Schweitzer Fachinformationen
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Samstag, 13. Mai 1995
Der Maihimmel hängt wie blassblaue Seide über dem Albtrauf. Auf den Wiesen und Koppeln rings um die Pferdeklinik glitzert der Tau in der aufgehenden Sonne. Der neue Tag verspricht heiß zu werden.
Die junge Tierärztin Katja war um vier Uhr früh zum Bereitschaftsdienst gerufen worden. Die Notoperation des Ponys verlief problemlos, das Tier lag bereits in einer Box der Intensivstation. Spätestens heute Abend würde es wieder auf den Beinen stehen.
Mit diesem beruhigenden Gedanken will Katja nach Hause fahren, als ihr Handy klingelt. Sie versteht zuerst nicht, worum es geht. Was will die Kriminalpolizei von ihr?
»Ja«, sagt Katja, »Anne Stanbek ist meine Mutter.« Sie presst das Handy ein paar Minuten lang ans Ohr und hört angespannt zu. Dann stammelt sie: »Aber wieso? - Warum ist meine Mutter in Polizeigewahrsam?«
Nachdem sie eine weitere Minute gelauscht hat, ruft sie erschrocken: »Was sagen Sie da? Mordverdacht?!« Gleich darauf wird ihre Stimme ratlos. »Das muss ein Irrtum sein«, sagt sie leise. Und dann keucht sie: »Ich komme.«
Katja läuft im Sturmschritt über den Hof der Tierklinik, vorbei an den Außenboxen und der Reithalle bis zum Parkplatz. Sie verwirft den Gedanken, die drei Kilometer nach Kirchheim zu ihrer Wohnung zu fahren, um eine Reisetasche zu packen. Morgen ist Sonntag, denkt sie, und Montag werde ich schon zurück sein.
Überzeugt, dass sich das Ganze als Irrtum herausstellen wird, steigt sie entschlossen in ihren VW Polo und macht sich auf die weite Reise nach Jena in Thüringen. In die Stadt, in der ihre Mutter in Polizeigewahrsam sitzt.
Bevor Katja die Autobahn erreicht, sieht sie von einer Anhöhe aus am Horizont die Burg Teck. Ein paar Minuten lang denkt Katja nicht mehr an ihre Mutter, sondern an die Landschaft, die sich dort oben hinter dem 400 Meter hohen Bergkamm erstreckt: die Schwäbische Alb.
Katja ist in Stuttgart aufgewachsen und hat ihre Studienjahre in München verbracht. Seit zwei Jahren lebt sie in Kirchheim und sehnt sich nicht nach dem Großstadtleben. Sie hat dieses Städtchen, das eingebettet ins Vorland des Albtraufs aus fernen Höhen von der Burg Teck bewacht wird, ins Herz geschlossen. In ihrer Freizeit lässt sich Katja von der Schwäbischen Alb verzaubern: Erst allein, später mit ihrem Freund Ralf, den sie auf einer ihrer Wanderungen kennengelernt hat, streift sie durch Dörfer und kleine Städte, die verträumt zwischen Äckern, Wiesen und Wäldern hocken; steigt auf Bergkegel zu Burgruinen, die von vergangenen Zeiten erzählen; stapft durch Höhlen, in denen einst Steinzeitmenschen lebten, und bewundert unterirdische Labyrinthe, die unzählige Tropfsteine in Feenpaläste verwandelt haben.
Im Sommer nach langen Wanderungen rasten Katja und Ralf auf Wacholderheiden, sitzen zwischen Silberdisteln, Fingerkraut und Enzian und schauen den Schäfern und ihren grasenden Herden zu.
Katja liebt die Alb auch deswegen, weil in einem der kleinen Dörfer das Geburtshaus ihrer Großmutter Charlotte steht. Charlotte, die diese Heimat sehr jung verlassen musste und später zum Mittelpunkt der Familie Stanbek geworden war.
Katja lässt das Albvorland hinter sich und fährt auf der A8 in Richtung Stuttgart. Obwohl diese Strecke voller Baustellen ist, erreicht sie das Leonberger Dreieck ohne Stau. Schon eine knappe Stunde nach ihrem Aufbruch fädelt sie sich auf die Autobahn nach Heilbronn ein.
Vor dem Weinsberger Kreuz drängen Rebhänge bis an die Leitplanken. Auf dem höchsten Hügel taucht die sagenumwobene Burg Weibertreu auf, die Katja heute kaum wahrnimmt. Auch nachdem sie auf die Autobahn nach Nürnberg gewechselt ist, starrt sie weiter auf die Fahrspur und grübelt: Warum wollte Mam mir nicht sagen, weswegen sie so plötzlich nach Birka fahren musste? Was hatte sie dort noch so Wichtiges zu erledigen? Mit dem Zug von Stuttgart nach Thüringen ist es schließlich kein Katzensprung!
Katja streicht sich eine Haarsträhne aus der Stirn, die wieder nach vorn fällt und an der feuchten Stirn kleben bleibt.
Wenn ich wenigstens Marek erreichen könnte, denkt sie. Aber Marek, der Lebensgefährte ihrer Mutter, ist auf einer Architekten-Tagung in Kanada. Katja weiß nicht einmal genau, wo. War es Toronto oder Ottawa?
»Ich werde das auch allein schaffen«, murmelt sie vor sich hin, »es wird sich alles aufklären, wenn ich erst bei Mam bin.«
Kurz vor Nürnberg macht Katja eine Pause in einer Autobahnraststätte. Sie frühstückt und schickt Ralf eine SMS, um ihm mitzuteilen, warum der für Sonntag geplante Ausflug rund um die Geislinger Steige ausfallen muss. Danach geht ihre Fahrt weiter, vorbei an Bayreuth, über Rudolphstein und Hirschberg. Die abgeholzte Waldschneise, der Todesstreifen, der sich am ehemaligen Grenzübergang zur DDR den Berg hinaufgezogen hat, ist fast zugewachsen. Obwohl nichts mehr an die Abfertigungsbaracken und Autoschleusen erinnert, die hier noch vor sechs Jahren den Osten von der Freiheit getrennt haben, will Katja diese Gegend schnell hinter sich lassen.
Als Kind hat sie diese Reise von West nach Ost, von Stuttgart nach Jena und zurück, jedes Jahr mit ihrer Mutter gemacht. Sie meint noch die barschen Stimmen der Grenzpolizisten zu hören: »Devisen? Druckerzeugnisse? Rauschgift? Haben Sie Waffen? - Ausweis! Führerschein! Kofferraum ausräumen! - Ja, alles!«
Katja erinnert sich an die fahrigen Hände ihrer Mutter, die Koffer und Taschen auspackten. Sie sieht sich als kleines Mädchen im Auto sitzen und auf das Kinn ihrer Mutter schielen, das auch nach dem Grenzübergang angespannt vorgeschoben blieb und zitterte. Die Hände krampften sich am Lenkrad fest, während das Auto über die schadhafte Fahrbahn rumpelte, auf der man nur 60 oder gar 40 Stundenkilometer fahren durfte.
Die gleiche Strecke fährt nun Katja über neue Asphaltbeläge und muss das Tempo nur an den Baustellen, die sich Verkehrsprojekt Deutsche Einheit nennen, verringern. Aber Katja ist nicht minder nervös als ihre Mutter damals während ihrer DDR-Fahrten.
Endlich Hermsdorfer Kreuz und runter von der Autobahn. Kurvige Landstraßen. Berg- und Talfahrt. Die Welt ist grün und gelb: Wiesen und Rapsfelder. Die Waldränder säumen blühende Wildkirschen. Der Frühling läuft auf Hochtouren, obwohl er sich hier später als in Stuttgart einstellt.
Nach fast sechsstündiger Fahrt hat Katja Jena erreicht. Sie steht vor einem klotzigen Backsteingebäude und blickt zu vergitterten Fenstern hinauf. Schweren Herzens wendet sie sich der Pforte zu. Wenig später sitzt sie ihrer Mutter gegenüber.
Katja hat befürchtet, ihre Mutter in Anstaltskleidung zu sehen. Aber Anne Stanbek trägt Jeans und eine weiße Bluse. Ihr kurz geschnittenes, aschblondes Haar wirkt frisch gewaschen, und sie hat wie immer dezentes Make-up aufgelegt. Trotzdem kommt es Katja vor, als sei ihre Mutter älter geworden. Katja bemerkt dunkle Ringe unter ihren Augen und schlaffe Haut am Hals.
»Danke, dass du gekommen bist, Katja. Konntest du denn so einfach aus der Tierklinik weg?«
»Ich hatte heute früh Bereitschaftsdient im OP, dafür habe ich bis Montag frei.«
»Wieder einen Hund gerettet, der unters Auto gekommen ist?«
»Nein, ein Pony mit einer schweren Kolik. Es ging schneller, als ich geglaubt habe. Narkose. Bauch auf. Därme raus. Alles neu sortiert, wieder eingepackt und zugenäht. Der Professor sagt, das Pony wird durchkommen.«
»Dass du so viel Blut sehen kannst!«
»Jetzt lenk nicht ab, Mam.« Katja greift über den Tisch nach der Hand ihrer Mutter und sagt: »Das kann doch nicht wahr sein.«
»Keinen Körperkontakt! Vorschrift«, brummt der Polizist, der an der Wand lehnt und sie beobachtet.
Katja wirft ihm einen giftigen Blick zu und zieht die Hand zurück. Leise sagt sie: »Was ist denn nur los, Mam?«
Anne Stanbek wirkt gelassen, fast zufrieden. Sie lächelt und sagt: »Bruno ist tot! Ich stehe unter Verdacht, ihn umgebracht zu haben.«
Katja braucht einige Zeit, um diese Mitteilung zu verkraften. Sie weiß, dass ihre Mutter Bruno immer gehasst hat. Immer? Oder erst, nachdem er vor sechs Jahren Lisa, Mams jüngere Schwester, geheiratet hat und in die alte, herrschaftliche Villa, den Stammsitz der Stanbeks, eingezogen ist?
Seitdem ist Mam nur noch Oma Charlotte zuliebe in ihr Elternhaus gefahren. Das letzte Mal zu Omas Beerdigung. Mam hatte behauptet, sie könne es mit Bruno nicht unter einem Dach aushalten. Aber vor drei Tagen ist sie dann doch wieder nach Birka gefahren und hat unterm gleichen Dach wie Bruno übernachtet - und jetzt ist er tot!
Katja versucht, sich ihre Bestürzung nicht anmerken zu lassen. Dann fragt sie: »Wann?«
Und Anne antwortet: »Gestern früh um zehn. Ich war...
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