Binsenschuhen und dem weißen Baumwollhemd der armen Leute des Nordostens, aus grobem Stoff, schmutzig, meist offen getragen und die Zipfel der Seitenschlitze je zu einem Knoten gebunden. Er hieß José Baía und wurde mein Freund, er verstand sich aufs Lärmen, auf Lautmalereien, das Nachahmen von Stimmen und schallendes Gelächter. Saß er, zog er mich auf seine Knie, ahmte mit den Füßen den Galopp eines Pferdes nach und schüttelte mich durch; stand er, nahm er mich bei den Armen, drehte sich im Kreis und sang:
Ich bin ein Siebenmonatskind,
Hab nie die Mutterbrust gesehn.
Hab Milch von hundert Küh’n getrunken
Am Tor zu unserm Pferch.
Setzte er mich wieder ab, war ich benommen, torkelte. Als ich einmal nach den schwindelerregenden Drehungen davonstolperte, stieß ich gegen einen Pfeiler und zog mir eine dicke Beule am Kopf zu.
Aus dieser Zeit stammen meine ältesten Erinnerungen an eine Umgebung, in der ich heranwuchs wie ein kleines Tier. Bis dahin hatte ich nur wenige Menschen wahrgenommen, und dies eher bruchstückhaft, im Grunde lebten sie alle außerhalb meines Gesichtskreises. Sie begannen nach und nach in Erscheinung zu treten, was mich verstörte. Zeigten sich da und dort, aber ohne jede Kontinuität. Diffuse Punkte, Inseln, die in der Leere meines Universums Kontur annahmen.
Den Klauen José Baías entkommen, brachte mir der heftige Aufprall mit dem Kopf das Vordach ins Bewusstsein; es ruhte auf stabilen Pfosten aus Pfeffer- oder Sucupiraholz. Unmittelbar dahinter lag der Wohnraum mit seinen stets geschlossenen Fenstern, Feuerwaffen und Landwirtschaftsgeräten in den Ecken, Zaumzeug an Haken, Spinnweben, der Hängematte in ihren Holzhalterungen und plumpen, grünen Kisten, in denen wir, wenn ich nicht irre, Getreide aufbewahrten. Vom Flur gingen das Esszimmer und enge, dunkle Kammern ab. Die Küche ist aus meiner Erinnerung verschwunden, nicht aber der dazugehörige Garten: kahler, nackter Boden, ohne Blumen, ohne Grün; als einzige Zierde, ganz hinten, neben dem Abfallhaufen, ein Ginsterbusch, wunderbar zum Versteckspielen. Auf dieser Seite endete die Welt für mich am Ginsterbusch. Auf der anderen dehnte sich das Land endlos. Das Haus, solide gebaut, war von innen vollkommen. Von außen eher eigentümlich. Die linke Wand war unglaublich hoch, die rechte hingegen fehlte, ich weiß nicht, wie sich das Dach überhaupt halten konnte. Vielleicht verdeckten angrenzende Pferche und Schweineställe eine der Wände. Pferche und Schweineställe sind in meiner Erinnerung verblasst.
Einmal, während eines heftigen Wirbelsturms, sah ich Sonderbares. Staubwolken gerieten heftig aneinander, es wurde dunkel, ein Geräusch kam auf, anders als die anderen, wurde lauter, breitete sich aus, und inmitten dieses furchtbaren Durcheinanders zerriss eine Rinderhaut den Riemen, mit dem sie an einem Ast befestigt war, und flog davon. Eine hagere, schemenhafte Gestalt, meine Mutter, versuchte verzweifelt, eine im Wind schlagende Tür zu schließen. Blätter und Zweige wehten in den Wohnraum, ein wildgewordenes Tier schnaubte oder pfiff, die Frau kämpfte, umklammerte den Schlüssel. Als sich das Tohuwabohu gelegt hatte, sah ich die schmale Person mit einem Lappen um die Hand. Einer ihrer Finger schwoll stark an, und man musste ihr den Ring auffeilen. Dann verlor ich sie aus den Augen. Und wieder fiel ich in einen schlafähnlichen Zustand.
Der Hof vor der Veranda war riesig, ich dürfte kaum gewagt haben, ihn zu überqueren. Sein äußeres Ende stieß an den Himmel. Eines Tages aber fand ich mich jenseits des Hofs wieder, jenseits des Himmels. Wie ich dorthin gelangt war, weiß ich nicht. Männer gruben im Boden, ein riesiges Loch tat sich auf, ein gähnender Abgrund, verängstigt verkroch ich mich zwischen...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.